Nordsyrien

Fatales Zögern

01.08.2019   Lesezeit: 6 min

Es braucht eine internationale Lösung für IS-Angehörige in Nordsyrien. Die Herkunftsländer müssen endlich handeln. Von Anita Starosta

Noch immer halten sich 70.000 Menschen im Flüchtlingslager al Hol im Nordosten Syriens auf. Nach dem Fall des letzten IS-Kalifats Baghouz kamen hier zehntausende IS-Anhänger*innen an. Die Sommerhitze macht die Situation im Camp, das ursprünglich für 20.000 Menschen ausgelegt war, nicht besser. Die schlechte Wasserqualität führt zu Durchfallerkrankungen und Infektionen. Die Versorgung kranker Patient*innen kann nun zwar auch stationär erfolgen – medico unterstützte den Bau eines Feldkrankenhauses und den Kauf einer Blutbank – aber die Möglichkeiten sind bei weitem nicht ausreichend für die hohe Anzahl der Menschen.

Die Helfer*innen vom Kurdischen Roten Halbmond geben ihr Bestes, es fehlt jedoch an Mitteln und Personal, um eine angemessene Versorgung auf Dauer zu gewährleisten. Internationale Hilfsorganisationen können nur bedingt helfen, sie müssen in Damaskus Genehmigungen für ihre Hilfseinsätze abholen, was zu Verzögerungen in Abläufen führt.

Zuspitzung statt Deradikalisierung

Zu dieser humanitär dramatischen Situation kommt der Umstand hinzu, dass in einer eigenen Sektion des Lagers tausende internationale IS-Anhänger*innen mit ihren Kindern leben. Sie warten auf die Rückkehr in ihre Herkunftsländer – oder schmieden Pläne für ein neues Kalifat. Erst kürzlich ergab eine Recherche des Rojava Information Center, dass Frauen mit Hilfe aus Europa – insbesondere aus Deutschland – eine Fundraisingkampagne starteten, um Schlepper zu bezahlen, die sie aus dem Lager holen sollen.

Videos von Kindern, die im Lager IS-Flaggen hissen und Berichte von Journalisten, die mit Steinen beworfen wurden, machen eindrücklich klar: Es findet eine weitere Radikalisierung statt, die Hierarchien aus den alten IS-Kalifaten haben Bestand. Anstelle einer Deradikalisierung, wie sie über psychosoziale Angebote mit den Frauen erreichbar wäre, die auch den Kindern eine Perspektive jenseits des IS aufzeigen könnte, findet eine gegenteilige Entwicklung statt. Eine tickende Zeitbombe.

Verantwortungslosigkeit der Bundesregierung

Und die Bundesregierung? Übernimmt sie Verantwortung und holt die deutschen IS-Angehörigen zurück, um hier mögliche Strafverfahren zu prüfen? Entlastet sie die überforderten kurdischen Sicherheits- und Hilfsstrukturen?

Nein. Monoton wiederholt das Auswärtige Amt, keine konsularische Vertretung in Syrien zu haben und daher keinen Kontakt aufnehmen zu können, um eine Rückholung einzuleiten. Diese fadenscheinige Argumentation verschleiert nur dürftig die offensichtlichen Motive, eine Kontaktaufnahme mit der autonomen kurdischen Selbstverwaltung um jeden Preis zu vermeiden, um den die angespannten Beziehungen zur türkischen Regierung nicht weiter zu strapazieren, die in den syrischen Kurden nur Verwandte der PKK sieht.

Stattdessen forcierten das deutsche Justiz- und Innenministerium die Ausbürgerung der deutschen IS-Angehörigen mit doppelter Staatsangehörigkeit. Die in der Verfassung verankerten Bürgerrechte sollen ausgehebelt und eine zentrale Konsequenz aus dem Nationalsozialismus über Bord geworfen werden: das Verbot der Ausbürgerung. Unliebsamen Staatsbürgern grundlegende Rechte zu entziehen, überschreitet jegliche demokratischen Grundsätze. Radikalisiert wurden sie in unserer Gesellschaft, es sollte also klar sein, bei wem die Verantwortung liegt. Ein Gesetz zur Aberkennung bei Beteiligung an einer Terrormiliz wurde inzwischen auf den Weg gebracht, kann aber nicht rückwirkend eingesetzt werden. Es besteht also weiterhin die Frage: was tun?

Insgesamt geht es um knapp 200 deutsche Staatsbürger*innen mit IS-Verbindungen, die sich in nordsyrischen Gefängnissen oder Flüchtlingslagern befinden, unter ihnen ebenso Kämpfer wie Frauen mit ihren Kindern. Ihre Rückholung und die von ca. 2000 weiteren internationalen IS-Kämpfern und ihrer Angehörigen fordern die Vertreter*innen der autonomen kurdischen Selbstverwaltung inzwischen seit Monaten – jedoch nur mit geringem Erfolg.

