Der Monat Ramadan ist in Palästina und Israel jedes Jahr eine angespannte Zeit, in der die israelische Regierung Maßnahmen ergreift, um den Zugang von Palästinenser:innen zu Jerusalem und insbesondere zum Haram al-Sharif (Tempelberg) und zur Al-Aqsa-Moschee einzuschränken und zu reglementieren. Dieses Jahr ist das besonders ausgeprägt, weil die erwarteten – wenn auch noch raueren – Feindseligkeiten vor dem Hintergrund einer anhaltenden Situation im palästinensischen Viertel Sheikh Jarrah in Ost-Jerusalem stattfinden.
Seit fast zehn Jahren versuchen einzelne Israelis, unterstützt von Siedlergruppen und ausländischen Geldgebern, den Obersten Gerichtshof Israels zu nutzen, um Dutzende Palästinenser:innen unter dem Vorwand zu vertreiben, dass es sich vor 1948 um jüdische Häuser handelte und die derzeitigen Bewohner:innen sich weigerten, Miete zu zahlen. Tatsächlich geht es diesen Siedlergruppen aber um das immer gleiche Ziel, nämlich eine jüdische demographische Mehrheit in ganz Jerusalem zu erreichen und Stück für Stück wichtige Stadtteile Ost-Jerusalems zu übernehmen. Dafür setzen sie einfach eine neue Taktik und einen neuen Mechanismus ein, den es andersherum nicht gibt: Palästinenser:innen haben im Gegensatz zu Jüdinnen und Juden keine Möglichkeit, Häuser, die sie 1948 verloren haben, zurückzufordern.
Ein gefährlicher Präzedenzfall
Die Gerichte haben sich in diesen zehn Jahren auf die Seite der israelischen Ansprüche gestellt und zahlreiche Familien zwangsräumen lassen. Den letzten verbliebenen palästinensischen Familien wurde in der vergangenen Woche vom Gericht ein „Kompromiss“ angeboten: Sie konnten zustimmen, ihr Haus an einen Siedler zu übergeben, wenn die jeweiligen Familienältesten sterben, oder sie werden jetzt zwangsgeräumt. Sie weigerten sich. Das Gericht sollte eigentlich am 11. Mai eine endgültige Entscheidung fällen, entschied sich aber, dies bis zur zweiten Juniwoche zu verschieben. Das sollte der israelischen Polizei und Grenzpolizei Zeit verschaffen, die Proteste zu zerschlagen. Weiter wurde vermutlich gehofft, die internationale Gemeinschaft würde ihre Aufmerksamkeit zwischenzeitlich auf andere Probleme richten und abgelenkt sein.
Die Bedeutung von Sheikh Jarrah liegt für Palästinenser:innen viel mehr in der Symbolik als in den tatsächlichen Häusern dieses kleinen Stadtviertels. Sie sehen den aktuellen Vorgang als einen offensichtlichen und gefährlichen Präzedenzfall. Die Angst vor einer größer angelegten Vertreibung, ob explizit oder schleichend durch dieses fassadenhafte Gerichtsverfahren, ist im Moment sehr groß. Menschenrechtsgruppen weltweit haben die Angelegenheit in Sheikh Jarrah angeprangert und westliche Regierungen und internationale Organisationen dazu aufgefordert, zu intervenieren und zu verhindern, was sie als unverhohlene Zwangsumsiedlung von Palästinenser:innen bezeichnen.
Lange gärender Konflikt
Für den größten Teil der letzten 10 Jahre haben in Sheikh Jarrah wöchentlich Demonstrationen stattgefunden, aber die jüngsten Entwicklungen um das Viertel und Jerusalem als Epizentrum der israelischen Unterbindung von Zugang und religiöser Praxis palästinensischer Gläubiger, haben die beiden Bewegungen zu einer verschmelzen lassen. Sheikh Jarrah ist in aller Munde.
Im vergangenen Monat gab es täglich zahlreiche Zusammenstöße zwischen israelischen Siedler:innen und Palästinenser:innen in Sheikh Jarrah und einen massiven Einsatz der israelischen Grenzpolizei (Magav) und Polizei, um gegen die palästinensische Präsenz in der Gegend vorzugehen. Lokale Palästinenser:innen haben Aktionen wie straßenweite Iftar-Essen zum Ende des täglichen Fastens organisiert, die von Siedler:innen, Grenzpolizei und Soldat:innen angegriffen wurden. Rechte israelische Politiker haben zusammen mit Siedler:innen und der Polizei Sitzstreiks veranstaltet und ihre Unterstützung für die fortwährende gewaltsame Vertreibung von Palästinenser:innen aus dem Viertel verkündet.
