Vieles von dem, was sich derzeit im Gazastreifen und in Israel abspielt, erinnert an 2014, als es zur letzten großen bewaffneten Auseinandersetzung zwischen militanten palästinensischen Gruppen und der israelischen Armee kam. Oder an 2012. Oder an 2008/2009. Oder an die gewalttätige zweite Intifada und ihre brutale Niederschlagung. Oder, oder, oder. Der Punkt ist, dass die sich wiederholende Gewalt nichts zum Guten verändert hat, nicht für die israelische und ganz sicher nicht für die palästinensische Seite. Das hat sie nie vermocht.
Nun folgt die Entscheidung der Hamas, Israel mit Raketen zu beschießen, einer gewissen politischen Logik: Vermutlich erhofft sie sich, ähnlich wie schon bei den Protesten des Großen Marschs der Rückkehr, ihre Unterstützung in der Bevölkerung zu erhöhen und sich als die letzte organisierte Bastion des palästinensischen Widerstands gegen Besatzung, Siedlungspolitik und die vollständige israelische Übernahme Jerusalems darzustellen. Sie setzt sich damit von Mahmoud Abbas, seiner Fatah und der von ihnen dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ab, die von vielen schon lange nur noch als Subunternehmer des Besatzungsregimes wahrgenommen werden. Proteste in Ramallah, die sich in Solidarität mit den von Zwangsumsiedlung Bedrohten in Jerusalem plötzlich auch gegen Abbas, die PA und deren Untätigkeit wendeten, ließ er niederschlagen. Proteste wegen der Eskalation in Gaza schienen in Ramallah wiederum stark von palästinensischer Polizei in Zivil eingehegt zu werden, um ja keinen kritischen Ton gegen die herrschende Fatah aufkommen zu lassen. Die Führung in Ramallah verhält sich ansonsten auffallend still, was die derzeitige Eskalation und die Situation in Gaza angeht. In israelischen Städten wurde energischer gegen die Politik der Regierung Netanjahu protestiert.
Auf Grund der Vertreibung und Flucht von 80 Prozent der palästinensischen Bevölkerung bei der Staatsgründung Israels ist das Thema der Zwangsumsiedlungen historisch und politisch extrem aufgeladen, umso mehr wenn sie sich am für viele – und keineswegs nur gläubige – Palästinenser:innen symbolträchtigsten und wichtigsten Ort abzuspielen drohen: Jerusalem. Im Stadtteil Sheikh Jarrah vollzieht sich, ähnlich wie im unweit gelegenen Silwan, ein Prozess der mehr oder minder schleichenden, aber dennoch offensichtlichen Übernahme mehrheitlich palästinensisch besiedelter Stadtteile durch Siedler:innen. Neben systematisch verweigerten Baugenehmigungen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung und dem Druck durch Siedlerorganisationen und Sicherheitskräfte kommen Gerichtsverfahren und der Ankauf von Häusern (mitunter durch arabische Strohmänner) hinzu. Gewalt gehört hier zum Alltag.
An die Hamas als selbsternannte Hüterin der Heiligen Stätten in der Stadt gibt es in Teilen der palästinensischen Bevölkerung die Erwartung, dass sie Israel bekämpft, wenn es um diese rote Linie geht. Allerdings tangieren die Wünsche und Erwartungen der Bevölkerung die Machthaber in Gaza ansonsten auch wenig. Ihr Kalkül erweist sich buchstäblich als fatal – und dies in der Regel nicht für sie selbst, sondern größtenteils für die ungeschützte Zivilbevölkerung. Selbst wenn der Schlagabtausch mit dem israelischen Militär zusätzliche Stimmen sichern sollte – bei welchen Wahlen sollte die Hamas die gewinnen? Es gibt auf unbestimmte Zeit keine Wahlen. Abbas in Ramallah ist nicht bereit, den Sessel zu räumen. Und das wissen sie auch in Gaza. Sie können auch nicht so naiv sein zu glauben, dass sich für Mahmoud Abbas wegen des Drucks aus Gaza neue Möglichkeiten eröffnen werden, die Situation entscheidend zu beeinflussen.
