Mittelmeer

Eine Irrfahrt mehr

11.06.2018   Lesezeit: 3 min

Die Aquarius auf der Suche nach Schutz für über 600 Flüchtlinge erinnert an die St. Louis. Von Katja Maurer

Wer auf tagesschau.de die hunderten von Kommentare unter dem Bericht über die Irrfahrt der Aquarius der Organisation SOS Mediterranée im Mittelmeer liest, die gerade zwischen Malta und Italien hin und her pendelt, um über 600 Geflüchtete in einen sicheren Hafen zu bringen, vernimmt die Stimmen der Menschenfeindlichkeit. Man muss es sich zwischendurch antun, um wirklich zu verstehen, in welcher Tonlage der Hass sich zu Wort meldet. Es dauert, bis man zwischen all den widerlichen Kommentaren, die nur ein „Zurück nach Libyen“ fordern, wenige Stimmen der Vernunft findet. Diese Foren sind Foren der Unmenschlichkeit. Dies lesend frage ich mich, was wohl 1939 unter einem Bericht einer us-amerikanischen Zeitung über die Irrfahrt der St. Louis gestanden hätte, hätte es damals schon das Internet mit seiner Anonymität gegeben? Heute wie damals: Es gab und gibt keinen Schutz für Flüchtlinge, aber Schutz für die anonymen Menschenfeinde_innen.

Die Irrfahrt der St. Louis ist eines der traurigsten Kapitel der Nazi-Zeit, weil 937 fast ausnahmslos deutsche Jüdinnen und Juden schon gerettet schienen, als sie sich im Mai 1939 mit der St. Louis von Hamburg nach Kuba auf den Weg machten. Fast alle Passagiere hatten gültige Papiere der US-Einwanderungsbehörde oder Touristenvisa nach Kuba. Schon in Kuba ließ man sie am 2. Juni 1939, also vor ziemlich exakt 79 Jahren, nicht von Bord gehen. Ein halbes Jahr nach der Reichspogromnacht sahen die Menschen schon das rettende Ufer von Kuba. (Ich stelle mir die Flüchtlinge auf der SOS Mediterranée vor, wie sie Lybien und seinen Sklavenmarkt im Rücken schon die Küste Italiens sehen) Aber nur 29 durften nach langen Verhandlungen von Bord gehen. Dann musste das Schiff die kubanischen Gewässer verlassen. Jüdische Organisationen baten US-Präsident Roosevelt persönlich um Hilfe. (Das sollten wir noch mal bei Frau Merkel versuchen!) Anfangs war er zu einer humanitären Geste bereit, dann gab er dem parteiinternen Druck nach und verweigerte den 918 Verbliebenen die Einreise. Das Schiff musste nach Europa zurückkehren. Passagiere versuchten sogar das Kommando zu übernehmen, um ihrer Rückkehr in den fast sicheren Tod zu verhindern. Sie wurden in Antwerpen auf Belgien, die Niederlande, Großbritannien und Frankreich verteilt. Ein Jahr später hatte die Wehrmacht diese Länder unter Kontrolle. 254 Passagiere der St. Louis wurden im Holocaust ermordet. (Kennen wir die Namen der Fliehenden auf der Aquarius? Wir sollten wenigstens wissen, was aus jeder und jedem einzelnen geworden ist, wenn man sie – wie die Menschenfeinde fordern – wieder nach Libyen bringt.)

Die Bilder gleichen sich. Und ich sehe keinen großen Unterschied. Denn egal, wer warum auch immer geht – eine solch gefährliche Flucht nimmt niemand aus Abenteuerlust auf sich. Unter Todesgefahr flieht man nur vor dem Tod selbst.

In Erinnerung an die beinahe geretteten Toten der St. Louis wünsche ich mir, dass zum Beispiel die Stadt Frankfurt, die gerade Gedenkfeiern für Anne Frank veranstaltet, laut „hier“ ruft: Wir nehmen sie auf – die 600 Flüchtlinge auf der Aquarius. Das wäre ein Zeichen der Erinnerung an eine ihrer bekanntesten Bewohnerinnen, der ebenfalls die lebensrettende Flucht nicht gelang.

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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