Die Sommerhitze ist in New York schon im Juni unerträglich. Weltweit ist der New Yorker „Heat Dome“ in den Nachrichten. Die Verankerung einer Drehbrücke über den Harlem River schmilzt in der Hitze und blockiert stundenlang. Vor der Zentrale der Citibank in der Wallstreet, die seit Corona wie leer gefegt ist, demonstrieren seit Wochen Klimaaktivst:innen. Mit anderen Gruppierungen formieren sie sich zu immer neuen Bündnissen. So legen sich pünktlich zum Hitzedom grauhaarige Herrschaften zu einem Die-in vor die Bankzentrale. Wer stirbt an der Hitze zuerst? Die Alten. Ziel der sturen, sich mit schöner Regelmäßigkeit wiederholenden Aktionen vor der Citibank, einem der größten Finanzdienstleister der Welt, ist das Ende der Investitionen in klimaschädliche Unternehmen und Produktionen.
„Decarbonize Decolonize“ ist aber auch der Slogan, unter dem die Klimaaktivist:innen gemeinsam mit der Palästina-Solidaritätsbewegung das Ende von Investitionen der Citibank fordern, die den Krieg Israels in Gaza direkt oder indirekt finanzieren. Die Camps in den Universitäten, die diese Forderungen an ihre Universitätsleitungen stellten, sind zwar mit dem Ende des Sommersemesters aufgelöst. Aber nicht nur hier vor der Citibank sieht man, dass die Auseinandersetzung noch lange nicht vorüber ist. Mit Nemat Shafik als Präsidentin der Columbia-Universität, die zuvor sechs Jahre lang die London School of Economics leitete, ist die dritte Präsidentin einer renommierten Ivy-League-Universität zwischen den Angriffen rechtsextremer republikanischer Abgeordneter und dem Studierendenprotest gegen den Gaza-Krieg zerrieben worden.
Anders als in Deutschland, wo eine einst von unten gegründete, jetzt aber zunehmend verstaatlichte Erinnerungskultur immer repressivere Züge annimmt, ist die Palästina-Frage in den USA ein in der Öffentlichkeit schwer umstrittenes Thema. Die hartnäckige aktivistische Szene in den großen Städten und an den Universitäten steht dabei bewusst in der Tradition der Vietnam-Kriegsproteste und der Bürgerrechtsbewegung. Den Krieg in Gaza sehen viele in der Kontinuität US-amerikanischer Hegemonie und Weltmachtbestrebungen. Dabei geht es nicht nur darum, dass fast jede US-amerikanische Außenpolitik nach dem Motto Kennedys „It´s a bad guy, but it´s our guy“ agiert und, sei es in Israel oder in Haiti, auch Verbrechern an der Macht die Treue hält. Kein Welthegemon, kein globales Kolonialreich übte je zuvor eine solche militärische Kontrolle über Militärstützpunkte weltweit aus. Manche halten ganz Israel für einen Stützpunkt der USA. So gesehen sind die Tage ihrer Hegemonie noch lange nicht gezählt. Das bewegt die Aktivist:innen, nicht nachzugeben. Sie handeln, wie Slavoj Zizek sagt, ohne die Hoffnung auf Erfolg.
Für den Herbst und den Wintersemesterbeginn sind neue Proteste an den Universitäten angekündigt. Sie sind ein symbolisches Zeichen, dass es auch im globalen Norden relevante Bewegungen gibt, die verstehen, dass im Krieg gegen Gaza und seine Menschen eine Schwelle in der Missachtung des Völkerrechts überschritten wird, die genozidale Verbrechen mit sogenannten liberalen Werten in Einklang zu bringen versucht und sie so desavouiert.
Erinnerung und Antikriegsbewegung
Dass in den USA der Protest gegen den Gaza-Krieg und die Einverleibung der Westbank eine solche politische Rolle spielt, hat auch mit der Zurkenntnisnahme der eigenen historischen Verbrechen zu tun. Eine multidirektionale Erinnerung, die bewusst Vergleiche und Bezüge der historischen Menschheitsverbrechen herstellt und sich als erinnerungspolitisches Fundament einer Einwanderungsgesellschaft betrachtet, ist bislang noch anerkannter Teil des Curriculums an den US-amerikanischen Universitäten. Die Frage nach der Singularität des Holocausts, die in Deutschland sakrosankt ist, sieht man in den USA differenzierter. Der israelische Geschichtsprofessor und Holocaustforscher Omer Bartov, der an einer US-amerikanischen Universität lehrt, geht davon aus, dass eine Mehrheit der Wissenschaftler:innen diese These nicht mehr teilt. Aus Sicht von Bartov dient sie vor allen Dingen dazu, Israel wie den Holocaust außerhalb des Völkerrechts und der Geschichte zu stellen.
