„Humanitäre Krise in der polnisch-weißrussischen Grenzregion“ ist der kürzlich veröffentlichte Bericht der von medico unterstützten „Grupa Granica“ überschrieben, in dem sie ihre Arbeit im Grenzgebiet und die politischen Entwicklungen in den letzten Monaten dokumentiert. Wir haben die Zusammenfassung ihrer Arbeit und ihre Stellungnahme zum gestern per Gesetz verlängerten Ausnahmezustand in der Grenzregion aus dem Polnischen übersetzt.
Was machen wir an der Grenze?
Seit Beginn der Krise bis zum 11. November haben sich mindestens 5000 Menschen mit der Bitte um Hilfe an die „Grupa Granica“ gewandt, unter anderem aus dem Irak, Syrien, Afghanistan, Jemen, Iran und Somalia. In vielen Fällen wurden Migranten und Migrantinnen mehrfach nach Weißrussland zurückgeschoben (Pushback). Unser Bericht beschreibt, womit solche Erfahrungen verbunden sind. Durch die Beobachtung der Situation im Grenzgebiet und die Analyse der vom Grenzschutz vorgelegten Daten können wir das Ausmaß dieser Praxis abschätzen: Von Ende August bis Mitte November 2021 haben die polnischen Behörden bei fast 30 000 Versuchen, die polnische Grenze illegal zu überqueren, 27 500 Abschiebungen vorgenommen. Ein großer Teil der abgeschobenen Personen hat auf beiden Seiten der Grenze unterschiedliche Formen von Gewalt und Folter erlebt.
Allein zwischen dem 20. und 28. November haben sich mindestens 532 Personen an die „Grupa Granica“ gewandt und um Hilfe gebeten (darunter zwei Gruppen: 100 Personen aus dem belarussischen Staatsgebiet und 80 Personen, die sich in Polen aufhielten), unter ihnen 19 Kinder. Neun Personen wurden als vermisst gemeldet. Wir haben vor Ort 70 Menschen erreicht, die um humanitäre, medizinische und rechtliche Hilfe baten. Täglich leisten wir auch rechtlichen und sozialen Beistand für Menschen in bewachten Aufnahmezentren und in Flüchtlingsheimen. Wir unterstützen die Integration von Einzelpersonen und Familien, die die Zentren verlassen und sich in unseren Städten niedergelassen haben. Wir treffen uns mit den Einwohner:innen des Grenzgebiets und anderer Regionen und liefern zuverlässige Informationen über die humanitäre Krise und Maßnahmen für Menschen mit Migrationserfahrung.
Verlängerung des Ausnahmezustands im Eilverfahren
Am 1. Dezember verlängerten die polnischen Verantwortlichen de facto den Ausnahmezustand. Das am 30. November vom Parlament verabschiedete und gestern unterzeichnete „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den staatlichen Grenzschutz und einiger anderer Gesetze“ schränkt nach unserer Auffassung die Rechte von Personen, die internationalen Schutz suchen, sowie die Bürgerrechte weiter ein. Wir sprechen im Folgenden vom Pseudo-Ausnahmezustandsgesetz. Zunächst lehnte der Sejm (eine der beiden Kammern der polnischen Nationalversammlung, Anm. d. R.) alle Änderungsanträge des Senats zu diesem Gesetz ab, dann unterzeichnete der Staatspräsident das Gesetz innerhalb von zwei Stunden, und die Regierung veröffentlichte es im Gesetzblatt, so dass die neuen Regelungen sofort in Kraft traten. Daraufhin erließ der Innenminister auf dieser Grundlage ein Dekret, dass im Wesentlichen die gleiche Situation wie während des Ausnahmezustands aufrechterhalten bleibt. All dies geschah innerhalb von vier Stunden. Das schwindelerregende Arbeitstempo war darauf zurückzuführen, dass der 30. November der Stichtag für den vom Staatspräsidenten am 2. September dieses Jahres verhängten Ausnahmezustand war. Laut polnischer Verfassung gab es keine Möglichkeit einer weiteren Verlängerung. Die Machthaber wählten daher einen Weg, um die Verfassung zu umgehen, und unternahmen einen weiteren Versuch, ihr illegales Handeln durch ein Gesetz zu legalisieren.
Was ändert sich durch das Pseudo-Ausnahmezustandsgesetz?
Es ermöglicht es dem Innenminister (auf Antrag des Oberbefehlshabers des Grenzschutzes), per Dekret ein „vorübergehendes Aufenthaltsverbot“ in einem bestimmten Gebiet zu verhängen. Dieses „Verbot“ ist nichts anderes als eine Fortsetzung des Ausnahmezustands, der in Grenzgebieten verhängt werden darf. Er kann sich auf alle Grenzgemeinden erstrecken, d. h. auf ein sehr großes Gebiet, das sogar mehrere Dutzend Kilometer in das Land hineinreicht und Städte unterschiedlicher Größe umfasst, darunter auch Przemyśl.
