Blicke in eine ungewisse Zukunft

Afghanistan - Reiseeindrücke von Thomas Gebauer

01.04.2002   Lesezeit: 8 min

Das Eigentümliche an den Ruinen Kabuls ist, daß sie nicht alleine von vergangenen, sondern bereits von kommenden Schrecken zu zeugen scheinen. So groß die Verheerungen sind, die der über 20-jährige Krieg in Afghanistan hinterlassen hat, so allgegenwärtig ist der Eindruck, es könne alles noch schlimmer kommen. Eine beklemmende Atmosphäre liegt über der Stadt und spiegelt sich in den unsicheren und mißtrauischen Blicken ihrer Bewohner. In Afghanistan, das wußte schon der letzte britische Gouverneur der Western Frontier Province, werden Kriege erst dann entschieden, wenn sie vorüber sind.

Die Lage in Afghanistan ist explosiv. Die Petersberg-Konferenz konnte die widerstreitenden Interessen der afghanischen Konfliktparteien nur kosmetisch befrieden, nicht aber klären. Unter der Oberfläche schwelen die alten Ressentiments und Machtgelüste. Mit großem Unbehagen betrachten die Menschen, wie die Warlords, die Zigtausende von Bürgerkriegstoten zu verantworten und große Teile Kabuls in eine Trümmerlandschaft verwandelt haben, an die Macht zurückgekehrt sind. Aufgerüstet wurden die Kriegsherren vor allem durch die USA, Rußland und einige der Anrainerstaaten, die nun nichts unversucht lassen, ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen. Mit verdeckten Operationen, Falschgeldlieferungen und politischen Beraterstäben nimmt das Ausland auf das politische Geschehen des Landes Einfluß. Afghanistan ist zu einem Tummelplatz von Geheimdiensten geworden. Von Befreiungseuphorie keine Spur. Daß bei der Terrorbekämpfung der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wurde, schaffte keine Sicherheit. Jederzeit kann das Machtgerangel, das hinter den Kulissen herrscht, in offene Gewalt umschlagen. Die Ermordung des Ministers für Luftfahrt und Tourismus, der einen in diesen Tagen gewiß nicht sehr bedeutsamen Geschäftsbereich leitete, war ein gefährliches Signal. Und für die Machtbesessenheit und den Haß der Kriegsherren gibt es kaum ein zivilgesellschaftliches Korrektiv.

Unter solchen Umständen ist das blockiert, was das bettelarme Land am Hindukusch so dringend benötigte: Frieden und soziale Entwicklung. In Bamiyan, dem Zentrum der Hazara, kann ein vom »Internationalen Komitee vom Roten Kreuz« wieder funktionstüchtig gemachtes Krankenhaus nicht in Betrieb genommen werden, weil sich gleich mehrere Stellen darum streiten, das Personal bestellen zu dürfen: der lokale Kriegsherr, der mit dem Posten eines Gouverneurs befriedet wurde und sich nun gerne als Wohltäter darstellen will, die angesehene Ministerin für Frauenfragen Dr. Sima Samar, die glaubwürdig für die Interessen der Hazara eintritt, und die Ministerin für öffentliche Gesundheit Dr. Suhaila, die sektoral zuständig ist und zur Rom-Gruppe gehört.

Mit einem viel zu kleinen Stab kann die nach Kabul entsandten UN-Sonderkommission nur eines Machen: abwarten. Vernünftig klingende Vorschläge für die Schaffung einer kleinen 30.000 Mann starken nationalen Armee, in die alle 300 Distrikte jeweils 100 Mann entsenden, werden diskutiert, für gut befunden, aber schließlich verworfen, weil die USA eine andere Lösung favorisieren. Nun sollen es die Kämpfer und Kommandostrukturen der Nord-Allianz sein, die das Rückgrat der neue Armee bilden: 200.000 Mann, ein aufgeblähter Wahnsinn, der womöglich bei der Sicherung von Rohstoffinteressen und in den aufkommenden Konflikten mit China eine Rolle spielen könnte, für die Zukunft Afghanistans aber fatalen Konsequenzen haben wird.