Der „Missbrauch der Holocaust-Erinnerung“, wie ihn der Regisseur von „Zone of Interest“, Jonathan Glazer, bei seiner Oscar-Dankesrede mit zitternder Stimme kritisierte, nennt man in den USA gern mal „Weaponizing with the Holocaust“, sich mit dem Holocaust bewaffnen. Hier geht die Debatte auch in eine selbstkritische Richtung unter denen, die sich jahrelang mit Erinnerungskultur und Erinnerungspädagogik beschäftigt haben. So schreibt eine der renommiertesten Forscherinnen auf diesem Gebiet, Marianne Hirsch, ihre Zunft müsse sich fragen, ob sie allzu lange an der Idee des „schweren Traumas“ festgehalten und so möglicherweise „ein exzeptionalistisches Verständnis des Holocaust-Opfertums“ begründet habe. Das so entstandene Verständnis der transgenerationalen Traumatisierung über Generationen hinweg erweise sich zunehmend als Hindernis für eine Erinnerungskultur, die reparieren will.
„Kommunales Heilen und Reparieren“ könne nur gelingen, wenn man es als Imperativ begreife, die Erinnerung und „Post-Erinnerung (ein Begriff von Hirsch) an den Holocaust mit der an die Nakba, also an die palästinensische Vertreibung, zu verbinden. Eben das, so der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler und Aktivist Edward Said, sei die „Basis für Koexistenz”. All diese Fäden sollten in Deutschland aufgenommen und weitergesponnen werden – wenn es denn endlich gelingt, die erinnerungspolitische Debatte von ihren Tabus zu befreien.
Wer sich mit Verbrechen, die vor keinem internationalen Gerichtshof verhandelt werden, auseinandersetzen will, kann in diesen Sommertagen in das renommierte Guggenheim-Museum gehen und sich die Arbeiten von Jenny Holzer ansehen. Auf den Leuchtschriftbändern der Installationskünstlerin huschen Sätze wie „Entfremdung produziert Exzentriker oder Revolutionäre“, „Beschütze mich vor der, die ich bin“ und „Monomanie ist eine Voraussetzung für Erfolg“ vorbei. Es sind Denkanstöße im Vorbeirauschen, die in der sich spiralförmig aufwindenden Rotunde des Guggenheim-Museums nichts oder alles bedeuten können. An anderer Stelle sucht Holzer nach ästhetischen Formen, US-Kriegsverbrechen zu memorieren. Auf Leinwänden, die mit Gold und anderen glänzenden Metallen überzogen sind, sind Folteranweisungen aus Abu Ghraib eingraviert. Dazu dokumentiert sie ausführlich Überlegungen von Beratern des US-Militärs, wie man Zivilist:innen trotz Genfer Konvention foltern kann, um am Schluss festzustellen, dass sich die US-Truppen letztlich nicht um die Konvention geschert haben. Wenn Kunst sich nicht unterwirft, ist sie in ihrer Autonomie auch ein Echo- und Denkraum der Straße. Das sieht man an Holzer. In Deutschland soll die Freiheit der Kunst nun mit einer Bundestagsresolution zum Antisemitismus eingeschränkt werden.
Die Kraft des Aktivismus ist in New York vielerorts spürbar. So wundert man sich nicht, wenn einem ein älteres weißes schwules Pärchen begegnet, das im Pride Month kurz vor der Parade im Palästinensertuch herumläuft und ein Schild trägt, auf dem steht: „No Pride while Genocide“. Was nützen LGTBQ-Rechte, die in den USA mit Regenbogenflaggen an Banken genauso wie an Regierungsgebäuden gefeiert werden, wenn die Institutionen, die sie vor sich hertragen, anderswo Menschenrechte mit Füßen treten? Das schließt an Martin Luther King an, der sich weigerte, mit der US-Regierung über Bürgerrechte für Schwarze zu verhandeln, während die US-Armee in Vietnam Napalmbomben einsetzte.