Aus palästinensischer Sicht repräsentiert Sheikh Jarrah das wahre Gesicht Israels: ein Regime, das entschlossen ist, die palästinensische Präsenz speziell aus Jerusalem, aber potenziell auch aus den übrigen besetzten Gebieten gewaltsam zu entfernen. Palästinenser:innen im gesamten Westjordanland und im Gazastreifen organisierten Solidaritätsmärsche, die an jedem Ort einige hundert Menschen anzogen, mit einer einfachen Botschaft: #SaveSheikhJarrah. Sheikh Jarrah verkörpert und repräsentiert mittlerweile die palästinensische Erfahrung. Das Zeigen von Unterstützung ist ein Mittel zur Ablehnung der israelischen Politik.
Eine Demonstration in Haifa
Am Sonntag, in Vorbereitung auf den Jerusalem-Tag – ein jährliches Ereignis, bei dem Tausende von nationalistischen israelischen Jüdinnen und Juden durch die Altstadt paradieren und palästinensische Bewohner:innen terrorisieren – organisierten Palästinenser:innen Märsche und Proteste nicht nur in den besetzten Gebieten, sondern auch innerhalb Israels. Ich war an diesem Tag zu Gesprächen mit medico-Partnerorganisationen in Haifa und wurde auf eine Demonstration aufmerksam, die nur ein paar Blocks von meiner Unterkunft entfernt stattfand. Die Demonstration fand auf der Ben Gurion Street im Viertel German Colony statt, die auf die berühmten Bahai-Gärten zuläuft und von zahlreichen Bildern Haifas bekannt ist. Israelische Grenzpolizei und reguläre Polizei versuchten, die Teilnehmer:innen schon bevor der Marsch wirklich begann, auf einen kleinen Block der Durchgangsstraße zu beschränken.
Die Demonstrant:innen sangen Protestlieder und schwenkten zahlreiche palästinensische Flaggen, was selbst in Haifa – obwohl Palästinenser:innen dort 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen – als extrem provokant und subversiv angesehen wird. In der Vergangenheit haben Knesset-Abgeordnete mehr als einmal versucht, ein Gesetz durchzubringen, das die palästinensische Flagge in Israel verbietet und Verstöße mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft.
Die Demonstrant:innen beschlossen auszutesten, wie weit sie die Straße rauf und runter marschieren konnten, waren aber schnell mit einer Mauer aus Grenzpolizist:innen konfrontiert. Sie schafften es trotzdem, ihren Protest auf fünf Blocks auszuweiten. Sie schwenkten Fahnen und riefen Slogans wie „von Haifa bis Sheikh Jarrah, unser Kampf ist eins“ und „Freiheit für alle Palästinenser:innen“. Als die Zahl der Protestierenden auf bis zu 1000 anwuchs, die zwischen diesen fünf Blocks marschierten, begann die israelische Grenzpolizei, Konfrontationen anzuzetteln, Schläge und Verhaftungen wurden häufiger, dazu flogen Blendgranaten. Ihre Explosionen verursachen zwar nur geringe körperliche Schäden, aber einen ohrenbetäubenden Lärm. Die Menschen zerstreuten sich zunächst, kehrten aber schließlich zurück, um den Marsch fortzusetzen. Dieses Hin und Her dauerte weitere zwei Stunden, mit größeren Auseinandersetzungen hier und da und dem Einsatz von Gummigeschossen durch die Grenzpolizei.
Insgesamt wurden mehr als 20 Menschen verhaftet und etwa ein Dutzend verletzt. Am nächsten Tag vertraten Anwält:innen der langjährigen medico-Partnerorganisation Adalah die Mehrzahl der Festgenommenen vor Gericht. Sie wurden zwar gegen Kaution freigelassen, sind aber wegen der Teilnahme an einer illegalen Demonstration angeklagt.
Überwacht und passiv: Ramallah
In Ramallah waren die Proteste am Sonntag extrem zahm, allgemein gehalten und überwacht von der Palästinensischen Autonomiebehörde. Am Montag hingegen waren die Proteste kleiner, aber viel radikaler. Weder die Hamas noch andere islamische Gruppierungen hatten damit zu tun, aber der Protest war definitiv militanter. Als die Sprechchöre anfingen, sich gegen Abbas zu richten, wurde die Datenverbindung des palästinensischen Providers Jawwal für 10-15 Minuten unterbrochen. Und als der Protest von seinem üblichen Weg abwich und in Richtung des Hauptquartiers des Präsidenten ging, wurden die Demonstrant:innen von der palästinensischen Polizei empfangen, die Menschen verprügelte und festnahm.
Solange Ramallah – sowohl die Menschen hier als auch die Institutionen – passiv bleibt, ist nicht viel zu erwarten, was aus dieser Situation entstehen kann. Ähnliches können wir in Bezug auf die eskalierende Situation zwischen der israelischen Armee und bewaffneten Gruppen im Gazastreifen beobachten. Während es auch in israelischen Städten Demonstrationen gegen die Gewalt gibt, bleibt Ramallah stumm.
medico-Partnerorganisationen in Palästina und Israel verteidigen die Menschenrechte, leisten medizinische Nothilfe in Gaza, Rechtsbeistand in Israel und setzen sich für eine politische Perspektive ein, die allen Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer gleiche Rechte garantiert.