Ich möchte einige Gedanken aufwerfen, die die Frage nach der Hierarchisierung von Leben in der Pandemie und darüber hinaus an die Bedingungen von Atmen knüpfen. Ich lehne mich dabei vor allem an Betrachtungen des antikolonialen Theoretikers Frantz Fanon an. In seiner Analyse des Kolonialismus – vor allem des französischen Kolonialismus – argumentiert er, dass die Akkumulationsprozesse des kolonialen Kapitalismus mit der sozialen Produktion von Differenz verschränkt sind. So beschreibt auch Cedric Robinson in seinem Werk „Black Marxism“, dass nicht nur der Reichtum Europas, sondern auch die Ermöglichung von Lohnarbeitsverhältnissen, also von „freier“ und zugleich „unfreier“ Arbeit, von der rassifizierten Überausbeutung auf den Plantagen und in den Kolonien (auch innerhalb Europas) abhängt. Für Fanon wirkt sich das auf Fragen von Gewalt, Polizei, Subjektivierungsprozessen, Anrufungsdynamiken und Macht aus. So betont er in „Die Verdammten dieser Erde“, dass die Polizei in der kolonialen Situation immer gewaltvoll ist: „Die kolonisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt. Die Trennungslinie, die Grenze wird durch Kasernen und Polizeiposten markiert. Der rechtmäßige und institutionelle Gesprächspartner des Kolonisierten, der Wortführer des Kolonialherrn und der Unterdrückungsregimes ist der Gendarm und der Soldat (...), die ohne jede Vermittlung, durch direktes und ständiges Eingreifen den Kontakt zum Kolonisierten aufrechterhalten und ihm mit Gewehrkolbenschlägen und Napalmbomben raten, sich nicht zu rühren.“
Fanon macht hier deutlich, dass für bestimmte Gruppen der Ausnahmezustand einen alltäglichen Zustand darstellt. Gewalt operiert weniger über Disziplinierung und Selbstfügung, sondern vor allem direkt und unvermittelt. Die Historisierungen polizeilicher Gewalttechniken und Techniken der Bestrafung sind hilfreich, um aktuelle rassifzierte Gewaltförmigkeiten im „karzeralen“ (strafenden) Kapitalismus sowie die differenzielle Funktionsweise der Polizei besser in den Blick zu bekommen. Besonders aktuell an Fanons Arbeiten ist hierbei seine Analyse der Verunmöglichung von Atmen: „Under these conditions, the individual’s breathing is an observed, and occupied breathing. It is a combat breathing.“
Combat breathing, eine „Kampfatmung“, verkörpert das Ringen nach Atem, das Schnappen nach Luft, das Abdrücken der Luftzufuhr, die Kurzatmigkeit, die Panikattacke, die langsame Verunmöglichung von Atmen, sei es durch transgenerationalen Schmerz, durch Umweltrassismus oder den schnellen Tod durch Asphyxie infolge einer Verengung der Atemwege durch Wasser beim Ertrinken – im Schwarzen Mittelmeer. Atmen ist eine elementare Form des Austausches mit und in der Welt. Atmen ist Bedingung für Sozialität und für das In-Kontakt-Sein mit der menschlichen und nichtmenschlichen Welt. Gleichzeitig ist jeder neue Atem, also jeder Atemzug ein Neuanfang, mit Arendt gedacht „weltmachend“. Für Fanon ist die Verunmöglichung von Atmen damit mehr als eine Metapher und es ist bei Weitem nicht auf die individuelle Ebene zu reduzieren. Er beschreibt eine historische und materialistische Bedingung, hervorgebracht durch einen „racial capitalism“ und von diesem reproduziert. In einer viel zitierten Passage schreibt Fanon: „Wenn wir revoltieren, dann nicht für eine bestimmte Kultur. Wir revoltieren einfach, weil wir aus vielen Gründen nicht mehr atmen können.“ Aus vielen Gründen bzw. in mehr als einem Sinne des Wortes.
In den vergangenen Jahren haben sich die Verunmöglichung von Atmen zum einen durch Polizeigewalt bzw. das Polizieren und zum Zweiten durch die Pandemie bzw. ein Virus verdichtet. Die Pandemie hat die Atemlosigkeit, die Kampfatmung, zu einer globalen Bedingung gemacht. Doch diese Verhältnisse sind, wie auch Prozesse und Erfahrungen durch Ausbeutung, Polizieren, Grenzen und Militarismus, differenziell: Sie treffen rassifizierte Arbeiter:innen und abhängige Länder im Globalen Süden sowie diejenigen, die unter dem Embargo des Empire stehen, am härtesten. Meist migrantische Arbeiter:innen – im Pflegebereich, in Supermärkten, öffentlichen Verkehrsmitteln, Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie – sind nicht nur „unverzichtbar“ für die soziale Reproduktion der Gesellschaft, sie sind auch unverhältnismäßig stark dem Virus und damit einem frühzeitigen Tod ausgesetzt. Während einige von uns von zu Hause aus arbeiten können, werden sie, ebenso wie weitere Arme, die Wohnungslosen und die Illegalisierten, entweder als Material für die Produktion von Wert oder in Lagern, Gefängnissen oder Knästen festgehalten und als überflüssig betrachtet. Manchmal auch beides.