Amerika, in mancher Hinsicht hast du es besser, ist man da versucht zu sagen. An der National Mall in Washington, also der offiziellen und kostenlosen Museumsmeile, die die Fundamente von US-amerikanischer Kultur und Geschichtsschreibung wiedergibt, zeigt sich der Unterschied zu Deutschland, das sein demokratisches Selbstverständnis einer historischen Niederlage verdankt. Unweit des monströs großen Lincoln-Denkmals, in das radikal-demokratische Sätze wie „Regieren für das Volk, durch das Volk“ und „Alle Menschen sind gleich geboren“ eingraviert sind, befindet sich das 1993 errichtete Holocaust-Museum. Trotz befremdlicher Hollywood-Anklänge in seiner Architektur – die Aufzugtüren erinnern an ein Krematorium – predigt es eine universalistische Lesart. „Nie wieder Völkermord“ lautet die Botschaft am Ausgang des Museums. Im Untergeschoss ist eine Ausstellung zum Völkermord an den Rohingyas zu sehen. Wie die meisten in den letzten Jahren entstandenen Einrichtungen der für Besucher:innen kostenlosen Nationalen Museumsmeile erzählt es eine Geschichte von unten – hier bei der Rettung von Jüdinnen und Juden. Dem steht das Versagen der Staaten gegenüber, allen voran der USA, die den Verfolgten Zuflucht verweigerten.
Im afroamerikanischen Museum, 2003 eröffnet und errichtet wie eine umgekehrte Pyramide, herrscht eine Erzählung des Widerstands vor: Widerstand der Sklav:innen und der Bürgerrechtsbewegung, Widerstand Einzelner und in Gruppen. Zu Tausenden strömen vorwiegend schwarze Bürger:innen mit ihren Kindern in das Museum. Denn Heimat ist auch eine anerkennende Erinnerungskultur.
Neuer Planetarismus
Zuletzt ein Eindruck aus dem nur ein Jahr später eröffneten National Museum of the American Indian. Das von geschwungenen Formen geprägte wüstenfarbene Gebäude erinnert an ein von Wind und Wetter geformtes Steinmassiv. Wer darin eine Anrufung indianischer Kosmologie sieht, wird im Museum von den nackten Tatsachen des US-amerikanischen Kolonialismus überrascht. Das Museum erzählt die Geschichte aus zwei Perspektiven: aus der der Siedler:innen und der der Ur-Einwohner:innen. Es ist eine Geschichte der Gewalt, des Vertragsbruchs, des Verrats und seiner propagandistischen Verleugnung.
Der Siedlerkolonialismus ist die nicht wieder gut- zumachende Gründungsgeschichte der USA, der seinen Gipfel in der großen Vertreibung der indigenen Bevölkerung aus dem fruchtbaren südöstlichen Waldland ins karge Oklahoma und ihrem tödlichen Marsch, genannt der „Pfad der Tränen“ hatte. Zuletzt hat Martin Scorsese dieser Katastrophe mit seinem Film „Killers of the flower moon“ ein Denkmal gesetzt und die uneingelösten Versprechen der Geschichte angemahnt. Es gibt keine positive Anrufung des amerikanischen Pursuit of Happiness ohne die Erzählung seines siedlerkolonialen Beginns.
Im November wird in den USA ein neuer Präsident oder – zum ersten Mal – eine Präsidentin gewählt. Kamala Harris und der als Stellvertreter benannte Gouverneur Tim Walz haben mit ihrer Kandidatur die politische Lähmung und Untergangsstimmung, die in den meisten liberalen Metropolen herrschte, überwunden. Doch: Vor dem Parteitag der Demokraten – einer gigantischen und gut vorbereiteten Rhetorik-Show – machten Demonstrierende in der letzten Augustwoche deutlich: Ein Weiter-so kann es nicht geben. Es mag eine Minderheit sein, die vor den Toren des Parteitags einen sofortigen Waffenstillstand und ein Ende der Rüstungsexporte an Israel fordert. Aber die Stimmen der US-amerikanischen Ärztinnen und Ärzte, die erschütternd von ihren Erfahrungen in Gaza berichten, bekommen medial sehr viel Gehör und können auf Dauer nicht ignoriert werden.
Die Demokraten fürchten um jeden Fehler, der sie in dieser knappen Wahl den Sieg kosten könnte. Bis zum Wahltag werden sie daher sehr vorsichtig agieren. Dass nun in dieser monarchistisch anmutenden Partei eine neue Generation antritt und damit vielleicht auch manche Zukunftsfragen wieder offener sind, wird Gegenstand der Auseinandersetzungen nach den Wahlen sein. Dann geht es wieder um die Zukunft des Planeten. Sie hängt von einer klugen Gestaltung des Übergangs von der US-Hegemonie zu einem vernünftigen Multilateralismus ab, der sich auf internationales Recht gründet.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!