Charkiw bleibt für mich verbunden mit Luftalarm. Als ich vor anderthalb Jahren in der Stadt ankam, begrüßten uns die Sirenen zur Warnung vor Luftangriffen. Damals ging eine russische Rakete in einem Lager für Feuerwerk nieder. Die Charkiwer lachten darüber. Nun telefoniere ich mit Projektkoordinatorin Alexandra Djatschenko, gerufen Sascha, und Geschäftsführer Sergej Tschubukow von der medico-Partnerorganisation Mirnoe Nebo (auf Deutsch: Friedlicher Himmel). Während wir sprechen, ertönt wieder das schrille Evakuierungssignal. Kurz erinnere ich mich an die fremden, unwirklichen Ängste, die der Alarm bei meiner Reise im Januar 2023 in mir auslöste. Sascha und Sergej sprechen weiter, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. In den Medien hierzulande wird die Resilienz der Bewohner:innen der Großstadt und des Gebiets Charkiw gelobt. Wer nicht die Flucht ergriffen hat, hat aber auch keine andere Wahl, als es irgendwie auszuhalten.
Seit dem 11. Mai, so berichtet Alexandra, habe die russische Armee einen neuen Angriff in der Grenzregion bei Charkiw begonnen. Sascha zählt die Dörfer in der Grenzregion auf. In elf von ihnen leistete Mirnoe Nebo bis zu den erneuten Angriffen humanitäre Hilfe. Nun mussten die Bewohner:innen evakuiert werden. Viele alte Leute, die nicht weggehen wollten, aber auch ein paar junge Familien hatten noch immer dort gelebt. Manche Dörfer versorgten die Helfer:innen von Mirnoe Nebo mit Mahlzeiten und Lebensmitteln, in anderen reparierten sie Wasser- und Stromleitungen. „Wir hofften, dass dort wieder ein halbwegs normales Leben möglich sein würde“, sagt Sascha. Aber Krieg sei eben nicht vorhersehbar, stellt sie mit nüchternem Ton fest.
Drohnen gegen die Zivilbevölkerung
Mirnoe Nebo kümmert sich um die evakuierten Menschen und versorgt sie in Studierendenwohnheimen mit Essen und Lebensmitteln. Dabei bekommen die Kolleg:innen der Hilfsorganisation erzählt, was die Bewohner:innen der Grenzregion erlebt haben. Einst war hier ein reger Austausch mit den russischen Nachbar:innen Alltag. Inzwischen würden russische Drohnen nicht nur zum Angriff auf militärische Ziele eingesetzt, hat man Sascha erzählt, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung. Ein älterer Dorfbewohner sei erst beim Einkauf, dann in seinem Auto von einer Drohne verfolgt und schließlich getötet worden. Als sein Sohn den Vater bergen wollte, habe eine Drohne auch ihn verfolgt. Er habe sich gerade noch in eine Militäreinrichtung retten können.
„Wir hören ständig solche unmenschlichen Berichte“, sagt Sergej. „Ich verstehe nicht, woher ein solcher Hass und diese Missachtung gegenüber den einstigen Nachbarn kommt“. Er glaubt, dass sich bei vielen russischen Soldaten ein xenophobes Überlegenheitsgefühl eingestellt habe, um den Krieg zu legitimieren. „Dabei haben wir doch Schulter an Schulter zusammengelebt“, sagt Sergej verzweifelt.
Wie Jugoslawien
Manche vergleichen diese für viele Ukrainer:innen auch persönlich dramatische Entwicklung deshalb mit dem Zerfall Jugoslawiens. Der ukrainische Soziologe Volodomyr Ishchenko beschreibt in seinem Buch „Toward the Abyss“ an seiner eigenen Familiengeschichte, dass die ethnische Frage, also wer von seiner Herkunft Russe oder Ukrainer ist, falsch gestellt ist. Russisch, so Ishchenko, sei die Sprache der sowjetischen Modernisierung gewesen, Ukrainisch die Sprache der Landbevölkerung. Der sowjetische Urbanisierungsprozess, so brutal er war, brachte für die Überlebenden einen sozioökonomischen und intellektuellen Aufstieg. An seiner Familiengeschichte erzählt er, wie aus Subsistenzbauern Flugzeugingenieure wurden. Man kann einwenden: um den Preis ihrer Freiheit.