Auf globaler Ebene besteht die Gefahr, dass der Impfnationalismus, die globale Pharmaindustrie und Eigentumsrechte Gesundheit weiter als Vektor einer sanitären globalen „color line“ mobilisieren, um mit W.E.B. Du Bois zu sprechen, die durch neokoloniale Geografien verläuft. Und während Länder des Globalen Südens wie Südafrika die internationale „Gemeinschaft“ auffordern, sie atmen zu lassen und auf die Regeln des geistigen Eigentums für Covid-Impfstoffe zu verzichten, scheint das Atmen selbst zu einer Ware geworden zu sein. Es gibt einen dritten Begriff des Nichtatmens, der Atemlosigkeit: das Atmen der Umwelt, der Erde, „in mehr als einem Sinn des Wortes“. Bei Fanon wird auch diese dritte Form implizit angesprochen. Für ihn ist die Kondition der Verdammten dieser Erde auch verknüpft mit der Verdammung der Erde: Umweltverschmutzung, fossile Brennstoffe und Kohlenstoff schaffen nicht nur ein Ungleichgewicht, sondern zerstören die Beziehungen zwischen den Elementen, den Ökologien und den menschlichen und nichtmenschlichen Interaktionen. Die Ozeane und Wälder haben so viel Kohlendioxid aufgenommen, dass sie zu ersticken drohen. Atemlosigkeit in mehr als einem Sinne des Wortes, aus vielen Gründen. Während es immer heißer wird, fällt es den Menschen in vielen Teilen der Welt, besonders entlang postkolonialer globaler Geografien der Ungleichheit, schwer zu atmen. Auch Dürreperioden Brände und immense Hitze sind Auswirkungen einer Welt, die sich in einer Kampfatmung befindet.
„Verlassen wir dieses Europa“, schreibt Fanon. „Verlassen wir dieses Europa, in dem sie nie aufhören, vom Menschen zu reden, und doch Menschen ermorden, wo immer sie sie finden, an jeder Ecke ihrer eigenen Straßen, in allen Winkeln der Welt.“ Europa meint hier nicht einfach einen Ort, sondern bezieht sich eher auf eine spezifische koloniale und imperiale Lebens-, Produktions- und auch Beziehungsweise, die längst globalisiert ist. Ich verstehe das Verlassen Europas als ein Projekt, das sich den europäischen Idealen und politischen Konzepten, die stets auf nekropolitischen Ausschlüssen beruhen – Menschenrechte, liberale Demokratie, Flüchtlingskonventionen, Staatsbürger:innenschaft, Nationen etc. –, in Richtung neuer und alternativer Produktions- und Beziehungsweisen widersetzt.
Der rassifizierte und vergeschlechtlichte Kapitalismus, die Ausbeutung und Zerstörung natürlicher Ressourcen und Lebenswelten, die Enteignungen und die Expansion der Sicherheits- und Grenzpolitiken, die Kriminalisierung überflüssig gewordener Bevölkerungen und die sanitäre Apartheid: Die grundlegenden Probleme und Krisen, mit denen wir heute konfrontiert sind, können nicht durch Formen der liberalen Inklusion gelöst werden. Europa zu verlassen bedeutet im Sinne Fanons, mit den grundlegenden politischen und sozialen Kategorien, Ökonomien und Beziehungen zu brechen und gleichzeitig Welten neu zu entwerfen. Das geschieht bereits. Imaginationen und Praktiken neuer Welten und Beziehungsweisen werden im Kleinen erprobt. Abolitionistische Ansätze versuchen, die Bedingungen von Gewalt und ihre Manifestation in strafenden Institutionen, Politiken, Ökonomien und Beziehungen der Ausbeutung zu überwinden.
Solche Projekte und Geografien, die die Möglichkeiten radikalen gesellschaftlichen Wandels vorausdeutend erproben, finden sich in den Archiven und alltäglichen Widerständen – zum Beispiel von selbstorganisierten Initiativen von Geflüchteten und Unterstützer:innen wie der Bewegung der Sans-Papiers, Gruppen wie Refugees for Refugees, dem Migrant Solidarity Network oder Women in Exile und ihren Widerständen gegen Lager, Polizei, Isolation, Grenzregime und Ausbeutung und für Unterstützungsstrukturen, Gesundheitsversorgung, Bewegungsfreiheit und ein würdevolles Leben. Auch im Rahmen der Widerstände von Klimaaktivist:innen aus dem Globalen Süden, die den menschengemachten Klimawandel nicht losgelöst von kolonialen Kontinuitäten thematisieren, finden sich alternative Beziehungsweisen zur menschlichen und nichtmenschlichen Welt, einer abolitionistischen Sorge um die Welt. Wut, Trauer, Sorge um die Welt, Affekte und Gefühle sind dabei nicht einfach präpolitisch. Sie sind wesentlich in den politischen Kämpfen und Imaginationen des Lebens und Atmens zu verorten.
Dies ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung des Inputs, den Vanessa E. Thompson im Panel „Jedes Leben zählt? Von Trauer und Wut“ der medico-Ringvorlesung Turbulente Psyche(n) gegeben hat.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!
Die Ringvorlesung Turbulente Psyche(n) erkundet globale Affektpolitiken und psychosoziale Kämpfe um Gesundheit und Gerechtigkeit in pandemischen Zeiten. Die Veranstaltungsreihe wagt einen globalen Blick auf neue Subjektivierungen. Sie fragt danach, was die Pandemie mit „uns“ gemacht. Gleichzeitig geht es um die Differenzierung eben jenes „wir“ und dessen extrem unterschiedlichen Formen von Subjektivierung. Wer werden „wir“ geworden sein?