Explosiv ist die Stimmung in Sri Lanka seit rund sechs Wochen schon: kein Tag ohne massive Proteste gegen die Regierung der Rajapaksa-Familie. Höhepunkt bisher war die Belagerung der Privatresidenz des Präsidenten Gotabaya Rajapaksa durch Hunderte von Demonstrant*innen am 1. April, die erst durch massive Gewalt der Sicherheitskräfte zerstreut werden konnten – und sich auch nicht ohne militante Gegenwehr zerstreuen ließen. In einer unerhörten symbolischen Aktion erschienen zu einem Eilverfahren gegen 50 Inhaftierte spontan über 400 Anwält*innen, um den Angeklagten juristisch beizustehen. Die Richter mussten die Hälfte der Angeklagten freigelassen, die anderen müssen notgedrungen bleiben, weil sie von der Polizei so schwer verletzt wurden, dass sie im Krankenhaus liegen. Zum heutigen Sonntag waren dann weitere landesweite Massenproteste angekündigt, geplant und verabredet in den sozialen Netzwerken zumindest ohne kenntlich werdende politische Führung. Das genau war der regierenden Familie zu viel. Zuerst wurde der Ausnahmezustand, auf seiner Grundlage dann eine von Samstagabend bis zum Morgen des kommenden Montags reichende Ausgangssperre verhängt.
Sri Lanka erlebt die schwerste Wirtschaftskrise seit seiner Unabhängigkeit 1948. Das völlig überschuldete Land und seine Währung befinden sich seit Monaten schon im freien Fall. Die Preise steigen täglich, ärmere und arme Leute kommen gar nicht mehr zu Rande und hungern schon, auch erhebliche Teile der Mittelklasse sinken ins Elend. Tagtäglich wird zwei, drei Mal landesweit der Strom abgestellt, manchmal drei Stunden lang. An jeder Tankstelle endlos lange Schlangen, Menschen mit Plastikkanistern, Motoräder, die dreirädrigen tuc-tuc-Taxis, Autos, Busse, LKW stehen um Benzin und Diesel an, das nur noch in täglich geringerer Menge, immer wieder gar nicht zu haben ist. Erstmals in seiner Geschichte muss das Land Reis einführen, weil es keine Devisen mehr gibt, um Dünger zu beschaffen. Kaschiert wird das Drama durch eine Kampagne der Regierung, die den Verzicht auf Düngemittel ökologisch und gesundheitspolitisch legitimiert.
Eskaliert ist die seit Jahren schon schwelende Krise durch Corona: die Tourist*innen blieben weg, der Rückfluss an Geldern seitens srilankischer Arbeitsmigrant*innen kam zum Erliegen. Trifft letzteres viele Länder des globalen Südens, trifft es Sri Lanka besonders hart. Weil die Demokratische Sozialistische Republik in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit ein im Vergleich tatsächlich außerordentliches Gesundheits- und Bildungswesen geschaffen hatte, sind ihre Arbeitsmigrant*innen durchschnittlich in besserer Position als viele andere, arbeiten in den Ankunftsländern beispielsweise oft als Buchhalter*innen. Deshalb hing und hängt der in Südasien augenfällige Wohlstand Sri Lankas maßgeblich an den Rücküberweisungen seiner weltweiten Diaspora – und genau die brechen seit fast drei Jahren weg. Hinzu kommen die Schulden, die das Rajapaksa-Regime mit der Hochrüstung seines Militärs angehäuft hatte: Abermillionen, die aufgebracht wurden, um den jahrzehntelangen bewaffneten Widerstand der Tamil Tiger zu brechen. Die hatten sich im Namen der tamilisch-hinduistischen Minderheit gegen einen Staat erhoben, der nicht nur, doch besonders von der Rajapaksa-Familie als Staat allein der singhalesisch-buddhistischen Mehrheitsgesellschaft verstanden wurde und wird.
