Es ist verwunderlich, dass die Saharauis in den Lagern einen nicht wutentbrannt anschreien mit den Tatsachen über ihr ungerechtes Leiden und die sie verschlingende Monotonie. Wer seit über 40 Jahren zum Warten verdammt ist, hat alles Recht dazu. Dennoch ist die Stimme von Buhubeini Yahia, Präsident des Saharauischen Roten Halbmonds, ausgeglichen: „Die internationalen Geber fokussieren sich mehr auf Zonen, wo es Terrorismus und bewaffnete Konflikte gibt. Ein ruhiger Ort wie der unsere kümmert sie nicht.“ Dennoch liegt Ruhe in den Worten der jungen Journalistin Gabal Rachid: „Das ist die Hölle. Ich möchte lieber im Krieg sterben als hier mein ganzes Leben leben.“
Dieser ruhige Ort der Hölle sind die Flüchtlingslager von mindestens 173.600 Saharauis und ihrer antikolonialen Befreiungsfront Polisario. Aus der Westsahara bis auf algerisches Staatsgebiet vertrieben, harren sie dort seit 1976 aus. Es nährt und eint sie der Glaube an eine vereinte Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS). Deren Gebiet sind seit den 1980er Jahren durch einen 2.720km langen und von sieben Millionen Landminen gesicherten Wüstenwall zweigeteilt, die westliche ressourcen- reiche Hälfte wird vom nördlichen Nachbarn Marokko kontrolliert. Die Saharauris nährt und eint die Hoffnung auf ein Referendum über die Zukunft ihres Landes, jenes uneingelöste Versprechen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1991, das entscheidend dafür war, dass die Polisario im Krieg mit Marokko die Sprache der Waffen in die der Diplomatie eintauschte. Und während der konkrete Zeitpunkt der Abstimmung von Marokko in den ersten zehn Jahren immer wieder verschoben wurde und sich der König in den 2000er Jahren gänzlich davon verabschiedete, warten die Saharauis noch immer.
Es ist ein Warten auf das, was nicht mehr kommt. Durchdrungen von einer Monotonie, in der sich das Gestern nicht mehr von dem Morgen unterscheidet, ähnelt es dem Absurden Theater von Samuel Beckett und seinen zwei bekanntesten Figuren: Estragon: Komm, wir gehen! / Wladimir: Wir können nicht. / Estragon: Warum nicht? / Wladimir: Wir warten auf Godot. / Estragon: Ach ja. Godot wird nicht kommen. Dennoch warten sie und ihr Warten ist die Abfolge des Immergleichen. Ihr Warten ist das Warten der Saharauis.
Abhängig von der äußeren Gunst
Hamada wird diese Gegend der Sahara genannt, in der sich die Lager, die wilāyas, befinden. Gleich den politischen, spenden auch die geographischen Gegebenheiten wenig Trost. Hamada, das ist die Wüste der Wüsten. Eine tote Unendlichkeit aus Sand und Steinen, in deren Mitte die Wüstendörfer aus Lehmhäusern und den traditionellen Haima-Zelten auf gebaut wurden. Ausgeweidete Autos prägen die Szenerie. Der Wind treibt den Sand in die Augen. Plastikmüll flattert umher. Die Luft ist ein Fön. Wer sich einmal die Frage gestellt hat, was mit den Containern geschieht, in denen die internationale Hilfe verschifft wird, findet hier eine Antwort. Aufgestapelt zieren sie an vielen Ecken der Lager das Bild, aneinandergereiht auf mehrere Hundert Meter oder als Umzäunung eines Raums, dessen Inneres sich dem Betrachter verschließt. Würde man eine kulturindustrielle Entsprechung für diesen Teil der Welt suchen, Mad Max läge nicht weit entfernt davon.
Der algerische Staat hat der Polisario eine de-facto-Autonomie über dieses Gebiet übertragen. Zusätzlich kontrollieren sie die befreiten Gebiete der Westsahara, die die eine Hälfte der DARS ausmachen. In den Lagern selbst haben sie eine komprimierte Version ihres Staates mitsamt Gesellschaftsmodell aufgebaut. Aus dem Exil heraus regieren sie über die befreiten Gebiete. Doch ein selbstbestimmtes Leben ist das nicht. Vielmehr herrscht eine totale Abhängigkeit gegenüber internationalen Gebern vor. Bis zu 96 Prozent der Bevölkerung bedarf Unterstützung bei der Ernährung, teilt Armand Ndimurukundo mit. Stolz verkündet der Zuständige des Welternährungsprogramms der UN in den Lagern, dass sie nach 30 Jahren nun endlich die Essenspakete umgestalten werden. Dann ergänzt er plötzlich bewundernd: „Ich habe noch nie so eine Resilienz bei Menschen gesehen wie bei den Saharauis.“ Es ist eine Aussage, die stutzig macht. Sicher, die Menschen trotzen den Verhältnissen, in die sie hineinkatapultiert worden sind. Bei Ndimurukundo klingt es, als sei dies als Erfolg zu verbuchen, fast schon eine durch internationale Hilfe erreichte Einstellung.
