Südafrika

Die Lektion des 16. Juni

19.08.2020   Lesezeit: 5 min

Vor 44 Jahren, am 16. Juni 1976, begann in Soweto der Aufstand von Schüler*innen gegen das Apartheidregime. Die medico-Partnerin Dr. Lydia Cairncross zieht eine Linie zu den heutigen Auseinandersetzungen um COVID-19.

Der 16. Juni im Jahr des Feuers, im Jahr der Asche.

Seit dem Aufstand des 16. Juni in Soweto sind 44 Jahre vergangen. Ich habe mich mit meiner kleinen Tochter zusammengesetzt, um ihr diese Geschichte zu erklären. Wie junge Menschen, Schulkinder, sich gegen die Bantu-Erziehung, gegen den Gebrauch der Sprache als Unterdrückungsmittel, gegen das Apartheidsystem erhoben und wie in den folgenden Wochen die Arbeiter, ihre Eltern, inspiriert und aufgebracht von den Opfern dieser jungen Menschen zu Millionen gestreikt haben. Und wie der 16. Juni wirklich der Beginn des Wandels war, der die Geschehnisse im Jahr 1994 möglich machte. Die Erkenntnis, dass der Kampf nicht mit Petitionen oder vernünftigen Diskussionen gewonnen werden konnte, um die Machthaber zu überzeugen. Es half nicht, ihnen sorgfältig zu erklären, warum die Dinge ungerecht waren und sich ändern mussten. Es war der Beginn dieser Erkenntnis, dass das System – grausam, mächtig und ungerecht – nur durch eine Verschiebung dieser Macht verändert werden konnte. Machtverschiebung durch Mobilisierung, durch Organisation, durch Kampf und durch Aufopferung. Und dann wusste ich plötzlich nicht mehr, was ich als Nächstes sagen sollte und wie ich diese Geschichte vollenden sollte – denn es gab kein Happy End, das ich erzählen konnte. Weil ich erklären musste, dass sich zwar oberflächlich betrachtet die Dinge geändert haben, wir aber weiterhin in einem grausamen und ungerechten System leben. Dass wir zu unserer Schande, während COVID-19 in unseren Gemeinden wütet, die Grundlagen eines kapitalistischen Systems nicht verändert haben, das den Profit über die Menschen stellt.

COVID-19 ist eine Krise in der Krise – nicht nur eine Krise in der Gesundheitskrise, sondern eine soziale, wirtschaftliche und politische Krise. Jede Bruchlinie ist exponiert: die zwischen denjenigen, die Ernährungssicherheit haben und denen, die sie nicht haben; zwischen denen mit Arbeit und denjenigen ohne Arbeit; denen mit Wasser und sanitären Einrichtungen und denen ohne; denen, die das Auto benutzen und jenen, die in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln; denen in gut ausgestatteten Schulen mit kleinen Klassen und denen in überfüllten provisorischen Klassenzimmern; zwischen denen, die sich mit eigenen Schlaf- und Badezimmern selbst isolieren können und denjenigen, die sich einen Wasserhahn mit 20 Familien teilen; denen, die Zugang zur Gesundheitsversorgung haben und denen, die in den langen Schlangen vor Kliniken auf dem Land und in den Städten in Townships leiden, wo sie auf unterdurchschnittliche Versorgung warten.

Wir müssen die Reaktion auf die COVID-19-Epidemie in diesem Zusammenhang sehen, denn die Reaktion kann nicht isoliert von der politischen Position und der Klassenlage des Staates und der Situation der sozialen Verwüstung in unserem Land gesehen werden. In den letzten zehn Wochen haben wir die Maßnahmen gesehen, die die Ausbreitung des Virus eindämmen sollten, von einem harten und brutalen Lockdown bis hin zu einer unkoordinierten Öffnung der Minen, Schulen und Kirchen – und wir wurden Zeug*innen des anhaltenden Versagens des Systems, sich um die Menschen in diesem Land zu kümmern.

