Israel

Sicherheit statt Demokratie

30.03.2020   Lesezeit: 7 min

Im Schatten der Pandemie droht eine Autokratie.

Von Katja Maurer

Von Katja Maurer

Angesichts der Bedrohung durch das Corona-Virus wird momentan auch in Israel das Verhältnis zwischen dem legitimen Bedürfnis der Bevölkerung nach Schutz auch durch staatliche (Zwangs)maßnahmen und den Folgen dieses staatlich verhängten Ausnahmezustands für die demokratische Verfasstheit und das Menschenrecht ausgehandelt. Anders als anderswo aber durchzieht eine Debatte zwischen Sicherheit und Demokratie das Fundament der israelischen Gesellschaft von Anfang an: Sie bewegt sich zwischen einem historisch begründeten Bedürfnis nach Schutz und dessen politischer Instrumentalisierung. Der Staat mit dem Auftrag, sich nach der Shoah als sichere Heimstatt für alle Jüd*innen zu erweisen, hat die Sicherheit im Zweifelsfall meist über alle anderen proklamierten Werte gestellt. So wurde der seit 1948 geltende Ausnahmezustand immer wieder durch angeblich temporäre, dann aber für Jahrzehnte geltende Maßnahmen ergänzt und verschärft. In diesem Sinne existiert Israel in einem fortlaufenden Pandemie-Zustand, der eigentlich unhintergehbare Normen zu einer verhandelbaren Masse einer auf Sicht fahrenden Politik macht. Um welche Sicht aber handelt es sich dabei?

Die gegenwärtige Regierungs- und Demokratiekrise in Israel erscheint jedenfalls als ein Produkt dieses andauernden Ausnahmezustands. Ministerpräsident Netanyahu fährt auf Sicht: auf seine Sicht. Er nimmt mitten in der Corona-Krise das ganze Land in Geiselhaft, um seinen Gerichtsprozess wegen Korruption zu verhindern. Nach drei Parlamentswahlen innerhalb weniger Monate, in denen er nie die parlamentarische Mehrheit erreichte, erklärte er nun die Stimmen der drittstärksten Kraft der Knesset für nicht gültig, weil diese zum großen Teil arabische Wähler*innen vertreten würde. Er verfüge also über eine „jüdische“ Mehrheit in der Knesset.

Knesset-Sprecher Edelstein verhinderte die Einberufung der Knesset und die Einrichtung von Parlamentsausschüssen, die auch die Corona-Maßnahmen kontrollieren sollten, mit hanebüchenen Argumenten: Er werde nicht zulassen, dass Israel sich in Richtung Anarchie und Bürgerkrieg bewege. Am Tag, als er auf Entscheidung des letzten derzeit noch funktionierenden Gerichts – alle anderen wurden in einem Handstreich wegen Corona von der Netanyahu-Regierung geschlossen – die Knesset einberufen sollte, trat er zurück und verhinderte so, dass das Parlament tagen konnte. Trotz Corona kam es deshalb zu Protesten vor dem israelischen Parlament. Demonstrant*innen trugen schwarze Fahnen, um die Demokratie zu beerdigen. Der Vorgang kennzeichnet einen historischen Tiefstand in der israelischen Politik. Der fundamentale Streit endete wie das Hornberger Schießen: Der ehemalige General Gantz, Chef der ebenfalls rechten Oppositionspartei Blau-Weiß, begab sich in eine Regierung mit Netanyahu und rettete so den Ministerpräsidenten. 

Ein perfektioniertes Big Brother

Für Gantz‘ Verhalten gibt es sicher vielfältige Gründe. Einer dürfte das autoritäre Handling der Corona-Krise sein, die Israel mit einer Komplettüberwachung der Bevölkerung „gut“ im Griff hat. Der Geheimdienst Shin Beth hat Zugang zu allen digitalen Daten der israelischen Bevölkerung, verfolgt jede/n Infizierten und seine Umgebung, erstellt ein Bewegungsprofil der Kranken und ihrer Kontakte und zwingt alle, die sich für eine bestimmte Dauer in der unmittelbaren Umgebung aufgehalten haben, zur Einhaltung einer strikten Quarantäne zu Hause. Die Software des Geheimdienstes ist äußerst erprobt, denn sie kommt seit vielen Jahren in der Westbank und im Gaza-Streifen zum Einsatz. Damit ist allen, die sich das noch nicht ausgemalt haben, klar, welch ein elektronischer Überwachungsstaat in den besetzten Gebieten installiert wurde. Ein gesetzwidriger Horror, der jetzt auch zum „Schutz“ der eigenen Bevölkerung eingesetzt wird. Mittlerweile gibt es Hinweise, dass sich der Shin Beth noch ganze andere Informationen über seine Bürger*innen auf diesem Weg sichert, zum Beispiel alle Telefongespräche.