Sucht man das Gespräch mit den Lagerbewohner*innen hört man dies: Es gibt keine Arbeit, es gibt keine Zukunft, es gibt keine Hoffnung. Die erfahrene Politikerin Mariam Salek Hmada weiß um die Risiken, die mit der Perspektivlosigkeit einhergehen. Zuvor Kultur- und Bildungsministerin, ist sie seit vier Jahren Bürgermeisterin der wilāya Auserd. „Arbeitslosigkeit ist ein großes Problem in einer Region mit viel Extremismus und organisiertem Verbrechen. Noch gefährlicher ist die mangelnde Motivation der Jungen sich zu bilden. Wofür auch?“ Zeitgleich nimmt die internationale Hilfe ab – und reicht ohnehin nicht aus. Mit den aktuell noch 77 Millionen US-Dollar, so Yahia vom Saharauischen Halbmond, können kaum mehr als die Hälfte der Bedürfnisse gedeckt werden.
Der Rückgang hat nicht nur mit der Statik der Situation zu tun. In den Augen von Khatri Addouh, der bis zum 9. März 2020 Parlamentspräsident war, ist er auch ein Mittel, um politische Entscheidungen zu forcieren: „Wenn die Unterstützung weniger wird, wird das Leben schwieriger und die Menschen sind gezwungen, individuelle Lösungen zu suchen. Entweder migrieren sie oder sie gehen in die befreiten Gebiete. Es ist ein Versuch, uns zu destabilisieren.“ Trotz der Brisanz der Lage ist sein Tonfall besonnen und alles andere als alarmiert. So schiebt er hinterher: „Es wird vergessen, dass wir hier kein schönes Leben suchen, sondern kämpfen. Wir sind noch immer eine Befreiungsbewegung!“
Perspektiven eines überflüssigen Lebens
Hier und da gibt es kleine Läden in den Lagern, eine Metzgerei, eine Pizzeria mit Lieferservice, Handyshops. Einige Männer fahren Taxi, die Ziegen- und Kamelwirtschaft bietet zusätzlichen Ertrag. Andere wiederum gehen nach Spanien, arbeiten dort temporär und schicken Geld an ihre Familien. Einen ausgefeilten Wirt schaftsplan hat die saharauische Regierung nicht. Diesen soll es erst geben, wenn die eigene Souveränität erreicht sei, ist vom Parlamentspräsidenten zu hören. So wird eine Überlebensökonomie exerziert, die gänzlich auf die individuelle Ebene zurückfällt. Allein, innovative Formen der Permakultur, der Fischzucht und neuartige Bewässerungsmethoden, die das Ernten von Mangold und Tomaten ermöglichen, zeigen auf, dass neben internationaler Hilfe aus der Not heraus selbst in der Hamada Keimformen einer Überlebensperspektive entstehen können. Es sind Formen der Notwendigkeit und Politiken des Pragmatismus, die einen Sinnhorizont aufzeigen. Ernüchtert von den folgenlosen Vorschlägen und der Wirklosigkeit der UN fokussiert sich die saharauische Regierung darauf, über die Afrikanische Union diplomatische Fortschritte zu erzielen. Ob dieser Weg mittelfristig zu Verbesserungen in den Wüstendörfern führen wird, ist ungewiss. Das Warten – und damit auch das Leiden – wird weiter gehen.
Seit zwanzig Jahren schon beinhaltet die Berichterstattung über die Polisario immer auch ihr rhetorisches Waffenklirren angesichts der Ausweglosigkeit der Situation. Auch das gehört zur Monotonie dieser Erzählung. Dieses Mal ist es kaum anders. Von jüngeren Saharauis ist zu vernehmen, dass der Krieg eine reelle Option sei, wie es Hamdi Toubali im leeren Auditorium der Jugendorganisation UJSARIO vorträgt: „Wenn wir den Krieg wieder aufnehmen, entsteht dadurch vielleicht Aufmerksamkeit für unsere Situation.“ Wer so denkt und redet, weiß um den Wert seines Lebens in der Welt. Es ist ein überflüssiges Leben, da an ihm nichts ökonomisches und folglich nichts wertvolles haftet. Ob tot oder lebendig, es ist gleich, wie es der postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe formuliert: „Niemand empfindet gegenüber dieser Art von Leben oder dieser Art von Tod irgendein Gefühl der Verantwortung oder der Gerechtigkeit.“ In diesem Sinne wird Gewalt nicht als Mittel zum Triumph, sondern als Mittel der Kommunikation gesehen.
Ein anderes Warten ermöglichen?
Aus Regierungskreisen ist zu hören, dass mit allen Mitteln ein Rückfall in den Krieg verhindert werden soll. Es ist die offizielle Linie der Polisario. Es ist die Linie der älteren Generation, derjenigen, die den Krieg mit Marokko mitgemacht haben. Es ist aber auch die Linie derer, die nicht mehr ihr ganzes Leben vor sich haben. Die nächste oder übernächste Führungsriege der Polisario wird die erste sein, die ihr saharauisches Dasein allein aus dem Lagerleben kennt; die über einen höheren Bildungsweg mit algerischen, spanischen oder kubanischen Abschlüssen verfügt und sich mehrsprachig verständigen kann; die die Welt außerhalb der Wüste kennengelernt hat; und die wieder in den perspektivlosen Fatalismus der Lager zurückgeworfen wird.
Samuel Beckett schließt sein Stück mit folgenden Sätzen: Wladimir: Morgen hängen wir uns auf. Es sei denn, daß Godot käme. / Estragon: Und wenn er kommt? / Wladimir: Sind wir gerettet. Doch Godot wird nicht kommen, ebensowenig wie der morgige Tag das Immergleiche unterbrechen wird.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!