Auf der Flucht

Rom:nja erleben Rassismus und Diskriminierung

06.04.2022   Lesezeit: 10 min

Interview mit Dr. Joanna Talewicz-Kwiatkowska * über die Situation von Rom:nja, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen.

„Unterstützung für die Ausgegrenzten unter den Ausgegrenzten“, so bezeichnete ein Aktivist in Polen sein Engagement mit den Geflüchteten. Auch in unserer medico-Arbeit zur Ukraine geht es darum, diejenigen sichtbar zu machen, denen nicht oder nur wenig geholfen wird. Und es gibt viele, die vom russischen Krieg betroffen sind und in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden: LGBTIQ-Personen, Rom:nja, BPoC, Geflüchtete ohne ukrainischen Pass. Für diejenigen, die nicht das Bild der flüchtenden ukrainischen Mutter mit Kind erfüllen, gilt die breite gesellschaftliche Solidarität nur begrenzt.

In vielen Ländern Osteuropas waren Rom:nja schon vor dem Krieg einer besonderen Verfolgung ausgesetzt – auch in der Ukraine. Allein 2018 gab es dort sechs rassistische Pogrome, die auch Todesopfer forderten. Zwei Jahre zuvor wurden in der Nähe von Odessa Häuser von Rom:nja Familien von einem Mob angegriffen und angezündet. Im Dezember 2021 wertete eine Richterin dies als einen Ausdruck “direkter Demokratie” der Bewohner:innen.

Die rassistische Ausgrenzung von Rom:nja findet auch während ihrer Flucht vor dem Krieg statt. In Polen berichteten uns Aktivist:innen, dass die Bereitschaft diese Menschen unterzubringen so gut wie nicht vorhanden sei und auch in Deutschland will kaum jemand Rom:nja privat aufnehmen. Im Gespräch mit medico berichtet die Akademikerin und Rom:nja-Aktivistin Dr. Joanna Talewicz-Kwiatkowska über die konkrete Situation von aus der Ukraine geflüchteten Romn:ja, die nach Polen gekommen sind.

medico: Wie ist die allgemeine Situation der Rom:nja in der Ukraine?

Joanna Talewicz: Die meisten Rom:nja, die sich noch in der Ukraine aufhalten, sind jung. Es heißt, dass es insgesamt mehr als 400.000 Menschen sind. Wir glauben aber, dass es noch mehr sind. Offizielle Statistiken sind immer problematisch und spiegeln die Realität selten wider.

Die Situation in der Ukraine ist von Region zu Region unterschiedlich. Wir beobachten, dass viele erst einmal abwarten, wie sich die Situation entwickelt. Viele junge Romnja haben beschlossen, bei ihren Männern zu bleiben. Sie versuchen, normal zu leben. Aber natürlich haben sie Angst und verstecken sich die meiste Zeit wegen der russischen Angriffe.

Wie ist die Lage derer, die nach Polen fliehen?

Wir beobachten, dass insgesamt immer weniger Geflüchtete aus der Ukraine hier nach Warschau kommen. Aber was die Rom:nja betrifft, sind es unserem Eindruck nach mehr Menschen als zu Beginn. Nach dem, was wir hören, hatten viele Rom:nja die Hoffnung, dass der Krieg bald vorbei sein würde und sie in der Ukraine bleiben könnten. Jetzt ist ihnen klar, dass das nicht möglich sein wird, so dass nun immer mehr den Entschluss fassen, das Land zu verlassen. Rom:nja fühlen sich in der Ukraine sicherer und zögern daher eher, in ein anderes Land zu gehen. Für viele von ihnen ist es das erste Mal, dass sie die Ukraine verlassen. 

Wir nehmen auch eine Zunahme von Menschen mit größeren gesundheitlichen Problemen und Traumata und in schlechteren finanziellen Situationen wahr. Bei den ersten Gruppen, die hier ankamen, waren die meisten besser ausgebildet, gesund und hatten eine recht stabile finanzielle Situation. Die Menschen, die jetzt ankommen, befinden sich insgesamt in einer schlechteren Situation.

Wie hat sich die Situation an der Grenze entwickelt?

Meine Kollegin, eine polnische Romni, die in Krakau lebt, war einige Tage an der Grenze in Korczowa, um die Situation zu beobachten. Gemeinsam mit einer deutschen Rom:nja-Organisation hat sie Busse für flüchtende Rom:nja organisiert, um sie aus dem Grenzgebiet nach Deutschland zu bringen. Sie berichtete von einer ziemlich schrecklichen Situation, da viele Menschen völlig allein gelassen sind. Nicht nur wegen der Xenophobie oder des Rassismus, sondern weil es so chaotisch ist und einfach so viele Menschen dort unterwegs sind. Deshalb ist es wichtig, auch Rom:nja als freiwillige Helfer an der Grenze zu haben. Das schafft ein Gefühl der Sicherheit für die ankommenden Rom:nja. Ich bin gegen Segregation, aber in dieser Situation sind leider nicht alle Geflüchteten gleich und haben auch nicht den gleichen Zugang zu Hilfe. Wir müssen unser Handeln auf diese Situation abstimmen.

