Migration

Die Grenzen der Solidarität

26.03.2022   Lesezeit: 7 min

Zur Situation von ukrainischen und anderen Flüchtlingen in Polen. Beitrag auf der „El Hiblu 3 Freedom Conference”, 26. und 27. März 2022, Malta.

Von Ramona Lenz

Millionen von Ukrainer:innen sind derzeit auf der Flucht vor dem Krieg, und Nachbarländer wie Polen nehmen sie mit offenen Armen und viel Unterstützung auf. Die meiste Hilfe wird von der lokalen Zivilgesellschaft, aber auch von Freiwilligen und Organisationen aus dem Ausland geleistet. Sie verteilen Lebensmittel, Hygieneartikel, Powerbanks und organisieren Unterkunftsmöglichkeiten und medizinische Versorgung. An einigen Grenzübergängen hat sich ein wahrer Jahrmarkt der humanitären Hilfe entwickelt. Vor den Augen von Kamerateams aus aller Welt überbieten sich NRO und Freiwillige gegenseitig bei der Hilfe für die Ukrainer:innen. Weit weniger sichtbar, aber ebenfalls enorm ist das breite Spektrum der Hilfe von Privatpersonen und Aktivist:innen. Insgesamt ist die Welle der Solidarität in Polen und anderen europäischen Ländern mit den Flüchtlingen aus der Ukraine überwältigend. Sie umfasst jedoch nicht alle Menschen.

Vor allem ukrainische Frauen und Kinder sind mit großer Gastfreundschaft aufgenommen worden. Für andere Gruppen von Flüchtlingen ist die Situation viel schwieriger. Roma, Schwarze und andere People of Colour, die ebenfalls vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, erfahren oft Ablehnung. Männer, die vom Militärdienst desertieren und die Grenze illegal überqueren, haben es ebenfalls schwer. Es sind Aktivist:innen, die sich für sie einsetzen, Aktivist:innen, die sich schon lange vor dem Krieg in der Ukraine und trotz zunehmender Repression um unerwünschte Flüchtlinge in Polen gekümmert haben. Sie kümmern sich auch weiterhin um Flüchtlinge aus anderen Kriegs- und Krisengebieten wie Irak, Syrien, Afghanistan, Jemen, Sudan oder Somalia, die in den Wäldern entlang der polnisch-belarussischen Grenze festsitzen. Während die Solidarität mit den ukrainischen Flüchtlingen überwältigend ist, finden ein paar hundert Kilometer entfernt im polnisch-weißrussischen Grenzgebiet die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge aus anderen Ländern statt.

Als ich im November 2021 dort war, überquerten täglich Hunderte von Flüchtlingen die Grenze von Belarus nach Polen, nachdem der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko sie ermutigt hatte, über Minsk in die Europäische Union einzureisen. In der Zwischenzeit hat Polen damit begonnen, an seiner Grenze zu Belarus eine 186 Kilometer lange Barriere zu errichten, die mit Stacheldraht versehen werden soll. Aus diesem und anderen Gründen kommen jetzt deutlich weniger Menschen über die Grenze.

Aber die Zahl der Flüchtlinge, die versuchen, von Belarus nach Polen zu gelangen, steigt zuletzt wieder an. Wie die polnischen Behörden am 22. März 2022 mitteilten, hatten in den vergangenen 24 Stunden 134 Personen versucht, die Grenze zu überqueren - ein "Rekord in diesem Jahr". (Infomigrant 23.3.2022). Sie kamen aus Ländern wie Afghanistan, Irak, Ägypten, Sudan, Jemen, Türkei und Kuba. Auf der belarussischen Seite warten Hunderte, die noch nicht in ihr Herkunftsland zurückgeschickt wurden, immer noch auf eine Möglichkeit, nach Polen zu gelangen. Ihre Situation wird immer schlimmer. Es gibt Berichte über systematische Gewalt gegen Flüchtlinge auf der belarussischen Seite, und es scheint weder genügend Lebensmittel noch medizinische Versorgung für sie zu geben.

Diejenigen, die es nach Polen geschafft haben, laufen tage- oder wochenlang durch das dichte Waldgebiet – ohne sauberes Wasser und warme Kleidung, immer in der Angst, entdeckt und zurückgeschickt zu werden. Mindestens 19 Menschen sind in den letzten Monaten unter den kalten, nassen und gewalttätigen Bedingungen in der Grenzregion gestorben. Viele haben zahlreiche Rückschiebungen zwischen Polen und Belarus in beide Richtungen erlebt. "Sie werden wie Tiere gejagt", sagte einer der polnischen Aktivist:innen, die wir dort trafen. Sie betreiben eine Art Alarmtelefon, um Notrufe von Flüchtlingen entgegenzunehmen, die durch den Wald irren. Die meisten Menschen sind in einem sehr schlechten Zustand, wenn sie anrufen. Die Aktivist:innen versorgen sie mit Tee, Essen und medizinischer Grundversorgung. Was die seelischen Verletzungen angeht, wissen sie, dass sie bei ihren kurzen Begegnungen im Wald wenig tun können, und doch nutzen sie die Gelegenheit, die Menschen ein wenig aufzumuntern - und sei es nur durch ein freundliches Wort oder eine vorsichtige Berührung.

