Während der schwedische Soziologe Göran Therborn vor 400 Studierenden der Marifat Highschool über die „Killing Fields of Inequality“ spricht und nach seinem Vortrag wieder eine nicht endende Reihe von Fragen beantwortet, sitzen wir in einem russischen Propellerflugzeug. Unser Ziel ist die Stadt Bamyan, in einem weiten, von schneebedeckten Gebirgen umschlossenen Tal gelegen. Stadt und Tal sind das Zentrum des Hazara-Jat, des wüstenartigen Siedlungsgebiets der diskriminierten Minderheit der Hazara.
Im Afghanistan von heute ist das Tal eine einzigartige Insel: hier hat es seit 2001 keinen Anschlag mehr gegeben. Einen Grund dafür besichtigen wir gleich nach unserer Ankunft: die beiden Höhlen, in denen über Jahrhunderte hinweg zwei riesige Statuen standen – der rote und der graue Buddha. Ihre Sprengung durch die Taliban ging dem 11. September und der Invasion der ISAF-Truppen voraus. Die Taliban haben dafür15 Tage gebraucht, erzählt uns Hadi Marifat vom afghanischen medico-Partner AHRDO. Zuerst haben sie die beiden Statuen mit Panzern beschossen, dann in den zerschrundenen Fels unzählige Löcher gebohrt, die sie schließlich mit Dynamit befüllten. Ihr finales Zerstörungswerk haben die Gotteskrieger dann aus der Ferne gefilmt – und die Bilder des Schreckens in der ganzen Welt verbreitet.
Über ein Gewirr von Treppen steigen wir ganz nach oben und können von dort über das weite Tal hinwegsehen, über die alte Stadt, über zwei neue Hotels und den Amtssitz des Gouverneurs hinweg auf die kahle Gebirgswand, die Bamyan vom Rest Afghanistans trennt. „Ich kann die Wut und die Trauer gar nicht ermessen“, sagt Hadi; „die mich jedes Mal überfällt, wenn ich hier stehe. Die Statuen sollen rekonstruiert werden, Geld dafür ist bewilligt. Der Arbeitsbeginn aber wird immer wieder aufgeschoben, weil wir uns nicht sicher sein können, ob die Taliban nicht zurückkehren.“
Eine ganz eigentümliche Konferenz
Am Nachmittag bringt uns ein verbeultes Toyota-Taxi zur Universität, zwei Betonbauten, die gerade erst zwanzig Jahre alt sind, doch schon wieder baufällig wirken, weil das kümmerliche Budget der Uni gerade eben für den Lehrbetrieb reicht. Auf dem kleinen Campus werden wir von einer Gruppe Studierender und von Prof. Mohammad Rasoul Karimi erwartet, einem Soziologen, der das „Research Committee“ der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät leitet. Die Fakultät bietet 120 Studierenden aus der Umgebung Bamyans Seminare zu Philosophie, Soziologie und Geschichte an.
Wie zwei Tage zuvor in Kabul, werde ich auch hier über die „Dialektik der Moderne“ sprechen: über den bereits seit mehr als zwei Jahrhunderte fortwährenden Prozess, in dem der „Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ (Kant) eben nicht in die Autonomie freier und gleicher Subjekte, sondern in immer neuen Formen der Unterdrückung, der Ausbeutung, der Missachtung und des Aberglaubens geführt hat. Mit diesem Vortrag soll die fünftägige Konferenz zu Ende gehen, die am 18. April in der Universität von Kabul begonnen hat. Eine ganz eigentümliche Konferenz, zu der ein Email-Newsletter eingeladen hat, mit der Bitte, das Programm von Mund zu Mund vertraulich weiterzuleiten.
Bis jetzt haben rund 700 Menschen an den ganz verschiedenen Veranstaltungen teilgenommen: Studierende und ihre Lehrer*innen, Journalist*innen, ehemalige Minister*innen, oppositionelle Abgeordnete des Parlaments, international bekannte und namenlos im Verborgenen arbeitende Menschenrechtsaktivist*innen ganz unterschiedlichen Hintergrunds.
Das Recht auf Fahrradfahren
Als wir den offensichtlich seit Monaten schon nicht mehr gereinigten Vorlesungssaal betreten, sind alle Stühle besetzt, Männer und Frauen, die meisten in ihren zwanziger Lebensjahren. Hinter uns drängen immer mehr Studierende in den Raum. Als wir uns an dem hölzernen Rednerpult umdrehen, blicken wir in einem Saal, in dem niemand mehr Platz finden wird, nicht einmal mehr auf dem Balkon am anderen Ende. Prof. Karimi stellt uns vor, meine Kollegin Eva Bitterlich und mich, Hadi und Hjalmar Joffre-Eichhorn von AHRDO und Sara Hosseini, eine junge Aktivistin aus Bamyan, die den Kontakt zur Uni hergestellt hat. Sara ist international bekannt geworden, weil sie sich ganz auf eigene Faust das Recht erkämpft hat, auch als Frau Fahrrad fahren zu können: heute wissen alle Bamyani, wer da auf einem Rennrad nicht nur durch die Straßen der Stadt, sondern durch das ganz Tal und noch darüber hinaus saust: im letzten Jahr ist sie mit einer Freundin sogar die 180 Km bis nach Kabul gefahren. „Nicht ganz“, sagt sie lachend, „den Abschnitt der Landstraße, der von den Taliban kontrolliert wird, haben wir auf der Pritsche eines Pickup zurückgelegt.“
Den Vortrag halten wir zu zweit: ich, indem ich jeweils drei, vier Sätze auf Englisch sage, und Hadi, der diese Sätze ins Dari übersetzt, die meistgesprochene Sprache Afghanistans, eine Variante des Farsi, des Persischen. Es wiederholt sich jetzt, was wir schon in Kabul erlebt haben: Nachdem wir eineinhalb Stunden gesprochen haben, vor einem Publikum, das Wort für Wort verfolgt hat, schnellen unzählige Arme in die Luft, um Fragen oder Kommentare anzumelden. Die jetzt anschließende Debatte dauert noch einmal zwei Stunden, dann bricht Prof. Karimi ab – unter vernehmlichen Protesten derer, die bisher nicht zu Wort kamen.
