Aleppo

Vollständiges Versagen

15.12.2016   Lesezeit: 5 min

Plädoyer für eine neue internationale Ordnung gegen die Barbarei. Von Thomas Seibert.

Was in Aleppo geschehen ist und weiter geschieht, geschah und geschieht vor aller Augen und Ohren. Es ist nicht möglich, es ist ausnahmslos niemandem möglich, nicht zu wissen. Wer das in Abrede stellt, lügt. Völkerrecht, Kriegsrecht und Menschenrecht wurden und werden strategisch und systematisch außer Kraft gesetzt. Verdichtet hat sich der tausendfache Rechtsbruch in einem wesentlichen Punkt, der unbedingten Verpflichtung, zwischen Kombattant*innen und Zivilist*innen zu unterscheiden. Übergangen, missachtet, gebrochen wurde diese Verpflichtung immer schon, dafür steht der erbärmliche, menschenverachtende Begriff des „Kollateralschadens.“ In Aleppo ging und geht es um etwas ganz anderes, um sehr viel mehr. Dort wurde und wird die Unterscheidung zwischen Kombattant*innen und Zivilist*innen nicht nur „kollateral“, sondern systematisch und strategisch übergangen, missachtet und gebrochen, vor aller Augen und Ohren, ohne jeden Zweifel.

Das schmähliche, schändliche Aufrechnen auf die verschiedenen Kriegsparteien und die erbärmlichen Versuche, daraus Rechtfertigungen abzuleiten, kommen insofern immer schon zu spät. Und: Sie gehen am eigentlich und allein Entscheidenden vorbei. Es geht gar nicht primär um die Täter, von deren Vorgehen wir alles gesehen und gehört haben: sie können uns nichts erzählen und nichts verschweigen, was wir nicht schon wissen. Sie sind vor aller Augen und Ohren auf alle Zeit diejenigen, die sie sind, und sie werden das bleiben: erbarmungslose Massenmörder. Da gibt es nichts reinzuwaschen, für niemanden. Das wird sich in den nächsten Tagen und Wochen bestätigen, wenn die letzten Posten des Widerstands ausgelöscht werden: warum sollten Idlib oder einzelne Vororte von Damaskus verschont werden, wenn man in Aleppo vor aller Augen und Ohren ungehindert tun konnte, was man tun wollte und eins-zu-eins umgesetzt hat, absichts- und planvoll? Warum sollte man etwas später nicht in derselben Weise mit den Kurd*innen umgehen?

Wer in Syrien überlebt, der oder die soll in jeder Faser seines oder ihres Lebens, seiner oder ihrer Existenz wissen, dass man sich gegen das Regime nicht erhebt – was auch immer es getan hat und weiter tut. Das ist es, was die Sieger wollen, was sie den Ruinenlandschaften und den Gräbern eingeschrieben haben, die sie hinterlassen.

Das eigentlich Entscheidende aber ist nicht die untilgbare Schande der Täter, sondern das vollständige Versagen der internationalen Ordnung, die das Völkerrecht, Kriegsrecht und Menschenrecht wenn nicht garantieren, so doch wenigstens schützen soll. Das Generalsekretariat der UN hat vollständig versagt, der Sicherheitsrat und die ihm angehörenden Mächte haben vollständig versagt, ebenso die Organe und Institutionen, die sich die UN zur Erfüllung ihres Auftrags geschaffen hat. Ebenso die Mitgliedsstaaten der UN, die sog. „internationale Gemeinschaft.“ Für die Ausgehungerten, an ihren unversorgten Verwundungen Gestorbenen, für die Zerbombten und die beim Gang der Sieger von Haus zu Haus Niedergemetzelten waren sie zu nichts gut. Ihre Äußerungen und Gesten waren das Papier nicht wert, auf dem sie festgehalten wurden, all‘ die Bekundungen von „Besorgnis“ oder „Entsetzen“ oder gar von „gebrochenem Herzen.“

In der Konsequenz dieses ungeheuerlichen Versagens haben über 60 syrische Hilfsorganisationen ihre Aktivitäten eingestellt. Sie werden die finanziellen Mittel nicht weiter verausgaben, die ihnen die sog. „internationale Gemeinschaft“ übereignet hat, um sich freizukaufen. Sie werden den Verwundeten, Verhungernden, Ausgebombten und Vertriebenen nicht weiter zur Seite stehen. Ich habe eigens nachgefragt: die meisten von ihnen sind relevante und integre Organisationen, die in all' dem Grauen nachweislich eine unverzichtbare, eine in ungezählten Fällen überlebenswichtige Arbeit geleistet haben.

Als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation kann ich die Verzweiflung zumindest erahnen, die einen überwältigt haben muss, wenn man einen solchen Beschluss fasst: wenn man im Einstellen der eigenen Hilfsleistungen die letzte Hilfe sieht, die man den absolut Hilfslosen gewähren kann.

Wir müssen uns fragen, was wir tun können, um daraus mehr als eine verzweifelte symbolische Antwort zu machen. Für heute wissen wir, dass wir das vollständige Versagen der mit dem Schutz des Völkerrechts, des Kriegsrechts und des Menschenrechts beauftragten internationalen Ordnung rückhaltlos als das bezeichnen müssen, was es ist, ohne Abstrich.

Seit Wochen bereits gibt es eine von einer unbestimmten Anzahl von UN-Mitgliedsstaaten und vielen internationalen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen getragene Initiative zur Einberufung einer außerordentlichen Generalversammlung der UN. Sie hätte entscheiden können, ohne auf Vetomächte Rücksicht nehmen zu müssen. Sie hätte unter anderem die Möglichkeit gehabt, UN-Friedenstruppen zu entsenden. Auch diese Initiative ist gescheitert: Aleppo ist gefallen und schutzlos den Mordbanden preisgegeben, die in den Ruinen jetzt für die Fortdauer des Regimes sorgen. Dennoch markiert sie in all dem Scheitern den Punkt, an dem weiterzuarbeiten, an dem weiterzukämpfen wäre.

Bis dahin, und ungeachtet der ebenso mutigen wie verzweifelten Entscheidung der über 60 syrischen Hilfsorganisationen, werden wir unsere Hilfsprojekte fortsetzen.

Nach Lage der Dinge sind sie nicht einmal Inseln der Vernunft, auch wenn an ihnen schlicht das Überleben derer hängt, die sie nutzen können. Zu sagen, dass das so und nicht anders ist, ist das Einzige, was uns darüber hinaus heute zu tun bleibt. Das schließt ein, heute schon die Entschuldigungen und Rechtfertigungen zurückzuweisen, die bald zu hören sein werden, vom Generalsekretariat der UN, von den Mitgliedsmächten des Sicherheitsrats, von den Umsetzungsorganisationen der UN. Auch die Entschuldigungen und Rechtfertigzungen, die eine zu spät zusammengetretene Generalversammlung der UN möglicherweise verabschieden wird.

Das, was geschehen ist und in den nächsten Tagen und Wochen geschieht, wird vor aller Augen und Ohren geschehen sein. Jede, ausnahmslos jede Rechtfertigung kommt zu spät. Das Versagen der Ordnung ist vollständig. Wir werden eine andere Ordnung brauchen, soll die Barbarei nicht auch anderswo ihre Schneisen der Zerstörung und Auslöschung schlagen.

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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