Was ich aber sagen kann, ist, dass Rom:nja nicht unbedingt Schwierigkeiten haben, über die Grenze zu kommen. Es wäre jedoch auch falsch, von Gleichbehandlung zu sprechen. Eine andere ukrainische Romni-Kollegin von mir hat zum Beispiel mit polnischen Grenzbeamten gesprochen, die ihr von einer inoffiziellen Anweisung berichteten, vorrangig ukrainischen Geflüchteten zu helfen und sich erst dann den Minderheiten zu widmen. Die Kollegin ist Anwältin und wies sie darauf hin, dass das Racial Profiling und Diskriminierung ist.

10 bis 20 Prozent der ukrainischen Rom:nja haben keine Papiere. Können auch sie ungehindert über die Grenze kommen?

Die meisten Rom:nja, die wir in Polen getroffen haben, hatten Papiere. Einige von ihnen hatten allerdings keinen Stempel in ihren Pässen, der den Grenzübertritt bestätigt. Dies wird dann manchmal als Vorwand dafür genutzt, ihnen den Zugang zu Flüchtlingsunterkünften zu verwehren. Nach polnischem Recht ist das jedoch nicht rechtens. Und sowieso gibt es nach dem internationalen Schutzgesetz ein neues Gesetz für Geflüchtete aus der Ukraine, nachdem auch Menschen ohne Papiere das Recht haben, die Grenze zu passieren.

Wie ist die Unterbringungssituation für Rom:nja, wenn sie in Polen ankommen?

Die Situation ist schlimmer als zuvor. Zum einen wegen der hohen Zahl an Menschen. Zum anderen aufgrund von Rassismus. Wir sprechen hier von keinem verdeckten, sondern einem sehr offenen rassistischen System. Die Betreiber der Unterkünfte sagen ganz offen: 'Wir wollen hier keine Rom:nja haben'. Als Organisation kennen wir zwei oder drei Einrichtungen in Warschau, die für Rom:nja sicher sind. Sie sind eine große Unterstützung, aber das reicht bei weitem nicht aus.

Überall gibt es Aggressionen gegenüber Rom:nja. Einmal haben mich Freiwillige aus einer Geflüchtetenunterkunft angerufen und mich darum gebeten, die dort untergebrachten Rom:nja wegen Spannungen von dort abzuholen. Das ist auch der Grund, warum andere Zentren Rom:nja nicht reinlassen. Gleichzeitig ist man in Polen sehr offen dafür, Ukrainer:innen zu helfen. Aber die Rom:nja? Sie sollten von Rom:nja unterstützt werden. Manchmal kommen Freiwillige zu uns, die helfen wollen, aber sobald sie merken, dass es um Hilfe für Rom:nja geht, ziehen sie ihr Hilfsangebot wieder zurück. Der Rassismus wird wirklich immer schlimmer. Kurz gesagt, die Rom:nja haben überall in Polen große Probleme mit der Unterbringung.

Deshalb habe ich mich auch entschieden, mit polnischen Medien zu sprechen und Interviews zu geben. Wir bereiten auch einen Aufruf mit anderen Organisationen vor, um das Bewusstsein für diese Probleme zu stärken.

Was für Rückmeldungen kamen auf die Interviews?

Bisher hatte ich immer geglaubt, dass wir etwas tun können, um unser Volk und die Rom:nja-Geflüchteten zu schützen. Jetzt weiß ich, dass das unmöglich ist. Ich habe viele E-Mails von Leuten erhalten, die alle möglichen rassistischen Stereotypen über Rom:nja äußerten und mich davon überzeugen wollten, dass Rom:nja problematisch seien. Ich habe nicht eine einzige positive E-Mail mit Hilfsangeboten bekommen.

Über Polen hinaus gibt es viele Menschen, die uns helfen wollen. Vor allem Rom:nja und Organisationen aus anderen Ländern. Letztes Wochenende hat ein Rom aus Schweden mehrere Unterkünfte für Geflüchtete besucht und drei Personen mit nach Schweden genommen. Andere Rom:nja aus England haben ebenfalls Hilfe angeboten und eine Spendenaktion organisiert. Ich habe auch mit italienischen Medien gesprochen und wurde von Organisationen aus Italien kontaktiert. Sie wollen helfen und versuchen, die Menschen nach Italien zu bringen. Aber es ist nicht leicht, die Rom:nja davon zu überzeugen, Polen zu verlassen, weil sie möglichst bald in die Ukraine zurück wollen. Viele Frauen wollen so schnell wie möglich wieder zurück zu ihren Ehemännern.

