Er galt als eingefroren, als vergessen, als eigentlich anachronistisch. Fast 30 Jahre war dem so. Nun ist der Krieg in die Westsahara zurückgekehrt. Allein, ein Zurück zum Zustand davor soll es laut den Saharauis nicht mehr geben. Sie haben Recht.
Am Freitag, den 13. November 2020, erklärte Brahim Ghali, Präsident der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS), das mit Marokko im Jahr 1991 unterschriebene Waffenstillstandsabkommen für beendet. Marokkanische Soldaten schossen an diesem Tag auf saharauische Zivilist:innen. Die DARS, das ist ein Staat in Miniaturform unter extremsten Bedingungen, den die Saharauis in ihren Flüchtlingslagern auf algerischem Territorium seit 1976 errichtet haben. Hinter dem Staat steht die Polisario, eine sozialistische Befreiungsbewegung, deren Generalsekretär ebenfalls Ghali ist und die für das Recht auf Selbstbestimmung der Saharauis streitet. Dem damaligen Abkommen ging ein 16jähriger Krieg voraus. Nun, 29 Jahre später, bemerkt Nadjat Handi, die Repräsentantin der Polisario in Deutschland, dazu: „Wir sind wieder am Punkt Null angelangt."
Gegenstand des seit 1975 andauernden Konfliktes zwischen Marokko und der Polisario ist die ehemals spanische Kolonie der Westsahara. Nach der UN-Resolution 1514 aus dem Jahr 1960 „Über die Gewährung der Unabhängigkeit kolonialer Länder und Völker", hätte nach dem Abzug der Spanier:innen das Selbstbestimmungsrecht der Saharauis in Kraft treten sollen, um zu entscheiden, was fortan mit dem damals staatenlosen Territorium geschehen soll. Stattdessen ließ die marokkanische Monarchie das westliche Gebiet besetzen, zog einen 2700km langen verminten Sandwall durch die Sahara und brach einen offenen Krieg von der Lanze, der erst 1991 mit besagtem Abkommen beigelegt wurde. Ausschlaggebend dafür, dass die Polisario nach der Vermittlung durch die Vereinten Nationen die Waffen ruhen ließ, war das vertraglich festgelegte Versprechen eines Referendums. Doch mit der damaligen Stabilisierung des Konflikts gab es für den marokkanischen König fortan keinen triftigen Grund mehr, der Zusage nachzukommen. Verschob er diese anfangs immer wieder in eine nahe gelegene Zukunft, verneinte er sie später dann gänzlich. Und mit der Zeit wurden die Saharauis zu wahren Meister:innen des Wartens und Ausharrens.
Die Geschichte über das saharauische Warten ist auch eine über das Scheitern der Vereinten Nationen. Zwar sind diese in Form ihrer Mission MINURSO vor Ort ständig vertreten, doch der Handlungsspielraum ist begrenzt. Dass ihre Präsenz auch faktisch bedeutungslos ist, war in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder ersichtlich. Der Mission obliegt es, das Einhalten des Abkommens zu überwachen. Dazu gehört auch das Überwachen einer kilometerbreiten Pufferzone zu beiden Seiten des Walls, Sperrgebiet für das jeweils gegnerische Militär. Genau solch ein Bruch seitens Marokkos führte nun zur einseitigen Aufkündigung des Waffenstillstandes.