In diesem Gebiet, dessen Größe der Minister selbst festlegt, wird der Aufenthalt von allen Personen, die dort nicht wohnen, arbeiten oder studieren, verboten. Eine Ausnahme gilt für Personen, die auf dem Weg sind, eine Behörde oder einen Arzt aufzusuchen oder an einem Gottesdienst teilzunehmen. Der zuständige Kommandeur des Grenzschutzes kann in begründeten Fällen auch anderen Personen den Aufenthalt in der Pseudo- Ausnahmezustandszone gestatten, darunter auch Journalistinnen und Journalisten, die ohne einen solchen Passierschein nicht ungehindert über die Geschehnisse in dem Gebiet berichten können. Diese Genehmigung ist befristet und der Kommandeur legt zusätzlich die Regeln und den genauen Bereich des erlaubten Aufenthalts fest. Die Entscheidung des Kommandeurs liegt in seinem Ermessen – er muss niemanden einlassen, wenn er nicht will.
Ein Pseudo- Ausnahmezustand kann von Tag zu Tag oder sogar von Stunde zu Stunde ausgerufen werden, wie die Situation am 30. November gezeigt hat. Der Minister legt den Zeitraum fest, für den sie verhängt wird, und kann sie nach Belieben verlängern.
Der Erlass des Ministers vom 30. November sieht einen Pseudo- Ausnahmezustand bis zum 1. März 2022 vor. Das Gebiet, für das er gilt, deckt sich mit dem Gebiet, in dem bis Ende November der Ausnahmezustand in Kraft war. Natürlich kann dieser Bereich jederzeit erweitert und die Gültigkeit dieser Bestimmungen verlängert werden.
Wir möchten noch einmal betonen: Das neue Gesetz über den Ausnahmezustand ist eine sehr schwerwiegende und verfassungswidrige Einschränkung der Bürgerrechte. Die Bestimmungen treffen nicht nur Migrantinnen und Migranten, die sich im Grenzgebiet aufhalten, sondern auch polnische Bürger und Staatsangehörige und machen ihnen das Leben sehr schwer. Das Gesetz sieht Strafen für die Nichteinhaltung seiner Bestimmungen vor. Wer die Zone ohne Genehmigung betritt, kann mit einer Geldstrafe von bis zu 5000 PLN oder mit einer Freiheitsstrafe von 5 bis 30 Tagen bestraft werden.
Darüber hinaus stattet das Gesetz die Grenzschutzbeamten mit neuen Befugnissen und neuen Mitteln des direkten Zwangs aus. Neben dem bestehenden Arsenal (Schlagstöcke, nicht penetrierende Geschosse, Tränengasgranaten oder Taser) werden die Beamten auch die Möglichkeit haben, aus dem Rucksack heraus Tränengas zu versprühen.
Die Krise ist nicht vorbei!
Es scheint, als habe sich die Eskalation der Krise nach den Ereignissen am Grenzübergang in Kuźnica verlangsamt. Dies ist jedoch nicht der Fall. In der polnisch-weißrussischen Grenzregion herrscht nach wie vor eine humanitäre Krise. Bewohner:innen der Region, Aktivist:innen, Mediziner:innen und Anwält:innen helfen dort jeden Tag Menschen in Not. Ein Ausweg aus dieser dramatischen Situation ist nicht in Sicht, und die Wetterbedingungen werden von Tag zu Tag schlechter.
Es gibt immer noch Menschen, die an der Grenze festsitzen und dringend Hilfe benötigen. Vor ein paar Tagen gab es einen Protest von Migranten am Vorläufigen Schutzzentrum für Ausländer in Wędrzyn, und letzten Donnerstag haben wir interveniert, nachdem Soldaten der Territorialen Verteidigungskräfte (Wojsk Obrony Terytorialnej) einen Aktivisten der Granica-Gruppe angegriffen hatten. Nun hat das polnische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das de-facto die Dauer des Ausnahmezustands in der Grenzregion verlängert, und in den staatlichen Medien werden viele rassistische Stereotypen verbreitet und ständig eine Atmosphäre der Zustimmung zur Gewalt gegen Migranten und Helfenden geschaffen.
Wenn Gewalt zum Gesetz wird, ist es unsere gesellschaftliche Verantwortung zu reagieren. Wir werden unsere humanitäre Hilfe sowie unsere Dokumentations- und Monitoringtätigkeiten fortsetzen.
Übersetzung: Karolina Slusarenka
Für die Nothilfe und Menschrechtsarbeit an der polnisch-belarussischen Grenze bitten wir um Spenden.