Im Gegensatz dazu hätte eine auf die Menschen ausgerichtete, humanitäre und fürsorgliche Reaktion auf diese Epidemie anders ausgesehen. Der notwendige Lockdown hätte durch kommunale Gesundheitshelfer*innen, Sozialarbeiter*innen und Gemeindepsycholog*innen vollzogen werden können, bewaffnet mit Nahrung, Wasser und kostenlosem Desinfektionsmittel und Masken – und nicht durch Armee und Polizei, die nur mit Waffen und Brutalität bewaffnet sind.

Die COVID-19-Teststrategie hätte mit der Verstaatlichung von privaten Laboren begonnen, einem Testprotokoll und freiem Zugang zu Tests für alle, die einen Test benötigen. Gemeinschaftliche COVID-Pflegezentren wären für diejenigen eingerichtet worden, die Schutz brauchen oder die sich isolieren müssen, um ihre Lieben zu schützen. Die Energie und die Solidarität der Jugend wäre genutzt worden, um sich um Ältere und schutzbedürftige Menschen zu kümmern. Diejenigen, die medizinische Versorgung unter allen Bedingungen benötigen, wären unterstützt worden, um während des Lockdowns zu den Kliniken und Krankenhäusern zu kommen.  Und wenn wir aus dem Lockdown gekommen wären, hätten wir massenweise öffentliche Bildungs- und Aufklärungsprogramme starten können – zur Vermittlung des Wissens darüber, wie wir anfangen können, uns sicher fortzubewegen, solange sich das Virus in unserer Mitte befindet. Wir hätten die Einrichtung von COVID-Community Action Teams unterstützt, die die COVID-Gesundheitsmaßnahmen in jeder Gemeinde vermittelt hätten – durch das Erfassen der besonderen gesundheitlichen und sozialen Ressourcen und Risiken in jeder einzelnen  Gemeinde, durch das Erfassen der materiellen Bedürfnisse in jeder Straße. Und die Regierung hätte sich rasch um die Bereitstellung der Infrastruktur und Ressourcen kümmern können, um Lücken zu füllen und um die Menschen in die Lage zu versetzen, sich tatsächlich die Hände waschen, physische Distanz einhalten, sich maskieren und um ihre Familien kümmern zu können.

Die Strategie rund um COVID ist also keine intellektuelle Debatte über die beste epidemiologische Strategie. Jede Bekämpfungsstrategie von COVID mit der gegenwärtigen politischen Klasse an der Macht ist korrumpiert durch die grausame Logik eines Systems, das darauf besteht, den Status quo zu erhalten, die Wirtschaft zu verteidigen und den Profit über das Leben zu stellen. Wir müssen dieses System und die Machthaber*innen ändern, um die Reaktion auf die Krise grundlegend verändern zu können. Und während wir für diesen Systemwandel kämpfen, stellen wir unsere Übergangsforderungen: für eine auf den Menschen ausgerichtete COVID-Reaktion, für die Verstaatlichung und Vergesellschaftung privater Gesundheitsressourcen, für ein einziges, gemeinschaftszentriertes Gesundheitssystem, für eine angemessene Versorgung und Würde für alle, für eine Grundeinkommen für alle, für eine Vermögenssteuer zur Finanzierung der Reaktion auf die Krise – um nur einige zu nennen.

Die Lektion des 16. Juni lautet schließlich, dass diese Forderungen nicht erfüllt werden, wenn wir versuchen, die Machthaber von der ethischen und moralischen Richtigkeit unserer Position überzeugen. Sie werden nur aufgrund der vereinten Energie, Kraft und des Mutes unserer gemeinsamen Aktion erreicht werden – unseres gemeinsamen Kampfes dafür, die Macht zu verlagern – mit der Logik dieser ungerechten Gesellschaft zu brechen und eine neue Gesellschaft aufzubauen. Unsere Jugend hat eine stolze Geschichte dieser revolutionären Energie, wir ehren das heute, und wir stehen in Solidarität und Stärke zu dieser neuen Generation, die den Staffelstab übernimmt.

A Luta Continua, der Kampf geht weiter!

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Dr. Lydia Cairncross

Die südafrikanische medico-Partnerin Lydia Cairncross ist Dozentin für Chirurgie an der Universität Kapstadt und aktiv im People's Health Movement.


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