Zu Besuch bei unseren Partner:innen auf Sri Lanka wurden wir Anfang April ungeahnt und ungeplant zu Zeug:innen der Protestbewegung, die das Land weltweit in die Medien brachte. Gleichsam von einem Tag auf den anderen strömten überall im Land Hunderttausende auf die Straßen und Plätze. Auf einigen größeren und einer Vielzahl kleinerer Versammlungen verlangten sie den Sturz der mit einer kurzen Unterbrechung seit 2006 regierenden Rajapaksa-Familie. Alles sah so aus, als wäre das Ende des Regimes nur noch eine Frage von Tagen.
Am 9. Mai aber, zwei Wochen nach unserer Rückkehr nach Frankfurt, entließ das Oberhaupt der Familie, Präsident Gotabaya Rajapaksa, seinen allseits verhassten Bruder Mahinda und berief einen führenden Oppositionspolitiker zum neuen Premierminister. Fast am selben Tag brachen die Proteste ab. Paradoxerweiser lag das auch an der rasant zunehmenden Verelendung des einstigen „upper middle income“-Landes: den Leuten blieb zum Protestieren buchstäblich keine Zeit mehr. Stundenlang musste und muss man für ein paar Liter Diesel oder Gas anstehen. Stundenlang wird tagtäglich der Strom abgeschaltet. Stundenlang jagt man auch den anderen Gütern des Überlebens hinterher, Reis, Brot, Papier, Medikamenten. Sind sie überhaupt erhältlich, hat sich ihr Preis in kurzer Zeit verdoppelt, in vielen Fällen verdreifacht. Nur folgerichtig, dass vielerorts der Hunger droht.
Nichts geht mehr. Geht nichts mehr?
Auf den Punkt gebracht: Sri Lanka ist pleite. Das Land verfügt über keine ausländische Währung mehr, die Rupie verliert nahezu stündlich an Wert, Notkredite aus Indien oder China reichen gerade noch für die Öl- und Gas-Importe der nächsten zwei Wochen. Die inständigen Bitten des neuen Premierministers Ranil Wickremesinghe um Reis- und Weizenlieferungen verhallen bisher ungehört, die „internationale Gemeinschaft“ hüllt sich in Schweigen. Im Land ahnen mittlerweile viele, dass der im südasiatischen Vergleich hohe Wohlstand der letzten Jahrzehnte selbst dann nicht wiederkehren würde, wenn der Absturz nach ganz unten gebremst oder gar gestoppt werden könnte. Also geht man wieder auf die Straßen und Plätze, so, wie man das Anfang April schon getan hat.
Überall kommen an beliebigen Orten plötzlich 20, 30, 80 Leute zusammen, schlagen mit Kochlöffeln auf blecherne Töpfe, fordern erneut den Rücktritt des Präsidenten, unterstreichen ihre Forderung lautstark mit dem Schlachtruf „Aragalaya!“ – „Kampf!“. Protestiert wird überall, von jungen Männern und Frauen der singhalesisch-buddhistischen Mehrheitsgesellschaft des Südens und Westens, von den deutlich ärmeren, meist hinduistischen Tamil:innen des Nordens und Ostens, von den verstreut im Land lebenden Muslim:innen, die mehrheitlich tamilisch, oft aber auch singhalesisch sprechen.
Neue Horizonte eins
Allerdings waren und sind die Proteste im Süden und Westen zahlenmäßig deutlich stärker und zugleich entschlossener als im Norden und Osten. Das liegt auch daran, dass ihre Sache enger und kompakter ist: Der Präsident soll gehen, das ökonomische Elend soll aufhören. Natürlich wollen das auch die Tamil:innen und die Muslim:innen. Doch ist deren Sache weiter aufgespannt und reicht historisch länger zurück. Tamil:innen und Muslim:innen fordern das Ende dessen, was auf Sri Lanka in englischer Sprache „majoritarianism“ genannt wird: Herrschaft der singhalesisch-buddhistischen Mehrheit über die tamilische und die muslimische Minderheit. Sie fordern, dass ihre Unterdrückung, ihre Verfolgung, ihre systematische Diskriminierung aufhört, dass die Gewalt aufhört, der die Tamil:innen seit Jahrzehnten schon ausgesetzt sind, die Muslim:innen verstärkt in den letzten Jahren. Eine Gewalt, der insgesamt nahezu zweihunderttausend Menschen zum Opfer fielen. Sie alle sind bis heute ungesühnt, weil die für die Massaker vor allem des Jahres 2009 verantwortlichen Rajapaksa-Brüder noch immer an der Macht sind. Weil sie noch 2019, bei den letzten Wahlen, mit fast zwei Dritteln wiedergewählt wurden, auch mit den Stimmen derjenigen, die im Süden und Westen heute den Sturz der Rajapaksa fordern.