Klagen auf Rückholung

Dass die Helfer*innen in Nordostsyrien nicht in der Lage sind, diese Menschen auf Dauer zu versorgen und sich um eine angemessene Gerichtsbarkeit zu kümmern, ist eine Tatsache, die immer wieder artikuliert wurde. Gut also, dass es immer wieder Berichte von Treffen der kurdischen Selbstverwaltung mit Regierungsvertreter*innen aus beispielsweise Schweden oder Usbekistan gibt, um eine Rückholung der entsprechenden Staatsangehörigen zu klären. Dagegen vermeidet die Bundesregierung jeglichen offiziellen Kontakt zur autonomen Selbstverwaltung.

Inzwischen klagen aber Großeltern von Waisenkindern auf Rückholung und zwingen das Auswärtige Amt so zum Handeln. Dabei sind die „unmittelbar lebensbedrohenden“ Umstände im Camp ebenso Bestandteil ihrer Argumentation wie die Verpflichtung des Rechtsstaates, das Schutz- und Treueverhältnis zu den eigenen Staatsbürger*innen einzuhalten. Die Verfassung und die darin festgeschriebenen Rechte gelten eben für alle Staatsbürger*innen, sie dürfen nicht einfach außer Kraft gesetzt werden.

Nicht nur angesichts der Vielzahl an Nationalitäten wäre ein internationaler Rahmen für eine Gerichtsbarkeit in der Region naheliegend, auch weil die Verbrechen des IS weltweit verübt werden. Die 2014 gegründete Anti-IS-Koalition unter Führung der USA wollte den IS militärisch zerschlagen und hat mit den kurdischen Kräften der SDF Anfang 2019 das letzte IS-Kalifat in Syrien zu Fall gebracht. Dass der IS damit aber noch lange nicht besiegt ist, zeigten zuletzt Bombenattentate in den nordsyrischen Städten. Deutlich wird: Eine militärische Lösung allein reicht nicht. Zur Überwindung des IS, seiner Ursachen und Folgen stellen sich ebenso Fragen juristischer, psychosozialer und politischer Art.

Ein IS-Tribunal in der Region?

Strafverfolgung in den Heimatländern oder internationales Sondertribunal in der Region unter Leitung der UN? Auch Letzteres ist eine immer wieder diskutierte Option zur Strafverfolgung der über 2000 internationalen inhaftierten IS-Kämpfer aus über 50 Ländern. Dort, wo die Verbrechen begangen wurden und die Opfer der Gräueltaten zu Hause sind, werden Beweise gesammelt und soll die Gerichtsbarkeit stattfinden, so die nachvollziehbare Argumentation. Die Selbstverwaltung stellt sich dieser Herausforderung und ist bereit, unter Führung der UN ein solches Tribunal durchzuführen.

Naheliegend schiene eine Strafverfolgung durch den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Doch der könnte in Nordsyrien nur mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrates oder unter Einwilligung des syrischen Präsidenten Assad erfolgen. Beides ist unrealistisch. Solange die autonome Selbstverwaltung Nordostsyriens keinen völkerrechtlich anerkannten Status hat, wird die Durchsetzung eines internationalen Tribunals vom Verlauf eines Konflikts abhängen, dessen Akteure weit über Syrien hinausreichen. Nicht einfacher wird die Sache dadurch, dass der Strafgerichtshof sich zurecht nicht auf die Strafverfolgung von IS-Kämpfern beschränken dürfte, sondern es um eine Aufarbeitung aller mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Region gehen müsste – seien die Täter Angehörige des IS, der syrischen Armee, der internationalen Koalition gegen den IS, der Kurden oder anderer Akteure.

Todesstrafe im Irak

Zur Debatte steht auch ein Tribunal im Irak. Eine Idee, die viele europäische Regierungen favorisieren, weil sie sich weder zum kurdischen Projekt verhalten noch Prozesse gegen IS-Kämpfer im eigenen Land führen müssten. Bagdad hat sich bereits bereiterklärt, gegen die Zahlung von Milliarden Dollar ein Hochsicherheitsgefängnis für die IS-Kämpfer zu errichten und die Prozesse unter internationaler Beobachtung durchzuführen. Das Problem ist aber die Nichteinhaltung juristischer und menschenrechtlicher Standards in irakischen Strafverfahren: undurchsichtige Anklageschriften und viel zu schnelle Prozesse sind ebenso an der Tagesordnung wie Verurteilungen zum Tode. Es haben bereits Strafverfahren stattgefunden, in denen nach wenigen Verhandlungstagen gegen IS-Angehörige die Todesstrafe verhängt wurde.

Die Optionen, in der Region menschenrechtsbasierte Strafverfahren abzuhalten, sind also begrenzt. Die Rückholung und Verurteilung in den Herkunftsländern der IS-Kämpfer ist somit unabdingbar. Eine Strafverfolgung der IS-Anhänger*innen ist auch in Deutschland möglich, wie ein Prozess in München gegen eine IS-Anhängerin zeigt, die nach eigener Aussage ein jesidisches Mädchen in ihrem Hof verdursten ließ.

Ebenso ist es an der Zeit die völkerrechtliche Anerkennung der autonomen Selbstverwaltung politisch durchzusetzen, um Hilfe und Gerichtsbarkeit angemessen zu unterstützen und eine friedliche Perspektive in der Region zu sichern. Es ist Zeit, dass Deutschland und die anderen Herkunftsländer der IS-Kämpfer Verantwortung übernehmen.

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita


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