Während die Unterstützung von Flüchtlingen aus der Ukraine von der polnischen Regierung begrüßt wird, findet die Unterstützung von Menschen aus anderen Ländern in einem zunehmend repressiven Umfeld statt. Seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2015 hat die PiS-geführte polnische Regierung eine harte Linie gegenüber Flüchtlingen eingeschlagen. Sie hat nicht nur begonnen, den Zaun an der Grenze zu errichten, sondern geht auch gegen Menschen vor, die unerwünschte Flüchtlinge unterstützen. Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes wurden erst letzte Woche acht Personen – ein Italiener, drei Ukrainer und vier polnische Staatsangehörige – festgenommen, weil sie Flüchtlingen beim Grenzübertritt aus Belarus geholfen hatten. Ihnen drohen nun bis zu acht Jahre Haft.

Kritik an der repressiven Politik Polens gibt es von der EU und anderen europäischen Regierungen jedoch kaum. Im Gegenteil: Trotz der Unterdrückung der kritischen Zivilgesellschaft im Land und trotz illegaler Pushbacks sowie unzureichender Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen werden die EU-Regierungen nicht müde, ihre volle Solidarität mit der polnischen Regierung beim Schutz der EU-Außengrenze zu betonen.

Im Gegensatz zur so genannten "Solidarität" der EU mit Polen bei der Schließung der Grenzen zeigen sich aktivistische Initiativen wie die Grupa Granica oder die Ocalenie-Stiftung seit vielen Jahren solidarisch mit Menschen auf der Flucht - egal, woher sie kommen und wohin sie wollen. Sie dokumentieren die schrecklichen Menschenrechtsverletzungen an der polnisch-belarussischen Grenze und leisten psychologische und juristische Hilfe für die unerwünschten Flüchtlinge im Wald und in den gefängnisähnlichen Haftanstalten Polens, wo viele nicht-ukrainische Flüchtlinge in Angst vor Abschiebung monatelang oder sogar jahrelang ausharren müssen.

Auch viele Menschen, die in Grenzregionen leben, sind nicht bereit, die Tatsache zu ignorieren, dass Flüchtlinge direkt neben ihnen hungern und frieren, und sie tun, was sie können, um ihnen zu helfen, wie zum Beispiel die Bewohner:innen von Michalowo, einer kleinen polnischen Stadt an der Grenze zu Belarus, die grüne Lichter in ihre Fenster hängen, um Gastfreundschaft zu signalisieren.

Eine polnische Aktivistin bringt die Brutalität des Grenzregimes auf den Punkt, mit der viele Menschen, die Flüchtlinge unterstützen, konfrontiert sind: "Wir können die Menschen nicht mitnehmen oder sie an einen sicheren Ort bringen. Das wäre eine kriminelle Handlung. Aber es ist kein Verbrechen, diese Menschen ihrem langsamen Tod zu überlassen." Und angesichts der unterschiedlichen Behandlung von Menschen an der ukrainischen und der belarussischen Grenze sagte ein anderer: "Es ist, als gäbe es zwei verschiedene Länder in einem, zwei völlig unterschiedliche Regeln - Menschen, deren Leben es wert ist, gerettet zu werden, und solche, die im Wald sterben können." Und wieder ein anderer schrieb vor ein paar Tagen auf Twitter: "Viele Aktivist:innen, die seit 7 Monaten in den Wäldern [der polnisch-belarussischen Grenzregion] arbeiten, sind an die polnisch-ukrainische Grenze gegangen, um zu helfen, [weil] es dort endlich sicher ist, zu helfen."

Wir leben in einer Welt, in der nicht nur viele Gruppen von Flüchtlingen kriminalisiert sind und nicht sicher reisen können. Auch diejenigen, die ihnen helfen, müssen strafrechtliche Verfolgung fürchten. Da es vor allem Flüchtlinge sind, die sich gegenseitig helfen, sind sie es, die der Gefahr einer vielfachen Kriminalisierung ausgesetzt sind. So wie die ElHiblu3. Die drei haben in einer verzweifelten Situation das einzig Richtige getan. Sie haben sich in Gefahr begeben, um Menschen vor Folter und Elend zu retten. Damit haben sie die Europäische Union zutiefst beschämt, die seit Jahren Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt und sie nun auch noch in polnischen Wäldern erfrieren oder zu Tode prügeln lässt. Die EU sollte sich ein Beispiel an den ElHiblu3 nehmen, anstatt sie zu verfolgen. Was sie verdienen, sind Auszeichnungen und Anerkennung, nicht Strafverfolgung.

Volle Solidarität mit den ElHiblu3 und mit allen, die sich in verzweifelten Situationen gegenseitig unterstützen.

Übersetzung: medico

Ramona Lenz (Foto: medico)

Ramona Lenz ist Sprecherin der Stiftung medico. Über viele Jahre war die Kulturanthropologin in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für das Thema Flucht und Migration.

Twitter: @LenzRamona


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