Den Status Quo brechen, um ihn zu erweitern
Werden lediglich die Ereignisse der letzten Wochen betrachtet, käme der Verdacht auf, die Schuld der jetzigen Eskalation läge bei den Saharauis. Saharauische Protestierende besetzten am 21. Oktober 'auf ihrer Seite' eine Handelsstraße, die von El Guergarat auf der von Marokko besetzten Seite des Walls auf die andere Seite bis weiter südlich nach Mauretanien führt. Eine Blockade bedeutet demnach wirtschaftliche Einbußen für Marokko. Rechtlich gesehen dürfte es diese Route hingegen gar nicht geben, trennt sie schließlich besagter Wall. Doch im Jahr 2001 öffnete Marokko darin eine Lücke. Die UN bezeichnete dies damals schon als einen Bruch des Abkommens und forderte die marokkanische Regierung auf, sich zurück zu ziehen. Marokko versprach, dem nachzukommen, tat es aber nicht. Die internationale Gemeinschaft blieb regungslos. Jahre später asphaltierte Marokko die Straße, wieder unter Verletzung des Abkommens. „Damals standen wir kurz vor einer Situation wie der jetzigen“, erinnert sich Nadjat Handi. Erneut intervenierte die UN, diesmal unter Federführung ihres letzten Sondergesandten Horst Köhler. Erneut willigte die Polisario ein und entschied sich für das Warten. Erneut ist nichts passiert. Und weil die marokkanische Regierung keine Repressalien für ihr Handeln fürchten muss, hat sie den Status Quo beständig auf Kosten der Polisario erweitert. Deren Erfahrung belegt: es nützt nichts, Recht zu haben, wenn dieses nicht umgesetzt wird.
Laut dem medico-Partner Western Sahara Ressource Watch – einem internationalen Netzwerk, das den Ressourcenabbau in den besetzten Gebieten kritisch verfolgt – wurde die Handelsstraße just in dem Moment ausgebaut, als Marokko anfing über das Wirtschaftsabkommen mit der Europäischen Union, vermehrt völkerrechtswidrig hergestellte Produkte aus den besetzten Gebieten nach Europa zu exportieren. Vertrieben werden primär Landwirtschafts- und Fischprodukte, zumindest sind das die regulären Waren. Ein Bericht des UN-Sicherheitsrats vom 13. August 2020 zur Situation in Mali verweist hingegen darauf, dass marokkanisches Haschisch per LKW den Weg nach Mauretanien und dann nach Mali findet. Zuweilen wird das Cannabis auch zusammen mit Kokain verfrachtet. Der einzig mögliche Transportweg dafür ist diese jüngst blockierte Straße gewesen.
Zeit des Krieges
Am Morgen des Freitag, des 13. also drangen marokkanische Truppen durch die Wallöffnung in die von der Polisario kontrollierte Pufferzone vor und schossen auf die protestierenden Zivilist:innen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich saharauische Truppen bereits vor Ort. Die Polisario hatte schon Tage zuvor auf die mögliche Eskalation hingewiesen. Das Feuer wurde erwidert. Stunden später erklärte Generalsekretär und Präsident Brahim Ghali den Waffenstillstand für beendet. Abdulah Arabi, der Polisario-Vertreter in Spanien, drückt in klaren Worten das Offensichtliche aus: „Wir befinden uns in einem Zustand des totalen Krieges. Wir warten schon viel zu lange.“ Was nun passieren muss? „Es braucht konkrete Vorschläge, die die juristisch-politische Dimension des Konfliktes zur Grundlage haben. Marokko ist eine Besatzungsmacht und wir ein Volk ohne Territorium, das um seine Selbstbestimmung kämpft.“
Dass der marokkanische Staat den Krieg noch nicht als solchen benennt, mag strategisch-ideologische Gründe haben. Nicht nur würde mit solch einem Schritt auch eine Anerkennung des Gegenübers als gleichwertige Kriegspartei vollzogen – erst am 19. November sprach der marokkanische Regierungssprecher Saaid Amzazi von der Polisario noch als einer „separatistischen Miliz“ –, sondern auch die Ursachen des Konfliktes würden dadurch neu thematisiert werden. Ein Umstand, den die Monarchie anscheinend um jeden Preis unterbinden möchte, wie auch die Repression im Inneren des Landes dazu immer wieder zeigt.
Noch beklagt keine der beiden Seiten Tote. Dass dem so ist, hängt mit der gegenwärtigen Kriegssituation zusammen. Beide Armeen trennt der Wall. Während sich die marokkanische Armee unbeweglich an den unzähligen Posten aufhält, die alle paar Kilometer entlang des Walls angeordnet sind, befinden sich die saharauischen Kontingente in ständiger Bewegung. Seit Ende des Waffenstillstandes haben diese mehrere militärische Attacken entlang der Mauer durchgeführt. „Die marokkanische Armee ist dazu verdammt, zu reagieren. Wir bestimmen Moment und Ort der Attacken“, heißt es von einer bei der UN angesiedelten Stimme der Polisario. Die Situation werde sich verschieben, sobald die Polisario die ersten marokkanischen Posten einnimmt. „Sofern es kein politisches Einlenken gibt, werden unsere Truppen in das Gebiet hinter der Mauer vordringen. Es wird Verluste und Gefangene geben“, führt die Person weiter aus.