Was die Proteste auf Sri Lanka mit den globalen Aufstandsbewegungen der letzten Jahre vergleichbar macht, ist ihre Unabhängigkeit auch gegenüber den Parteien der Opposition einschließlich denen der Linken. Es ist die Jugend und es sind die Armen, die auf die Straße gehen, verstärkt durch Angehörige der Mittelklasse. Politisch ungebunden und meist auch unerfahren, eint sie ein ebenso klares wie schlichtes Ziel: „Gota, go home!“ (Anspielung auch auf den Umstand, dass der Präsident neben seinem srilankischen über einen amerikanischen Pass verfügt). Der Einigkeit im Negativen aber entspricht keine Einigkeit im Programmatischen: die Rajapaksa-Familie soll weg, das Leben soll wieder gelebt werden können. Weil das so ist, kann aktuell kaum ausgemacht werden, was jetzt kommt. Die für heute vorgesehenen Massenproteste finden nicht statt. Die Regierung hat gerade das Internet verlangsamt und die meisten sozialen Netzwerke (bis auf Signal) abgeschaltet. Bis auf weiteres fehlen die Orte, sich zu versammeln und zu beraten. Zugleich drohen gleich zwei konterrevolutionäre Optionen: der entschiedene Wille der Rajapaksas, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, und die Möglichkeit eines Militärputsches, der die Familie stürzen würde, um die herrschende Ordnung zu retten.
Relative politische Prominenz unter den Demonstrant*innen hat bislang nur Hirunuka Premachandra gewonnen, eine frühere Abgeordnete der relativ jungen, singhalesisch-liberalen Partei Samagi Jana Balawegaya (Vereinte Volksmacht, SJB), die nach ihrer Gründung schnell zur stärksten Oppositionspartei aufstieg. Premachandra ist selbst noch sehr jung, handelt als Einzelperson, vertritt eine entschieden feministische Position und hat in den letzten Tagen selbst eine der militanteren Aktionen der Protestbewegung angeführt. Menschenrechts- und linke Aktivist*innen setzen auf eine Regenbogenkoalition der vereinten Oppositionsparteien: 2015 hatte eine solche Koalition die Rajapaksas vorübergehend von der Macht verdrängt, war dann aber an der Nichtumsetzung ihrer Versprechen gescheitert. Diese Versprechen würden noch heute den Kern eines alternativen Programmes bilden: Übergang von der herrschenden Präsidial- zu einer parlamentarischen Demokratie, Abschaffung der aus dem Bürgerkrieg stammenden, extrem repressiven Anti-Terror-Gesetzgebung (Prevention of Terrorism Act, PTA) und Umbau des von der Mehrheitsgesellschaft dominierten Einheitsstaates in eine föderale Republik mit Selbstbestimmung der tamilischen, aber auch der muslimischen und christlichen Minderheit. Die Umsetzung dieser uneingelösten Versprechen des Jahres 2015 wäre zentral, soll der Widerstand die multiethnische und multireligiöse Verfassung der Gesellschaft politisch artikulieren können. Hier aber gibt es massive Zweifel: zumindest Hirunuka Premachandras Partei SJB ist so singhalesisch-nationalistisch wie die Mehrheit der anderen Oppositionsparteien und die Rajapaksa-Regierung selbst.
Darüber hinaus aber müsste eine alternative Regierung die Wirtschaftskrise angehen: und auch hier herrschen massive Zweifel. Die hängen allerdings nicht am politischen Willen: die Krise ist so tief, dass Sri Lanka allein sie beim besten Willen nicht lösen kann. Hier ist das Land wieder einmal exemplarisch für die weiteren globalen Verhältnisse: die Krise, die ja letztlich eine Krise des globalen Kapitalismus ist, kommt aus dem Norden, verwüstet aber zuerst den Süden. Soll Sri Lanka eine Chance haben, braucht es einen Schuldenerlass – und nicht Kreditgeber wie den IWF, China, Indien und die USA, die sich im Gegenzug gegen niemals zureichende Hilfszahlungen alles unter den Nagel reißen, was das Land zu bieten hat: allem voran seine Seehäfen.
Was also bleibt? Bis auf weiteres das eigentlich politische Moment: die Frage nämlich, ob Massenproteste ökonomischen und das heißt primär sozialen Hintergrunds das Potenzial haben, die aus der gescheiterten Dekolonisierung resultierenden ethnisch-religiösen Spaltungen zu überwinden und eine tatsächliche „vereinte Volksmacht“ zu schaffen. Den dazu unverzichtbaren Humor jedenfalls haben die Bewegungen: im Blick auf die Gewalt der staatlichen Sicherheitskräfte kommentierten Aktivist*innen in den noch funktionierenden Netzwerken: „Habt keine Angst vor dem Tränengas: die Vorräte sind bald aufgebraucht!“