Wir haben auch von einer Situation gehört, in der einige Rom:nja von Polen nach Deutschland gebracht und mitten im Wald zurückgelassen wurden. Nach ein paar Tagen gelang es ihnen dann, zurück nach Polen zu kommen. Wir haben versucht, die Situation zu aufzuklären, aber leider konnten wir nicht herausfinden, was genau passiert war und wer dafür verantwortlich war. Aufgrund dieser Erfahrung verbreiten die Betroffenen nun die Information, dass es nicht sicher ist, mit dem Bus zu fahren. Viele Rom:nja sind verängstigt und wollen sich auch gar nicht äußern. Aus Angst vor Zwangsabschiebungen wollen sie sich nicht an öffentlichen Orten aufhalten. Wir wissen von einigen Menschen, die seit 16 Tagen im Bahnhof sind, weil sie sich dort sicherer fühlen. Darunter sind auch ältere, kranke Menschen und viele Kinder. Wir haben eine Romni im Bahnhof getroffen, die nicht spricht und wir sind uns sicher, dass sie etwas sehr Traumatisches erlebt haben muss.

Wie viele Rom:nja sind aus der Ukraine geflohen?

Es ist noch zu früh um genaue Angaben zu machen, aber wir werden bald mit der Erfassung beginnen. Es sind wahrscheinlich mehr als 20.000 Menschen. Aber die Situation ist noch sehr dynamisch und unübersichtlich. In vielen anderen polnischen Städten halten sich Rom:nja auf, aber wir haben keine konkreten Information.

Wie hat sich eure Arbeitsweise durch die aktuelle Situation verändert?

Ich vertrete die Organisation Towards Dialoge und vor dem Krieg haben wir uns in Zusammenarbeit mit Institutionen auf Bildung und Sensibilisierung für unsere Kultur und Geschichte konzentriert. Unser Grundanliegen ist es, das Wissen über uns vor allem unter Nicht-Rom:nja zu verbreiten. Wir kooperieren viel mit Organisationen jüdischer Menschen in Polen, da sie bereits ein großes Publikum haben. Wir arbeiten mit Politiker:innen, Polizist:innen und Richter:innen zusammen und wenden uns an Schulen und Lehrer:innen. Dabei geht es zum Beispiel darum, Unterrichtsmaterialien zu entwickeln, mit Hilfe derer Aufklärungsarbeit über die Situation der Rom:nja während des Holocausts geleistet werden kann. Wir organisieren auch Programme, in denen wir Hate Speech und Vorurteile thematisieren. Diese Bildungsaktivitäten waren vor dem Krieg unser Hauptfokus.

Jetzt konzentrieren wir uns ganz auf die Situation der Rom:nja-Geflüchteten. Zum einen helfen wir den Menschen bei der Suche nach einer Unterkunft und bieten Fahrdienste und medizinische Versorgung an. Dafür arbeiten wir auch mit Rom:nja-Organisationen aus Schweden und Deutschland zusammen.

Zum anderen geht es darum, den geflüchteten Rom:nja hier in Polen bei der Integration in die polnische Gesellschaft zu helfen. Was wird zum Beispiel mit den Kindern passieren? Sie müssen zur Schule gehen und wir wollen ihnen dabei helfen. Es war schon vor dem Krieg fast ein Wunder, als Rom:nja in Polen einen Job zu finden. Jetzt sind fast 3 Millionen Menschen als Geflüchtete hierhergekommen. Ich bin mir sicher, dass die fliehenden Rom:nja die letzten sein werden, die Möglichkeiten erhalten, ihr Leben zu stabilisieren.

Das Interview führten Kerem Schamberger und Karoline Schaefer.
Transkript: Anna Pagel

* Dr. Joanna Talewicz-Kwiatkowska promovierte 2011 in Anthropologie an der Jagiellonen-Universität in Krakau zum Einfluss von EU-Förderprogrammen auf die Lebenssituation von Rom:nja in Polen. Sie ist Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Kulturanthropologie an der Universität Warschau. Zuvor arbeitete sie als Bildungsberaterin für das Internationale Zentrum für Bildung über Auschwitz und den Holocaust im Museum Auschwitz-Birkenau. Sie ist außerdem Vorsitzende der zivilgesellschaftlichen Organisation Towards Dialogue (Fundacja w Stronę Dialogu), die sich für die Rechte der Rom:nja in Polen und die Erinnerung an den Porajmos (Holocaust an den Rom:nja) einsetzt.


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