Die Afghanen aber beherrschen mehr als nur den Krieg. Im Exil, in den Flüchtlingslagern und im Land selbst gibt es viele ausgebildete Menschen, die für die soziale Rekonstruktion und die wirtschaftliche Wiederbelebung des Landes zur Verfügung stehen. Hochqualifizierte afghanische Ärztinnen, Lehrer und Kaufleute, die in Europa oder Nordamerika Taxi fahren oder Pizza austragen, warten darauf, in ihr Land zurückkehren zu können. Voraussetzung dafür wäre die Demilitarisierung und die Umsetzung von Entwicklungsprogrammen, die alleine auf Dauer Stabilität sichern. Die Sache aber schleppt sich hin. Längst macht die Klage die Runde, alles gehe viel zu langsam. Jeder Tag, an dem die Hoffnungen der Menschen auf spürbare Veränderung enttäuscht werden, spielt in die Hände der Warlords.

Nicht verborgene Kampfeinsätze gegen die versprengten Reste der Taliban sind gefordert, sondern der Schutz der Bevölkerung. Ohne die unverzügliche Entwaffnung der Kriegsherren wird das nicht gehen. Gerade die Deutschen, denen in Afghanistan große Sympathie entgegen gebracht wird, werden immer wieder zu einen stärkeren friedenspolitischen Engagement aufgefordert. Mit einigen hundert Soldaten, die in den Straßen Kabuls patrouillieren und Schutz eher vorspiegeln, als ihn wirklich gewährleisten, ist das nicht zu machen. Für die Wiederherstellung des Friedens aber fehlt eine konsistente Politik, ein ernstzunehmendes Konzept, das nicht von eigennützigen Interessen geleitet wäre, zu denen auch gehört, den fragwürdigen Bundeswehreinsatz in Afghanistan im Nachhinein zu rechtfertigen.

Keine Lösung ohne soziale Entwicklung

Mit großem Aufwand betreibt die Bundesregierung in Kabul ein Winterschulprogramms für Mädchen. Sein Nachteil: schon im April ist es zu Ende, und niemand weiß, wie es weitergehen soll. Für die afghanische NGO, die Tag und Nacht dafür arbeitet, daß 15.000 Mädchen ein wenig Unterricht und Schulspeisung bekommen, fiel bislang kein Pfennig ab. Ihr kleines Büro am Rande der Stadt hat noch immer kein Licht, geschweige denn Strom für einen Computer. Foto: Thomas Gebauer

Argwöhnisch betrachten die Einwohner Kabuls die Invasion der vielen Helfer aus dem Ausland. Die Preise sind explodiert, die Miete für Häuser haben sich verzehnfacht. Ein Zirkus, klagen die NGOs, die schon länger vor Ort sind und ihre Claims verteidigen wollen, während immer neue Hilfswerke nach Kabul vorstoßen. Über 200 sind es bereits, die hoffen, an der Krise und dem eventuell einsetzenden Wiederaufbau partizipieren zu können. Darunter all die egozentrischen Nothelfer, die das Elend der Menschen brauchen, um sich selbst öffentlich darstellen zu können, sowie Organisationen mit bunten Namen wie Peace Winds oder Hope Worldwide, die nun eine Katastrophe für sich entdeckt haben, die doch seit vielen Jahren unverändert Realität ist: die afghanische Katastrophe. Die Sorge ist berechtigt, daß auch die Hilfswerke wie Interventionskräfte über Afghanistan herfallen und die lokalen Fachkräfte zu Handlangern machen. Das Beispiel Kosovo zeigt, wie schnell aus Lehrern, lokalen Gesundheitsexperten oder Menschenrechtsaktivisten Übersetzer, Fahrer und Wachleute der internationalen Hilfsorganisationen werden können. Ob der freiwillige Verhaltenskodex, den NGOs derzeit in Kabul diskutieren, das Abwerben kompetenter Mitarbeiter verhindern kann, ist eher fraglich. Ein landesweites Programm zur sozialen Wiedereingliederung von Kriegsopfern, das über 500 Mitarbeiter beschäftigt und eine hervorragende Arbeit leistet, ist bereits in Gefahr, weil sich sein Träger, das UN-Weltentwicklungsprogramm daraus zurückziehen will, um für die Übernahme größerer Aufgaben vorbereitet zu sein, die noch gar nicht bestimmt sind. Großzügige Wiederaufbauhilfe wurde Afghanistan auf der Internationalen Konferenz in Tokio Angang des Jahres versprochen, doch die afghanischen Minenräumorganisationen, die zu den besten der Welt zählen, wissen nicht, wie sie die Gehälter ihrer Teams bezahlen sollen.