Das westliche Modell des nation building, so Ishchenko, setze jetzt hingegen auf das Gemeinsame des Ethnischen, gerade nach der Deindustrialisierung der Ukraine. Der Angriffskrieg Russlands trägt das Seine zur Homogenisierung bei. In diesem Fall um den Preis der biografischen Auslöschung von hybriden Herkünften, wie sie die meisten Ukrainer:innen in ihrer Familiengeschichte haben. Manchmal drängt sich der Eindruck auf, dass gerade eine Stadt wie Charkiw, die sich in Sowjetzeiten mit einer der größten Universitäten, an denen Tausende Studierende aus aller Welt ausgebildet wurden, als internationale Metropole neu gegründet hatte, weder in das russisch-imperiale noch das ukrainisch-nationale Herrschaftsprojekt passt.
Hilfe unter täglicher Bedrohung
Die Mitarbeiter:innen von Mirnoe Nebo erleben die Bedrohung des Gebiets und der Stadt Charkiw in ihrer täglichen Arbeit. Unter großen Mühen haben sie eine Küche und ein humanitäres Zentrum in der Kleinstadt Kupjansk, 140 Kilometer von Charkiw entfernt, aufgebaut, die sie nun aufgrund der russischen Angriffe wieder aufgeben mussten. Aus Kupjansk, das von der ukrainischen Armee im Sommer 2022 zurückerobert wurde, sind mittlerweile viele Tausend Menschen geflohen. Die neuerlichen Angriffe sind einfach zu gefährlich geworden. Aus den anderen Dörfern seien in diesen wenigen Tagen 6.500 Menschen evakuiert worden, so Sascha Djatschenko.
Mirnoe Nebo beteiligt sich an der Versorgung der neuen Vertriebenen, liefert Essen, Hygieneartikel, verteilt Gelder. Die Ankommenden werden auf mehrere Städte verteilt, so Sergej Tschubukow. In Charkiw gebe es fest eingerichtete humanitäre Zentren, wo die Menschen eintreffen, sich registrieren lassen könnten, erste Hilfe erhalten und von wo aus ihre Weiterverteilung organisiert werde.
Noch immer leben in der Großstadt 1,3 Millionen Menschen. Aber Sergej berichtet, dass viele abgereist seien. Zugleich füllt sich die Stadt mit intern Vertriebenen. Er schätzt, dass 150.000 bis 200.000 von ihnen zurzeit in der Stadt leben. Sie erhalten finanzielle Unterstützung durch den Staat. Aber die Menschen müssten auf eigenen Füßen stehen können. Deshalb, so berichtet Sergej im Telefonat, habe Mirnoe Nebo mittlerweile begonnen, berufliche Eingliederungsmaßnahmen für intern Vertriebene zu unterstützen. Die Organisation bezahlt ein halbes Jahr den Lohn für Menschen über 45 Jahren, dafür muss das Unternehmen die Person mindestens noch ein weiteres Jahr beschäftigen. Finanziert wird das Programm durch internationale Geldgeber.
Auf meine Frage, ob auch die öffentliche Hand solche Kosten trage, wie das in Deutschland üblich sei, winkt Sergej ab. Die hat kein Geld. Das ist der Kriegssituation geschuldet, aber Sergej traut den Institutionen in der Ukraine ohnehin wenig. Sie sind in den letzten 30 Jahren zu Umverteilungsmaschinen von öffentlichen Einnahmen in private Hände verkommen. Und so sieht er auch Bemühungen der Stadt, ein ähnliches Programm aufzulegen, eher als Konkurrenz, denn als Versuch, Hilfe für alle, die sie brauchen, zugänglich zu machen. Sie hätten gesehen, dass das Projekt von Mirnoe Nebo groß sei und nun wollten sie selber an die Gelder kommen, vermutet er.
Psychischer Stress und Perspektivlosigkeit
Der Staat, berichtet Sergej, habe die Aufgabe, die „Umsiedler:innen“ darin zu unterstützen, sich im neuen Leben in Charkiw einzurichten. Und es gibt die humanitäre Hilfe, die sie vorübergehend unterstützen soll. Das Problem, so Sergej, bestehe darin, dass manche Leute von der Hilfe abhängig würden und sich darin eingerichtet hätten, dass sie diese Hilfen, die ihnen verschiedene humanitäre Organisationen zur Verfügung stellen, auf Dauer bekommen. Aus einem Provisorium ist ein Dauerzustand geworden. Das brächte Missbrauch von Hilfe mit sich.
