Man darf ein Leid nicht gegen das andere aufwiegen. Und vielleicht ist auch der Teufelskreis aus „Aktualität und Vergessen“, von dem Georg Seeßlen am 27. Juli aus Anlass des Münchner Amoks in der taz schrieb, nicht zu durchbrechen. Trotzdem würde ich gern an dieser Stelle daran erinnern, dass die beiden IS-Attentate, die in Kabul zwei Tage nach München oder im kurdischen Qamishlo am heutigen Tag mit zusammen weit über 100 Toten stattfanden, nicht deshalb erträglicher werden, weil „solche Dinge“ dort öfter stattfinden als hier. Nur eins ist dort anders als hier: der Teufelskreis aus Aktualität und Vergessen gleicht eher einer Schlinge, die sich immer enger um den Hals zieht.
Uns erreichte aus sicherer Quelle ein erschütternder Bericht aus Kabul, den wir hier aufgrund der Gefahrenlage auszugsweise anonym veröffentlichen. Der Augenzeuge befand sich in unmittelbarer Nähe, zehn Meter vom Explosionsort des ersten Selbstmordattentäters entfernt. Es war das schlimmste Attentat seit dem Ende der Taliban-Herrschaft 2001.
Entgegen unserer Wahrnehmung der ständigen Attentate gibt es also doch Abstufungen. Wenn man berücksichtigt, dass die beiden offenkundig vom IS beauftragten Attentäter sich gezielt auf einer Demonstration in die Luft sprengten, dann war es zudem auch ein Attentat nicht nur gegen die schiitische Minderheit der Hazaren, sondern auch gegen zivile Formen, Konflikte und unterschiedliche Interesse auszutragen. Die Demonstrationen, die seit Monaten in Kabul stattfinden, waren trotz ihrer ethnischen Färbung, ein Zeichen der Hoffnung, dass man für Rechte, auch Minderheitenrechte in Afghanistan auf die Straße gehen kann.
Hier nun der Bericht in Auszügen und unter Auslassung der schrecklichsten Details. Nach offiziellen Angaben kamen 80 Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt:
„Ich bin physisch in Ordnung. Nur mein rechtes Bein macht Schwierigkeiten, denn ich fiel nach der Explosion hin und einige Menschen auf mich drauf. Wir haben sofort versucht, den Verletzten zu helfen. Dann kam der zweite Anschlag. Ich habe gesehen wie Menschen in Stück gerissen wurden. Überall lagen schwer verletzte Menschen, darunter Frauen und Kinder. Nur ein Rettungswagen war vor Ort. Erst nach 50m Minuten erschienen die Rettungswagen der Regierung. Bis dahin hatten wir die Verletzten schon mit Privat-Pkws und Polizeiautos in die Krankenhäuser gebracht. Ich habe gebettelt und mich sogar auf die Straße gelegt, um Privatautos anzuhalten. Doch sie fuhren ohne anzuhalten schnell weiter. Vor meinen Augen starb ein 12 jähriger Schuljunge und ein 18-20jähriger und ich konnte nichts für sie tun. Ich habe fünf junge und tapfere Freunde verloren.
…
Es ist kaum noch Hoffnung übrig. Die Menschen sind am Boden zerstört. Es wird Zeit brauchen, bis die Energie und der Kampfgeist zurückkehrt.“