Die „Prioritäten der Europäischen Union für die Jahre 2019 bis 2024“ haben auf der Tagesordnung der Staats- und Regierungschefs gestanden, die am 16. und 17. Oktober zur Sitzung des Europarats in Straßburg zusammenkamen.
Zu den Prioritäten gehört, „europäische Interessen und Werte“ in den nächsten Jahren möglichst geschlossen zu verteidigen, wofür die „wirksame Kontrolle der Außengrenzen“ als „unbedingte Voraussetzung“ gesehen wird. Dass es gelingen wird, diese Grenzkontrolle „im Einklang mit unseren Prinzipien und Werten“ zu gestalten – wie es in der neuen Strategischen Agenda so schön heißt – ist jedoch nicht anzunehmen.
Die Unterstützung der kriminellen libyschen Küstenwache durch die Europäische Union, die Kooperation einzelner EU-Staaten mit der Polizei im Folterstaat Ägypten oder das „verbesserte Migrationsmanagement“, mit dem die Europäische Union seit mehreren Jahren Unrechtsregimes wie Eritrea und Sudan in seinen vorgelagerten Grenzschutz einbindet, sind jedenfalls Ausdruck von Prinzipien und Werten, die viele Menschen in Europa nicht teilen.
EU pflegt Beziehungen zu strategischen Partnern statt gegen Elend an EU-Außengrenzen vorzugehen
Das EU-Türkei-Abkommen, dessen Verlängerung die Europäische Union anstrebt, zeigt derzeit besonders eindrücklich, dass die EU lieber ihre „Beziehungen zu strategischen Partnern“ – ebenfalls eine der Prioritäten der EU in den nächsten fünf Jahren – pflegt, als gegen Elend und Entrechtung an den EU-Außengrenzen vorzugehen.
Das im März 2016 mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan geschlossene EU-Türkei-Abkommen hat fatale Folgen von Syrien bis Europa – und zwar nicht nur für Flüchtlinge und Migranten. Dass es von seinen Verfechtern als erfolgreich dargestellt und seine Verlängerung begrüßt wird, basiert auf einem rein quantitativen Erfolgskriterium: Je weniger Flüchtlinge und Migranten aus der Türkei in den EU-Staaten ankommen, desto besser das Abkommen.
EU begegnet Flüchtlingen und Migranten mit Repression, Entrechtung, Kriminalisierung
Dass Flucht und Migration dadurch nicht verhindert, sondern bloß autoritär blockiert werden, tritt dabei in den Hintergrund. Statt mit Menschenrechten, Asyl und Bewegungsfreiheit begegnet die Europäische Union den Flüchtlingen und Migranten mit Repression, Entrechtung und Kriminalisierung.
Ungeachtet der dramatischen Situation von Flüchtlingen und Migranten an den EU-Außengrenzen klopft sich die Europäische Kommission in ihrem jüngst veröffentlichen Fortschrittsbericht zur Europäischen Migrationsagenda auf die Schulter für die erfolgreiche Migrationspolitik der letzten Jahre. Unter anderem die „Hotspots“ in Italien und Griechenland werden als gelungenes „Betriebsmodell“ hervorgehoben, mit dem „schnell und effizient“ Unterstützung an wichtigen Standorten geleistet werde.
In den „Hotspots“ sind Sonderrechtszonen entstanden
De facto sind in den „Hotspots“ an den Rändern der Europäischen Union Sonderrechtszonen für die ankommenden Flüchtlinge entstanden. Von den angekündigten beschleunigten Asylverfahren ist dort nichts übrig geblieben, was menschenrechtlich vertretbar wäre. Stattdessen sitzen Tausende Menschen monate- oder sogar jahrelang in vollkommen überfüllten, provisorischen Lagern fest, die nie auf Dauer angelegt waren, und warten vergeblich auf die Bearbeitung ihrer Verfahren.
Die Türkei, in die im Rahmen des Deals Flüchtlinge aus Griechenland zurückgeschickt werden, ist kein „sicherer Drittstaat“, weder für die dort lebenden Flüchtlinge noch für Abgeschobene – und das nicht erst, seit die Türkei begonnen hat, Syrer in das benachbarte Kriegsland zurückzuschicken.
Doch nicht nur Flüchtlinge und Migranten sind zu einem Spielball im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens geworden. Der Autokrat Erdogan hat für seine Kooperation mit Europa in der Flüchtlingsabwehr freie Hand bekommen für seine Anti-Kurdenpolitik innerhalb und außerhalb der Türkei, für seinen Angriffskrieg in Nordsyrien und damit für die Schaffung neuer Fluchtursachen.
Vermeintlicher Erfolg des EU-Türkei-Abkommmens ist teuer erkauft
So ist der vermeintliche Erfolg des EU-Türkei-Abkommens teuer erkauft: Nicht nur mit Repression und Kriminalisierung von Fluchtbewegungen, sondern mit der Einschränkung von Menschenrechten und Demokratie in all den Ländern, in die Europa seinen Grenzschutz auslagert – und nicht zuletzt in Europa selbst, an dessen Rändern sich skandalöse Räume der Entrechtung auftun.
Den Preis zahlen letztlich auch diejenigen gesellschaftlichen Kräfte, die sich für Menschenrechte, Demokratie und Solidarität einsetzen – in Europa, in Kurdistan, in der Türkei, in Syrien und anderswo. Es ist daher dringend geboten, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs ihre Prioritäten überdenken.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau vom 21. Oktober 2019.