Sicher, wie in der Vergangenheit geht die Gewalt mit Forderungen einher: Israel soll seine bewaffneten Kräfte vom Haram al-Sharif (Tempelberg) abziehen, die Zwangsräumung bedrohter palästinensischer Familien in Sheikh Jarrah einstellen und Siedler:innen evakuieren. Natürlich verlangt die Hamas auch die Aufhebung der Abriegelung des Gazastreifens. Teils gleichlautende Ziele hat sie aber schon in früheren bewaffnet ausgetragenen Konflikten mit dem israelischen Staat nicht erreicht. Im Gegenteil, die Gewalt hat nichts zum Besseren gewendet. Auch wenn sie sich politisch für Teile der palästinensischen Bevölkerung als der einzige Widerstand profiliert haben mag, droht wieder einmal, dass das Ergebnis am Ende nur sein wird, die eigene Position mit Waffengewalt bekräftigt zu haben – und dass dutzende Familien in Palästina und Israel ihre Toten betrauern und ihre Verstümmelten beweinen werden.
Gleichzeitig, auch dies nichts Neues, greift das israelische Militär mit großer Härte Ziele im Gazastreifen an. Auf Grund der militärischen Asymmetrie sind dabei die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung auf palästinensischer Seite immer um ein Vielfaches höher. Und weil das israelische Militär extrem hochgerüstet ist, kommt es zu massiver Zerstörung ziviler Infrastruktur. Und auch hier kennen wir das eingespielte Verhalten und die Reaktionen der harten Hand aus der Vergangenheit: Vereinzelt gewalttätiger Widerstand gegen Landraub und Siedlungsbau wird mit noch mehr Landraub und Siedlungsbau durch den israelischen Staat beantwortet. Oder wie in Hebron: Siedlergewalt gegen Palästinenser:innen wird mit weiteren Einschränkungen gegen die betroffenen Opfer – und dies heißt mit staatlicher bzw. militärischer Gewalt – „beantwortet“.
Diese Art, Konflikte auszutragen, kennt letztlich nur Verlierer (selbst wenn sich einige als Gewinner fühlen mögen). Wenig überraschend erweisen sich Hamas und Fatah – beide auf ihre Art – als destruktive Akteurinnen. Und die israelische Regierung verspürt keinerlei Grund, weder eine Motivation noch einen Druck, die strukturelle und ganz konkrete Gewalt ihrer Siedlungs-, Abriegelungs- und Diskriminierungspolitik zu ändern.
In der jetzigen Lage, in der sich keine Seite fähig oder willens zeigt, das Feuer einzustellen, gibt es keine offensichtliche und konstruktive Option zur „Lösung“ des Konflikts. Es kann jetzt unmittelbar nur darum gehen, den Verlust weiteren Lebens aufzuhalten. Jeder Mensch hat das Recht auf ein friedliches Leben in Würde und Freiheit – und zwar ohne Ansehen etwaiger Identitäten und Zugehörigkeiten. Jeder bedeutet jeder. Solidarität mit den Opfern von Krieg und Gewalt kennt keine "Rasse" oder Religion. Das Ringen um Gleichberechtigung kann sich prinzipiell nur auf alle Menschen erstrecken. Wer diesen elementaren Grundsatz nicht verstanden hat, dessen Solidarität wollen auch unsere Partner:innen von Khan Younis bis Haifa, von Jaffa bis Jericho nicht haben. Wer vor Synagogen israelische Fahnen verbrennt oder in anderer Form antisemitisch handelt, dessen Solidarität brauchen unsere palästinensischen Kolleginnen und Freunde nicht.
medico-Partnerorganisationen in Palästina und Israel verteidigen die Menschenrechte, leisten medizinische Nothilfe in Gaza, Rechtsbeistand in Israel und setzen sich für eine politische Perspektive ein, die allen Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer gleiche Rechte garantiert.