Eine Zeit des Krieges ist auch eine Zeit taktisch gelenkter Informationspolitik. So ist von der Polisario unisono zu vernehmen, dass eine Rückkehr zum Zustand davor keine Option mehr darstelle. Zu lange wurde gewartet. Vergeblich. Es ist eine paradoxe Situation, wie es Handi ausführt: „Erst muss geschossen werden, damit die Welt uns wahrnimmt. So lange wir friedlich bleiben, sind wir vergessen.“ Und noch ein Element in der Außenkommunikation fällt auf. Das Narrativ geht wie folgt: Normalerweise fliehen die Menschen, sobald ein Krieg ausbricht. In diesem Fall sei es genau umgekehrt. Die saharauische Jugend in der Diaspora mache sich massenhaft auf den Weg zurück. Um sich einzureihen. Um zu kämpfen. Um nicht auch noch das eigene Leben lang ausharren zu müssen. Daraufhin gefragt, antwortet Hamdi Toubali von der UJSARIO, der Polisario-Jugendorganisation, die wiederum selbst im Entscheidungsgremiums der Befreiungsfront vertreten ist: „Unsere Armee konnte nicht alle aufnehmen, so viele sind es, die kommen. Die militärischen Ausbildungszentren sind ausgelastet. Die, die nicht genommen werden, unterstützen die staatlichen Institutionen. Denn neben dem Krieg gehen die Verwaltung und Versorgung der Lager weiter.“
Kolonialkonflikt oder europäische Grenzpolitik?
Wird gemeinhin von der Westsahara gesprochen, so ist die Rede von der „letzten Kolonie Afrikas" nicht weit. Es sei das verbleibende Gebiet, in dem der Dekolonialisierungsprozess noch ausstehe. Aus Sicht der Saharauis ist dies zweifelsfrei zutreffend. Um das Ziel der Dekolonialisierung muss gekämpft werden – es ist nicht nur moralisch, es ist auch rechtlich richtig. Indes vermag der Kolonialverweis nicht die duldende Haltung Europas gegenüber Marokko in diesem Konflikt zu erklären. Entscheidend dafür dürfte sein, welche Funktion Marokko für die Europäische Union hat. Hier scheint ein anderer Aspekt entscheidend: die europäische Grenzpolitik. Im März 2019 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Bericht über die Umsetzung der Europäischen Migrationsagenda und teilte darin bezüglich der Zusammenarbeit mit Marokko mit: „Derzeit laufen Programme mit einer Mittelausstattung von insgesamt 232 Mio. Euro.“ Im Gegenzug wurden im Jahr 2018 88.761 Menschen am Verlassen des Landes gehindert. Gleichzeitig soll ein neues länderübergreifendes Programm zur „Migrationssteuerung“ implementiert werden, das auch die Länder südlich von Marokko mit einschließt. Neben der bilateralen Kooperation auf Ebene des neuen europäischen Migrationsregimes, ist auch die schiere Existenz des 2700km langen verminten Wüstenwalls ein effektiver Mechanismus zur Abwehr migrierender und fliehender Menschen. Gäbe es ein vereintes Westsahara, gäbe es keinen Wall mehr und Europa müsste sich etwas Neues für seine Abschottung einfallen lassen.
Aus dieser Perspektive betrachtet stehen auch die jüngsten kriegerischen Auseinandersetzungen in einem anderen Licht: Die marokkanische Kolonialpolitik gegenüber der Westsahara erfährt Rückenwind aus Europa im Zuge seiner erweiterten Grenzpolitik und der Krieg der Saharauis richtet sich implizit auch gegen die Externalisierung der europäischen Abschottung. Dagegen hat die Europäische Union ein Interesse am entrechteten, endlosen Wartezustand der Saharauis.