Deshalb ist es von gar nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass die „tamilische“ und die „muslimische“ Frage jetzt auch in den Protesten des Südens und des Westens zur Sprache kommen. Am 19. April, dem Tag, an dem die Singhales:innen „normalerweise“ den blutigen Sieg des Jahres 2009 feiern und die Tamil:innen ihre Toten beklagen, fand auf dem noch heute besetzten „Galle Face Green“ an der Küste der Hauptstadt Colombo eine denkwürdige Versammlung statt. An ihr nahmen Tamil:innen, Muslim:innen und Singhales:innen teil. Mit Kerzen gedachten alle zusammen der Toten, buddhistische Priester wuschen den Teilnehmer:innen die Füße. Geteilt wurde aber nicht nur das Gedenken, sondern auch die Forderung nach einer politischen und einer juristischen Aufarbeitung der Gewalt, nach Bestrafung der Schuldigen, derer, die geschossen haben und derer, die ihnen den Schießbefehl gaben. Werden diese Stimmen zahlreicher und lauter, kann sich auch im verarmten Sri Lanka ein neuer Horizont auftun: der Horizont einer multi- oder transethnischen, einer multi- oder transreligiösen Demokratie, die sich ihrer Geschichte stellt.
Neue Horizonte zwei
Die vielleicht nur vorübergehende Unterbrechung der Proteste nach der Ernennung des neuen Premierministers kündet von der Hoffnung aller Sri Lanker:innen auf ein Ende des Elends. Was immer den Oppositionspolitiker Wickremesinghe zum „Seitenwechsel“ gebracht haben mag: Man traut ihm zu, mit der „internationalen Gemeinschaft“ verhandeln zu können, mit Indien, China, mit den USA mit der EU und allen voran mit dem IWF. Doch worüber soll der Premierminister der noch immer so genannten Demokratischen Sozialistischen Republik Sri Lanka verhandeln? Einstweilen bittet er nur um neue Kredite, um Öl, um Reis, um Medikamente. Er bittet auch um die Stundung der Schulden, die Sri Lanka sowieso nicht zurückzahlen kann. Indien ist willig, verlangt aber Gegenleistungen. China ist zurückhaltend, es heißt, die kommende Weltmacht habe ihr Interesse von Süd- auf Südostasien verlagert. Die USA halten sich freundlich bedeckt, die EU ist sowieso nicht ganz so wichtig. Zwar sind sie alle an den Häfen interessiert, die auf Sri Lanka bereits im Bau bzw. in der Planung sind: An der Insel kreuzen sich alle Handelswege des Indischen Ozeans. Aber keine Macht der Welt ist zur bedingungslosen Streichung der Schulden bereit.
Eben das war eine Hauptforderung der Antiglobalisierungsbewegungen der frühen 2000er Jahre. Dass diese Forderung heute neu ins Spiel gebracht werden muss, darin waren wir mit allen einig, die wir im März und April auf Sri Lanka gesprochen haben. Neue Horizonte öffnet diese Forderung nicht nur dort, sondern weltweit. Insofern steht Sri Lanka stellvertretend für viele andere Länder des Globalen Südens.
Neue Horizonte drei
Seinen Partner:innen auf Sri Lanka ist medico seit dem Tsunami 2004/2005 verbunden, viele arbeiten als Menschenrechtsaktivist:innen in Colombo, die meisten aber im tamilischen Norden. Von unserer Reise haben wir von dort auch einen Vorschlag zur Schaffung von Alternativen mitgebracht. Darin geht es um ein Dorf, das auf einem Streifen sonnendurchglühten Buschlands entstehen soll, der den tamilischen Namen Kannaaddy trägt. Das Dorf soll eine „Insel der Vernunft“ werden, in dem bei medico zugleich wortwörtlich wie übertragen gemeinten Sinn. In Bau sind bereits mehrere Lehmhäuser für seine künftigen Bewohner:innen, die dort schon einen Brunnen angelegt haben, für sich, für ihre Ziegen und Hühner, zur Bewässerung von in Permakultur anzulegenden Gemüsegärten. In der Mitte des Dorfes soll ein größeres Gebäude stehen, das Männer und Frauen beherbergen kann, die dort in mehrtägigen, vielleicht auch -wöchigen Aufhalten ökologischen Landbau und eine Lebensweise lernen wollen, mit der sie sich in ein freies Verhältnis zur Natur – und zu der Krise setzen können, die ihr vom globalen Kapital aufgeherrscht wurde. Über den Horizont, der sich hier öffnen könnte, reden wir jetzt mit unseren Partner:innen. Und natürlich: Der amtierende Präsident Gotabaya Rajapaksa wird gehen müssen, jetzt oder in ein paar Wochen.
medico unterstützt seit dem Tsunami 2004/05 Menschenrechtsaktivist:innen in Colombo und soziale Projekte im tamilischen Norden Sri Lankas.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!