Das Sterben an den europäischen Außengrenzen nimmt kein Ende. Zu viele der Geschichten von Menschen, die versuchen nach Europa zu migrieren, bleiben unerzählt und ungesehen in der öffentlichen Wahrnehmung. Zu viele Rechtsbrüche bleiben ohne Konsequenzen. Die Politik der Verantwortungslosigkeit, die die EU an ihren Außengrenzen verfolgt, funktioniert auch und vor allem über eine Politik der Unsichtbarmachung von Menschenrechtsverletzungen.
Die Realität des Todes und der Gewalt wird räumlich und visuell auf Distanz gehalten. Dabei gerät aus dem Blick, dass sich die tödlichen Grenzen Europas immer wieder und immer weiter verschieben und an immer neuen Orten, weit außerhalb Europas, materialisieren. Unter dem zynischen Schlagwort der Fluchtursachenbekämpfung werden Grenzkontrollen externalisiert, zum Beispiel auf das Terrain der Sahara. Die Durchquerung dieser Wüste wird damit umso gefährlicher und die Möglichkeiten, die politischen Verantwortlichen für das Sterben zur Rechenschaft zu ziehen, immer kleiner. medico-Partner:innen berichten zum Beispiel von einer zunehmenden Militarisierung der Routen um den Knotenpunkt Agadez im Niger durch die Präsenz europäischer Militärkräfte. Die migrierenden Menschen werden dadurch gezwungen, gefährlichere Routen und Fortbewegungsarten zu wählen. Aber aufhalten lassen sie sich nicht.
Mit neuesten Technologien und internationalen Partner:innen gegen Verantwortungslosigkeit und Gewalt
Ein neues, von medico unterstütztes Projekt der Agentur Forensic Architecture, eine interdisziplinäre Forscher:innengruppe aus London, will nun gegen die Unsichtbarkeit der externalisierten Gewalt in der Sahara ankämpfen. Das Projekt „Border Forensics“ will mit Hilfe von innovativen Methoden die visuelle und räumliche Analyse von Verletzungen der Rechte von Migrant:innen ermöglichen. Dabei wird auf die Erfahrungen aus dem Vorgängerprojekt Forensic Oceanography zurückgegriffen. Das Projekt leistete Pionierarbeit beim Einsatz modernster Technologien und Methoden – wie z. B. Satellitenbilder, Driftmodellierung, Schiffsverfolgung – um gewaltsame Ereignisse auf dem Mittelmeer zu dokumentieren und vor Gericht zu bringen. Damit schlug Forensic Oceanography eine Bresche gegen die Straflosigkeit, die den Tod von Migrant:innen auf See und die Verletzung ihrer Rechte bagatellisiert. Das Projekt hat auch die Plattform WatchTheMed und das dazugehörige Alarm Phone, mit denen medico ebenso kooperiert, bei der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen auf dem Mittelmeer unterstützt.
Mit dem neuen Projekt zu Fluchtrouten in der Sahara sollen auch hier die Verantwortungslosigkeit und die Gewalt sichtbar gemacht werden, die das europäische Grenzregime auszeichnen. Zivilgesellschaftliche Akteur:innen in der Region werden in die Recherche zu den Border Forensics eingebunden und können die Ergebnisse der Untersuchungen auch für ihre politische Arbeit nutzen. Dazu gehören zum Beispiel die medico-Partner:innen ROA-PRODMAC, ein transnationales Netzwerk zur Verteidigung der Freizügigkeit in Westafrika, und Alternative Escpaces Citoyen, ein Journalist:innennetzwerk in Niger.
Von der öffentlichen Sichtbarkeit zur politischen Verantwortung
In der Aufbereitung der Ergebnisse vereint Border Forensics technologische Aspekte mit der Perspektive der Migrant:innen, die von ihren Erfahrungen berichten – immer mit dem Ziel, die politisch Verantwortlichen in die Pflicht zu nehmen. Für jede Untersuchung wird eine Gesamtanalyse und Kartierung der Grenzzone und der Praktiken verschiedener staatlicher und nichtstaatlicher Akteur:innen erstellt und die eingesetzten Überwachungsmittel werden analysiert. Hinzu kommt die Auswertung der Zeug:innenaussagen von Migrant:innen und von Akteur:innen, die mit ihnen interagieren; Audio-, Video-und Fotodokumentationen; die Rekonstruktion der Routen und der beteiligten Fahrzeuge, unter Umständen mithilfe von Satellitenbildern. So soll ein räumliches und zeitliches Gesamtbild der Ereignisse entstehen.
Raul Rosenfelder
Mit dem Fokus auf die vergessenen und weit entfernten Landschaften des Todes soll Border Forensics dem unsichtbaren Sterben an Europas Grenzen entgegenwirken.