Turbulente Psyche[n]
Affekte und Kämpfe in der Pandemie
Impulse, Diskussionen, Dialoge im Wintersemester 2021/2022 von und mit Cinzia Arruzza [USA], Clemencia Correa [MEX], Elsa Dorlin [FRA], Tobias Matzner [GER], Verónica Gago [ARG], Nadia Mahmood [IRQ], Koketso Moeti [ZA], Rita Segato [ARG], Eva von Redecker [GER], Djamila Ribeiro [BRA], Vanessa Thompson [GER], Mpumi Zondi [ZA]
Die Pandemie ist ein Epochenbruch. Die Ausbreitung des Corona-Virus und die Eindämmungsmaßnahmen haben anderen Krisen massiv verschärft und sich zu einer Polypandemie ausgeweitet. Dies geht auch mit massiven sozialen und psychischen Zerwürfnissen einher: Weltweit sind „Psyche[n]“ in heftige Turbulenzen geraten.
Die Allgegenwart des Virus greift individuelle und gesellschaftliche Verdrängungsmechanismen an, die den Tod aus dem Leben verbannen [sollen]. Resilienzstrategien werden brüchig, Verwundbarkeiten sichtbar – die Macht des patriarchal-kolonial-kapitalistischen Eigentumssubjekts ist phantasmatisch. Auch dessen moralischer Diskurs wird demaskiert: Das „Weiter so“ kann nur ein zerstörerisches sein, ist nur um den Preis rigoroser Ausgrenzung und fortgesetzter Empathie- und Beziehungslosigkeit zu haben.
Der pandemische Bruch gibt auch dem Wunsch nach einer Abkehr von der „alten Normalität“ Auftrieb. Er bestärkt die Suche nach neuen politischen Phantasien. Statt der Verwandlung alles Lebendigen in Eigentum könnte es künftig um das Streben nach Bindung und Beziehung gehen, nach Reziprozität, Gerechtigkeit und Vielfältigkeit. Ist die Pandemie also auch eine Chance, weil veränderte Subjektivierungsformen die Sehnsucht nach lebenswahrenden, solidarischen und emanzipatorischen Politiken wachrufen?
Die Ringvorlesung wird globale Affektpolitiken und psychosoziale Kämpfe um Gesundheit und Gerechtigkeit in pandemischen Zeiten erkunden. Die Veranstaltungsreihe wagt einen globalen Blick auf neue Subjektivierungen. Sie fragt danach, was die Pandemie mit „uns“ gemacht. Gleichzeitig geht es um die Differenzierung eben jenes „wir“ und dessen extrem unterschiedlichen Formen von Subjektivierung. Wer werden „wir“ geworden sein?
Veranstaltungen
16.12.2021
1. Zerbrechlichkeit und Angst. Revolution gegen das Leben
Die Pandemie hat sich nicht zuletzt ausbreiten können, weil einem Großteil der Weltbevölkerung Schutz und Sicherheit versagt bzw. entzogen wird. Die Entfesselung des Neoliberalismus war auch eine Revolution gegen das Leben, die bestehende Schutz- und Solidarsysteme maximal ausgehöhlt hat. Mit der Pandemie fluten Ängste die Gesellschaften – Ängste vor dem Virus, dem Hunger, patriarchaler Gewalt, der Polizei, der Zukunft.
Referent:innen:
Rita Segato (ARG), Mpumi Zondi (ZA)
15.11.2021
2. Einsamkeit, Abwehr, Verwirrung. Gefühlsdynamiken in der digitalen Öffentlichkeit
Die Pandemie verstärkt die dem Kapitalismus eingeschriebene Vereinzelung der Subjekte zu einer Einsamkeit. Diese lässt sichdurch die Digitalisierung des gesellschaftlichen Lebens nur scheinbar überbrücken. Gleichzeitig wird die Sehnsucht nach Kontakt und Beziehung zum gewinnbringenden Datenrohstoff des Überwachungskapitalismus, der zu den großen Gewinnern der Pandemie gehören. Welche Affektdynamiken entstehen in von Algorithmen gesteuerten Öffentlichkeiten? Welche Ansätze eines neuen digitalen Aktivismus ermöglichen lokale wie transnationale Allianzen zwischen den Ausgeschlossenen?
Referent:innen:
Koketso Moeti (ZA), Tobias Matzner (GER)
29.11.2021
3. Jedes Leben zählt? Von Trauer und Wut
Die Pandemie trifft Menschen in prekären Lebensverhältnisse viel stärker als jene, deren Existenz auf umfassende Weise abgesichert ist. Mit der eklatanten Ungleichheit wird die Hierarchisierung von Leben sowie ihrer „Betrauerbarkeit“ sichtbarer. Doch die erlebten Verluste und Ungerechtigkeiten bleiben psychosozial nicht folgenlos. Global formieren sich Widerstand und Protest: Die Black Lives Matter-Bewegung, organisierte Kämpfe von Hausangestellten oder globale Patentkampagnen durchbrechen das öffentliche Schweigen und gesellschaftliche Gleichgültigkeit.
Referent:innen:
Djamila Ribeiro (BRA), Vanessa Thompson (GER)
13.12.2021
4. Wider Patriarchat und Ohnmacht : Für das (Über-)Leben
Die „Schattenpandemie“ patriarchaler Gewalt betrifft Frauen* und Queers über alle Klassen und Grenzen hinweg. Ihr sichtbarster Ausdruck sind Fem[ni]izide. Gegen die Gefahr des Getötet-Werdens und die Ohnmacht solidarisieren sich FLINTA über Kontinente hinweg. Angesichts dessen, was Rita Segato als „Femigenozid“ bezeichnet, der die Ausbeutung und Tötung von feminisierter Körper und Natur gleichermaßen bezeichnet, sind Selbstverteidigungs- und Angriffspraxen bitter notwendig,
Referent:innen:
Verónica Gago (ARG), Elsa Dorlin (FRA)
17.01.2022
5. Fürsorge wider die Ausbeutung
Patriarchale und vergeschlechtlichte Strukturen von Lebens- und Arbeitsverhältnisse verschärfen sich in der Pandemie noch einmal, über Jahrzehnte erkämpfte Fortschritte werden kurzerhand zurückgedreht. Subjektivierungen als „systemrelevant“ treffen auf Ausbeutung und Verschärfung patriarchaler Gewalt. Die Veranstaltung erkundet neue Anerkennungen von Agency und zentrale Stränge aktueller feministischer Ökonomiekritik.
Referent:innen:
Clemencia Correa (MEX), Cinzia Arruzza (USA) Leider musste Cinzia Arruzza absagen. An ihrer Stelle wird Julia Dück [GER] sprechen.
31.01.2022 krankheitsbedingt verlegt auf den 28.02.2022
6. Sehnsucht nach der Revolution für das Leben
Aus den Räumen der Fürsorge und des Widerstands entsteht die Sehnsucht nach einer neuen Welt. Das Streben nach Bindungen und Solidarität gleicht einer Revolution für das Leben, die über Kontinente hinweg Gegenentwürfe erkämpft und lebt.
Referent:innen:
Eva von Redecker (GER), Nadia Mahmood (IRQ)