Polen/Belarus

„Mein Kopf zerspringt“

23.11.2021   Lesezeit: 4 min

Menschen, die es nach Polen geschafft haben, berichten von ihren Gründen zu fliehen und den Qualen des Wegs über die Grenze.

Von Ramona Lenz

„Refugees are tired and need peace“, steht am Eingang der Flüchtlingsunterkunft der Fundacja Dialog in der Nähe des Bahnhofs von Bialystok, einer 300.000-Einwohner:innen-Stadt nahe der Grenze zu Belarus. Zu viele Journalist:innen aus aller Welt, denen der Zugang zu Flüchtlingen im Grenzgebiet verwehrt wird, haben sich in letzter Zeit an die christliche Einrichtung gewandt, um wenigstens hier mit Menschen sprechen zu können, die über die belarussisch-polnische Grenze ins Land gekommen sind. Bis es den Menschen irgendwann zu viel wurde und die Leitung der Einrichtung das Schild an die Tür hängte. Als Hilfsorganisation dürfen wir trotzdem rein.

Im Flur toben Kinder. Ein Junge schiebt seine kleine Schwester im Kinderwagen auf und ab – so schnell er kann. Die beiden haben noch drei Geschwister, die ebenfalls im Gang herumspringen. Alle fünf sind Kurd:innen, die kürzlich mit ihren Eltern aus dem Irak nach Polen gekommen sind. Hat die christliche Einrichtung in den letzten zwanzig Jahren vor allem um Obdachlose in Polen betreut, kümmert sie sich seit einigen Monaten auch um die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen, die über die polnische EU-Außengrenze ins Land kommen. Der im Vergleich zu anderen polnichen Organisationen ziemlich einzigartige Schwerpunkt der Arbeit liegt auf besonders vulnerablen Menschen, vor allem solchen mit psychischen Problemen. Sie geben ihnen eine Unterkunft, Essen und organisieren gegebenenfalls juristischen und psychologischen Beistand.

Mit zwei Neuzugängen, die noch nicht müde und enttäuscht sind von Gesprächen mit internationalen Besucher:innen, dürfen wir reden. Der etwa 50jährige Hakim kommt aus Syrien. Zusammen mit seinem Bruder Hassan hat er ein Visum für Belarus beantragt und ist schließlich vor zwei Wochen nach Minsk geflogen, um von dort aus in die EU weiterzureisen. Mit dem, was sie an der Grenze erwartete, haben die beiden Brüder jedoch nicht gerechnet. Zehn Tage haben sie im Wald zwischen Polen und Belarus verbracht. Sie hatten nichts zu essen und nur schmutziges Wasser zu trinken. Zehn Kilo hat Hakim in dieser Zeit verloren. Immer wieder hätten belarussische Soldaten sie gezwungen, in Richtung Grenze zu laufen und die Grenzanlagen zu stürmen. Von polnischer Seite seien sie jedoch jedes Mal zurückgedrängt worden. Er weiß von einem, der im Grenzfluss ertrunken ist, und von einem anderen, der mit gebrochenem Bein zum Weiterlaufen gezwungen wurde.

In ihrer Verzweiflung hätten sein Bruder und er schließlich darum gebeten, nach Syrien zurückreisen zu dürfen, doch die Belarussen hätten das nicht erlaubt. Als er sich vor Kälte und Schmerzen nicht mehr habe bewegen können, hätten polnische Grenzwächter ihn und seinen Bruder schließlich eingesammelt und dafür gesorgt, dass sie von der Fundacja Dialog aufgenommen wurden. Immer wieder streicht sich Hakim übers Gesicht, während wir sprechen, so als könne er nicht glauben, dass er noch am Leben ist. „Mir tut noch immer mein ganzer Körper weh und ich habe das Gefühl, mein Kopf zerspringt“, sagt Hakim. „Vor zwei Tagen dachte ich noch, ich sterbe, und jetzt bin ich plötzlich in Sicherheit. Ich komme mit all dem noch nicht klar.“

Mîro ist Kurde aus dem Nordirak. Zusammen mit seiner schwer kranken und schwangeren Frau Semra ist auch er über Belarus nach Polen geflohen und hat viele Tage im Wald verbracht. Die beiden haben sich auf den Weg gemacht, weil sie wie so viele andere, die in den letzten Wochen und Monaten nach Europa geflohen sind, im Irak keine Perspektive mehr für sich gesehen haben. „Wir hatten dort nichts mehr, kein Essen, kein Haus und vor allem keine medizinische Versorgung.“ Semra hat Krebs, Kopf, Hals und Brust sind von Tumoren befallen. Mîro zeigt uns eine dicke Mappe mit Arztberichten und Röntgenaufnahmen. Im Irak konnten sie die Behandlung nicht mehr bezahlen. „Sie wollten 1.500 Euro von uns, nur damit wir das Krankenhaus betreten dürfen.“ Die beiden hoffen nun auf das europäische Gesundheitssystem. Auch Mîro und Semra hatten eine furchtbare Zeit im Grenzgebiet. Als Semra schließlich entkräftet zusammenbrach, waren es wiederum polnische Grenzschützer, die die Fundacja Dialog in Bialystok informieren, bei der das Paar dann untergebracht werden konnte. Semra wurde inzwischen allerdings ins Krankenhaus eingeliefert. Sie soll in diesen Tagen ihr Baby bekommen, das erste. Seit zwölf Jahren hofft das Paar darauf.

Der Vater der Kinder auf dem Flur hat alle fünf eingesammelt, als wir wieder gehen, und versucht, sie zur Ruhe zu bringen. Seine Frau ist im Krankenhaus. Sie war schwanger und hat das Kind verloren. Morgen ist die Beisetzung. Alle in der Unterkunft der Fundacjon haben Fürchterliches erlebt, an ihren Herkunftsorten wie auf der Flucht. Wenigstens temporär haben sie nun einen sicheren Ort gefunden. Doch was wird aus den anderen, die noch da draußen im Wald sind? Heute hat es angefangen zu schneien.

Ramona Lenz (Foto: medico)

Ramona Lenz ist Sprecherin der Stiftung medico. Über viele Jahre war die Kulturanthropologin in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für das Thema Flucht und Migration.

Twitter: @LenzRamona


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