Um dies so weit wie möglich einzuschränken, hätten die internationalen Geber neue Kriterien für Hilfsbedürftigkeit eingeführt, die sie bei Mirnoe Nebo befolgten. So werde vor allen Dingen Menschen geholfen, die sich nicht selbst versorgen könnten – darunter Menschen mit körperlichen Einschränkungen, Familien mit vielen Kindern oder Kriegsopfern. Für viele Menschen aus Dörfern, die sich mit landwirtschaftlichen Produkten selbst versorgten, sei natürlich die Umsiedlung in die Stadt eine Herausforderung.
Der ständige Krieg und die Nachrichten in den sozialen Medien verursachen psychischen Stress. Viele leiden unter Depressionen. Zudem habe sich die Situation durch das neue Einberufungsgesetz verschärft. In der ganzen Ukraine wurden 1.400 Militärposten eingerichtet, die alle Männer auf ihre Wehrfähigkeit überprüfen. Man wird dort sofort registriert und möglicherweise umgehend einberufen. Deshalb fürchteten sich viele Männer, ihre Wohnungen zu verlassen. Sie könnten kein normales Leben mehr führen. Stattdessen würden die Frauen die Versorgung der Familie allein übernehmen. Das schafft in den Augen von Sergej neue, noch größere Probleme.
Ob Sergej fürchtet, dass es russische Pläne gibt, Charkiw zu besetzen, frage ich ihn. Er sei kein Militär, antwortet er. „Bei uns spricht man jetzt davon, dass es sich um einen hybriden Krieg handelt.“ Also kein Krieg wie im vergangenen Jahrhundert, wo es eine Unterscheidung zwischen Zivilbevölkerung und Soldaten gab und bestimmte Regeln der Kriegsführung galten. Heute finde der Krieg auch gegen und unter der Zivilbevölkerung statt. Die Propaganda spiele eine enorme Rolle. „Es gibt Leute hier, die einen russischen Frieden wollen. Sie warten darauf.“ Der endlos erscheinende Krieg führe zu einer Perspektivlosigkeit, die Menschen schwer aushalten. „Trotzdem glaube ich, dass Charkiw nicht eingenommen werden soll.“ Die Kämpfe um Bachmut hätten ein halbes Jahr gedauert. Und das sei eine kleine Stadt gewesen. „Charkiw ist eine Millionenstadt mit drei Verteidigungslinien.“
Sozialunternehmen statt Sozialstaat
Der nun schon über zwei Jahre dauernde Krieg, dessen Ende nicht absehbar ist, hat neue Institutionen geschaffen. Organisationen wie Mirnoe Nebo zum Beispiel. Die ursprünglich von ein paar Freiwilligen gegründete Initiative ist mittlerweile zu einem großen Verteiler humanitärer Hilfe in der Ukraine geworden und verfügt über ein großes Netz internationaler Geber. Eigentlich entstanden aus einer spontanen Idee zu Beginn des Krieges, um die Tausenden Bewohner:innen Charkiws, die wochenlang in den U-Bahnschächten ausharrten, mit warmen Mahlzeiten zu versorgen, ist aus der Initiative eine weit verzweigte Struktur aus Suppenküchen, professionell eingerichteten Backstuben, Untergrundschulen und humanitären Zentren mit Ärzt:innen und Psycholog:innen geworden.
Geschäftsführer Sergej Tschubukow ist eigentlich Ingenieur und besitzt ein Unternehmen zur Reparatur von Gleisanlagen in Poltawa. Nun hat er eine starke Hilfsorganisation aufgebaut, zu Beginn vor allen Dingen mit der Unterstützung von medico. Nach dem Krieg könnte Mirnoe Nebo ein wichtiges Sozialunternehmen werden. Wer das finanziert, wenn der Staat mit seinen Schuldenbergen ausfällt, weiß allerdings niemand.
Am Ende unseres Gesprächs ertönt wieder der Luftalarm. Spät am Abend schreibt mir Sergej, dass es nahe seiner Wohnung und des zentralen Büros von Mirnoe Nebo Raketeneinschläge gegeben habe. Der Krieg ist noch ein Stück näher gerückt.
Unsere Partnerorganisationen leisten Hilfe für Geflüchtete egal welcher Herkunft, versorgen Überlebende medizinisch und mit Lebensmitteln und streiten trotz der Übermacht des Militärischen für eine andere Ukraine.