„Afghanistan ist ein Brennpunkt der Dialektik der Aufklärung“
Der Professor greift den Widerspruch auf und bittet uns, am nächsten Tag wieder zu kommen, irgendwann zwischen 13 und 18 Uhr, wann immer es uns passen würde. Die innere Widersprüchlichkeit der Moderne sei hier in Bamyan auch deshalb schon bekannt, weil auf dem Lehrplan der Philosoph*innen, der Soziolog*innen und der Historiker*innen gleichermaßen die Geschichte der „Frankfurt School“ stünde. „Afghanistan“, so Karimi, „ist ein Brennpunkt der Dialektik der Aufklärung, und uns hier wäre sehr geholfen, mehr von Kritischer Theorie zu erfahren.“ Wir besprechen uns kurz – dann sagen wir zu, wollen morgen um drei Uhr wieder an der Uni sein – nach einem Ausflug an den Band-e-Amir, den berühmten See, der 75 Kilometer von Bamyan im ersten Nationalpark Afghanistans liegt.
Der Blick über den See inmitten der Gebirgs- und Felswüste reißt uns für einen Augenblick aus den Diskussionen der letzten Tage. Wir sitzen nebeneinander auf einem Felsvorsprung, zwei weitere AHRDO-Kollegen, Salim Rajabi und Baqir Razae, sind mittlerweile zu uns gestoßen. Dann sprechen wir über die Konferenz, die unsere Erwartungen übertroffen hat, und über die weiteren Pläne AHRDOs. „Im nächsten Jahr wollen wir eine ‚Sommerschule‘ machen, hier in Bamyan, mit Teilnehmer*innen aus dem ganzen Land. Wir wollen einerseits breit einladen, um eine Kultur der freien Debatte zu schaffen, und wir wollen unseren engeren Kreis erweitern, Mitstreiter*innen gewinnen, mit denen wir mehr wagen können als mit anderen“, sagt Hadi. Dass das möglich sein wird, haben wir früh am Morgen erfahren können, bei einem Treffen mit fünfzig meist jüngeren Aktivist*innen in den Räumen des Bamyan Cultural Heritage Center. Wir sind dort auf dieselbe Mischung aus Wut und Trauer gestoßen, die Hadi in der leeren Höhle überfiel, in der über 1000 Jahre lang der rote Buddha stand. „Wir kommen nicht weiter, was immer wir tun, und wir müssen trotzdem weitermachen“, sagte uns dort eine Aktivistin und zuckt mit den Schultern, während in den Reihen rund herum mit dem Kopf genickt wird.
Es geht nicht nur darum, die Gewalt einzudämmen
Weil das so ist, weil der Mut und die Phantasie der demokratischen Opposition sich immer wieder an der Gewalt, aber auch am Elend und der Aussichtslosigkeit brechen, die das Land fest im Griff halten, will AHRDO jetzt Theoriedebatten führen, auch über Themen, die auf den ersten Blick vielleicht nicht auf der Hand liegen. Wir brechen auf, besteigen den alten Toyota, in dem wir gerade eben Platz finden. Als wir eine Stunde später den Vorlesungssaal der Universität betreten, ist der Raum wieder bis auf den letzten Stehplatz gefüllt. Diesmal wird es Dr. Karimi sein, der mich übersetzt.
Ich beginne mit der Oktoberrevolution und dem für die Dialektik der Moderne tragischen Missgeschick, das sie damals nicht auf Mittel- und Westeuropa übergriff, sondern nur einen Zwischenschritt in den nächsten Krieg markierte: Ausgangspunkt des im Jahr 1923 in Frankfurt gegründeten „Instituts für Sozialforschung“. Nach Beendigung des Vortrags reihen sich, wie in den Tagen zuvor, Frage an Frage, Kommentar an Kommentar. In der dritten Stunde der Versammlung bitten Dr. Karimi und ich um unsere Entlassung – „wir fangen sonst an, Unsinn zu reden.“
Wenn wir im nächsten Jahr die Sommerschule eröffnen, wird uns der Vorlesungssaal der Universität wieder offen stehen. „Dann jedenfalls“, merkt Hadi mit einem Anflug von Bitterkeit an, „wenn die Taliban nicht nach Bamyan zurückgekehrt sind.“ Soll das verhindert werden, darin waren wir alle uns einig, wird es nicht nur darum gehen können, die Gewalt einzudämmen. Vielmehr muss glaubhaft werden, dass die Versprechen der Moderne – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – trotz allem noch die Chance haben, erfüllt zu werden, in Afghanistan wie anderswo. Einen Vorgeschmack darauf teilen wir, als wir am nächste morgen unter Saras Führung auf Fahrrädern durch die Straßen von Bamyan kurven. An einer Straßenbiegung halten wir an, weil wir von da wir direkt auf die leeren Höhlen sehen können, in denen einst der rote und der graue Buddha standen. „Lasst uns weitermachen“, sagt Sara, wir lachen.