Dieser digitale Überwachungsapparat, gegen den „Big Brother is watching You“ lächerlich ist, befindet sich in der Hand von Politikern wie Netanyahu oder Edelstein, für die offenkundig nur ihr eigenes Recht gilt. Ihr Versuch, die parlamentarische Demokratie außer Kraft zu setzen, hatte eine Welle der Empörung in Israel ausgelöst. Moderiert von der Fernsehjournalistin Lucy Aharish, einer Palästinenserin aus Israel, kam es zu einer Internetdemonstration, die ihresgleichen sucht. Die außerparlamentarische Bewegung „Darkenu“ (Unser Weg) organisierte unter dem Slogan „Wir kämpfen um unser Zuhause“ online eine Versammlung, an der sich via Facebook 65.000 Menschen beteiligten, und per Video Statements abgaben. Es gab Reden und musikalische Darbietungen. Fast 600.000 Menschen schauten sich das an und gaben Kommentare ab, in denen sie ihren Unmut über die antidemokratische Politik äußerten. Nach der Aktion wurde Lucy Aharish, die als erste palästinensische Nachrichtensprecherin in Israel einen großen Bekanntheitsgrad genießt, allerdings von ihrem Posten beim Fernsehen entbunden. Wie viele, die in der Veranstaltung offen ihre politische Haltung kundgaben, wird sie mit solchen Sanktionen gerechnet haben. „Wenn die Zahl der Toten wegen des Coronavirus eines Tages gezählt werden“, schrieb Gershom Gorenberg in der Washington Post im März 2020, „könnte die israelische Demokratie als erstes Opfer der Epidemie eingehen.“

Was Gaza droht

Auch wenn die israelische Regierung unter Netanyahu wie alle neoliberalen Regierungen eine systematische Privatisierungs- und Kahlschlagpolitik im Gesundheitswesen betrieben hat, ist das Gesundheitswesen in der Westbank und im Gaza-Streifen noch viel weniger auf die Pandemie vorbereitet. Mit jedem neuen Corona-Fall, der beispielsweise aus dem Gaza-Streifen gemeldet wird, wächst dort die Angst. Sollte sich das Virus verbreiten, trifft es auf ein Gesundheitswesen, das nach 13 Jahren Abriegelung durch Israel bereits ohne Pandemie vor dem Kollaps steht. Für komplizierte Operationen und schwierige Behandlungen müssen Einwohner*innen ihre Gesundung schon jetzt außerhalb Gazas suchen. Krankheit ist einer der wenigen Gründe, warum es überhaupt möglich ist, den Gaza-Streifen zu verlassen. Niemand kann sich ausmalen, was passiert, wenn in der Enklave, die als eine der am dichtest besiedelten Regionen der Welt gilt, die Pandemie ausbricht. Aufgrund der Lebensumstände in der Abriegelung träfe das Virus auf eine zwar junge, unter den gegebenen Umständen gesundheitlich aber extrem vulnerable Bevölkerung. Quarantäne-Maßnahmen oder das Einfrieren sozialer Kontakte sind hier auch aufgrund der psychosozialen Belastungen nur sehr schwer durchführbar.

Republikanische Ermächtigung

Das große politische Panorama offenbart aber auch positive Seiten. So arbeiten die Gesundheitsbehörden in Israel und in den besetzten Gebieten angesichts der drohenden Katastrophe zusammen. Ein wichtiger Anteil der Pflegekräfte und Ärzt*innen in israelischen Krankenhäusern, sind Palästinenser*innen.

Vielleicht also trifft auch die Hoffnung des israelischen Schriftstellers David Grossman zu, der in seinem Corona-Tagebuch fragte, ob es nicht sein könnte, „dass Menschen, die solch einer tiefgreifenden Erfahrung ausgesetzt waren, danach nationalistische Positionen sowie alles, was sich absondert, verschanzt und Ängste vor dem Fremden schürt, vehement zurückweisen?“. Und auch der aus Israel stammende Bestseller-Autor Yuval Noah Harari verweist angesichts der israelischen Erfahrung auf die grundlegende Frage, vor der die Politik und die Gesellschaft im Corona-Angesicht stehen: „In dieser Krise sehen wir uns vor zwei besonders wichtige Entscheide gestellt: Erstens jenen zwischen totalitärer Überwachung und republikanischer Ermächtigung der Bürger. Zweitens jenen zwischen nationalistischer Isolation und globaler Solidarität.“ Er glaubt, dass man die Gesundheit schützen und die Epidemie stoppen könne, indem „wir den Bürgern nicht ein totalitäres Überwachungsregime aufzwingen, sondern sie ermächtigen“. Dazu brauche es „Fakten und Vertrauen“. Über Jahrzehnte untergrabenes Vertrauen lasse sich nicht schnell wiederaufbauen. Aber in einer Krise wie dieser „ändert sich das Denken schnell“.
 

Alle medico-Partner*innen versuchen auf die Situation zu reagieren und Communities vor Ort zu unterstützen. Einige Beispiele: Die mobilen Kliniken von PMRS (Palestinian Medical Relief Society) in der Westbank klären die Menschen vor allem in den abgelegenen Dörfern und Gemeinden, die durch Einschränkung des öffentlichen Transports jetzt noch isolierter sind, über Gefahren und Schutzmöglichkeiten auf. Ihre Behandlungen setzt das Klinikpersonal, soweit möglich, mit Schutzkleidung fort. Ähnliches leistet PMRS in Gaza. Unser Partner Culture & Free Thought Association leistet im Süden von Gaza Telefon-Seelsorge und engagiert sich gemeinsam mit anderen NGOs und dem Gesundheitsministerium in der Unterstützung der Menschen in den Quarantäne-Einrichtungen. Die Physicians for Human Rights in Israel halten den Betrieb ihrer offenen Klinik in Jaffa für Geflüchtete und Papierlose aufrecht. Trotz der logistischen Schwierigkeiten – viele der Mitarbeiter*innen sind Rentner*innen und gefährdet – wird geprüft, wie die Klinik besser palästinensische Arbeiter *innen aus der Westbank erreichen kann, die aufgrund der Sperren in Israel  bleiben müssen, aber keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben. 

Spendenstichwort: Israel-Palästina


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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