Chancen für Afghanistan

Afghanistan hat nur dann eine Chance, wenn nun rasch und unter maßgeblicher Beteiligung lokaler afghanischer Institutionen und NGOs der Wiederaufbau und die soziale Entwicklung des Landes in gang kommen. Immer wieder verweisen afghanische Gesprächspartner dabei auf die alte Verfassung aus den 60er-Jahren, zu der sie schnell zurückfinden wollen, weil sie als Inbegriff von Modernität gilt. Damals sei alles anders und besser gewesen. Funktionierende Universitäten hätte es gegeben, eine lebendige Kulturszene, Besucher aus aller Welt und in der Stadt Oberleitungsbusse, die von Frauen gefahren wurden. Der verklärte Blick zurück weist direkt in die Zukunft und erklärt auch die große Bedeutung des Königs im römischen Exil. Bleibt die Entwicklung aus oder konzentrieren sich die Bemühungen einzig auf ein UN-gestütztes »Protektorat Kabul«, steht das künftige Chaos schon heute fest. Die UN ist aufgefordert, eine viel aktivere Rolle einzunehmen. Afghanistan darf nicht nur ein Thema von internationalen Konferenzen bleiben und Politikern aller Welt als makabre Kulisse für die Inszenierung eines vermeintlichen »Zupackens« dienen, sondern braucht einen im ganzen Lande spürbaren Wandel, der allein geeignet ist, den Menschen Afghanistans Zuversicht für die Zukunft zu geben.

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medico-Partner in Afghanistan

Minenräumung und Opferrehabilitation – OMAR

Seit vielen Jahren arbeitet medico international im Rahmen der Kampagnen zum Verbot der Landminen mit afghanischen Partnern zusammen. Seit Beginn des jüngsten Krieges in Afghanistan unterstützt medico deshalb die afghanische Nichtregierungsorganisation OMAR (Organisation for Mine Clearance & Afghan Rehabilitation). OMAR hat knapp 500 Mitarbeiter aus allen Regionen des Landes und ist seit vielen Jahren auf dem Gebiet des humanitären Minenräumens tätig. Mit kleinen Teams ist OMAR in vielen Teilen Afghanistans und in den Flüchtlingslager unterwegs, um die Bevölkerung über die Minengefahr und Verhaltensmaßregeln bei einem Minenunfall aufzuklären. Außerdem leistet OMAR in vier Polikliniken Basisgesundheitsdienste für die lokale Bevölkerung.

Nun ist folgende Kooperation mit OMAR geplant.

  1. Überbrückungsfinanzierung. Damit werden ein Teil der Gehälter finanziert, damit die hochqualifizierten Mitarbeiter nicht vom einströmenden Hilfsbusiness abgeworben werden.
  2. Schulhefte für Minenaufklärung. Kinder und Jugendliche sind von Minen besonders bedroht, da sie meist verantwortlich dafür sind, Holz oder Wasser zu holen und dabei unbekanntes Terrain betreten. Außerdem tragen sie zum Lebensunterhalt der Familien bei, indem sie Altmetall und Blindgänger sammeln, häufig mit der Auflage der Käufer, diese erst selbst zu entschärfen. OMAR will deshalb die Minenaufklärung in den Schulunterricht integrieren. Dazu die Hefte.
  3. Aufbau eines Aufklärungs- und Entminungsteams aus Frauen. Frauen sind bei OMAR bislang im Bereich der Minenaufklärung tätig. Nun sollen ihnen auch Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten bei der Minenräumung und in der Verwaltung geschaffen werden.

 

AABRAR – Amputierte Fahrradfahrer in Jalalabad

Die Organisation, die wie OMAR Mitglied der Kampagne gegen Landminen ist, hat in den vergangen Jahren über 2000 körperbehinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene, meistens Minenopfer oder Polio-Kranke, das Fahrradfahren beigebracht. Damit verbunden ist nicht nur ein neues Lebensgefühl dank wiedergewonnener Mobilität. Die Fahrräder bieten auch Einkommensmöglichkeiten als Scherenschleifer, Fahrradkuriere etc.


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