Mindestens neun Menschen sind seit Sommer im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus ums Leben gekommen. Und das sind nur die Todesfälle, die bekannt geworden sind. Tatsächlich starben vermutlich sehr viel mehr Menschen beim verzweifelten Versuch, über Belarus in die Europäische Union zu gelangen. Wenn nicht schnell etwas geschieht, werden weitere Grenztote hinzukommen.
Tausende Geflüchtete – genaue Zahlen hat niemand – halten sich derzeit in den Wäldern zwischen Polen und Belarus auf. Sie kommen aus Krisengebieten wie Afghanistan, Irak, Jemen oder Syrien. Die Europäische Union wirft dem belarussischen Diktator Lukaschenko vor, sie als Druckmittel einzusetzen. Er habe viele von ihnen zur Einreise ermutigt und sorge für ihren Transport an die Grenzen zu Polen, Litauen und Lettland. Damit räche er sich für Sanktionen, die die Europäische Union wegen Menschenrechtsverletzungen gegen die belarussische Wirtschaft verhängt hat.
Da die polnische Regierung die Grenzregion zur Sperrzone erklärt hat, ist es äußerst schwierig, Hilfe zu leisten. Bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, abgeschnitten von medizinischer Versorgung, juristischem Beistand und sonstiger Unterstützung verstecken sich die Menschen vor dem Grenzschutz. Sie haben Angst, gewaltvoll nach Belarus zurückgedrängt zu werden, wo sie von belarussischen Soldat:innen zu einem erneuten Grenzübertritt nach Polen gezwungen werden. Manche haben dieses Ping-Pong-Spiel, das freilich alles andere als ein Spiel ist, bereits mehrfach erlebt. Anstatt gegen solche Pushbacks vorzugehen, legalisierte die polnische Regierung diese erst vor kurzem und kündigte an, die Zahl der Soldat:innen an der Grenze zu Belarus auf 10.000 aufzustocken. Außerdem soll – wie auch in Litauen und Polen – eine mehrere Meter hohe und über 100 Kilometer lange befestigte Barriere an der Grenze zu Belarus entstehen.
Das Geschehen an der polnisch-belarussischen Grenze erinnert stark an das, was sich seit Jahren zwischen Bosnien und Kroatien sowie zwischen der Türkei und Griechenland abspielt. Menschen auf dem Weg in die EU erleben brutale und nicht selten tödliche Pushbacks, toleriert oder sogar unterstützt von Brüssel und Berlin. Menschenrechtsverletzungen gegen Geflüchtete an Europas Grenzen führen nicht zu Sanktionen, sondern werden im Gegenteil sogar gefördert, etwa indem der kroatische und griechische Grenzschutz technisch aufgerüstet oder personell unterstützt wird – mit Mitteln der EU oder des deutschen Innenministeriums. Obwohl seit Jahren bekannt ist, wie rechtswidrig und brutal Grenzschützer:innen gegen Geflüchtete vorgehen, gab EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sich erst Anfang Oktober „schockiert“ und „besorgt“ über entsprechende Berichte und kündigte Untersuchungen in Griechenland und Kroatien an. Wie viele Jahre wird es dauern, bis die EU-Kommission und die europäischen Regierungen das brutale Vorgehen gegen Geflüchtete an der polnischen EU-Außengrenze angemessen zur Kenntnis nehmen?
Werden die Verantwortlichen in Brüssel und Berlin den polnischen Grenzschutz erst aufrüsten und eigene Grenzschützer:innen zu seiner Unterstützung schicken, bevor sie sich um den Schutz von Menschenleben im Grenzgebiet kümmern? Werden sie die Legalisierung von Pushbacks und – wie zuvor in Griechenland – die Aussetzung des Asylrechts erstmal eine Weile dulden und warten, bis der Grenzzaun steht, bevor sie eine Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen an Geflüchteten in Erwägung ziehen? Werden die europäischen Regierenden zusehen, wie Aktivist:innen und Hilfsorganisationen sich ins Grenzgebiet durchschlagen und ebenso wie viele Anwohner:innen notdürftig Hilfe leisten, bevor sie der Not ein Ende bereiten? Arbeitet man bereits an neuen Abkommen mit fragwürdigen Partnern jenseits der EU wie beim EU-Türkei-Deal? Wird man wieder versuchen, sich Flüchtlinge gegen Geld und Schweigen bei Menschenrechtsverletzungen oder Verstößen gegen das Völkerrecht vom Leib zu halten?
Nach allem, was wir in den letzten Jahren beobachten mussten, wird die EU weiter auf die Toleranz und mehr oder weniger direkte Unterstützung sämtlicher Abschreckungsmaßnahmen durch die Länder an den Außengrenzen setzen und sich gelegentlich „schockiert“ und „besorgt“ geben über das, was dort tatsächlich geschieht. Das ist die viel beschworene „europäische Lösung“. Daran wird auch der neue EU-Asyl- und Migrationspakt nichts ändern, der Solidarität nur zwischen abschiebewilligen Staaten vorsieht und nicht etwa gegenüber Geflüchteten. Der geschäftsführende deutsche Innenminister Seehofer tut, was er immer getan hat: Er spricht sich für mehr Grenzschutz aus, gegebenenfalls auch an den Binnengrenzen der EU, schert sich wenig um die Rechte der betroffenen Menschen und setzt sich über die Aufnahmebereitschaft der Kommunen hinweg.
Und die Ampel? SPD und Grüne wollen laut Wahlprogramm die Kommunen stärken und alle drei Parteien verurteilen Pushbacks an den EU-Außengrenzen, wobei vor allem die kleinste der drei, die FDP, zugleich die an Pushbacks beteiligte EU-Grenzschutzagentur Frontex stärken möchte. Wer wird sich durchsetzen? Welche Politik wird die Regierungskoalition gegenüber Geflüchteten vertreten? Werden sie dem Druck der zukünftigen Opposition und zahlreicher anderer europäischer Regierung nach massiverer Grenzsicherung nachgeben? Oder wird es ihnen gelingen, eine menschenrechtsbasierte Flüchtlingspolitik umzusetzen? Die Forderung nach einer Verteilung der Flüchtlinge von der polnischen Grenze in der EU, wie Grünen-Chef Robert Habeck sie kürzlich formuliert hat, ist wohlfeil. Schon Seehofer hat sie jahrelang vor sich her getragen. Man hat fast den Eindruck, die Ampel-Parteien sind froh, dass die Koalitionsverhandlungen noch nicht abgeschlossen sind und sie sich noch nicht festlegen müssen. Unterdessen geht das Leiden und Sterben der Menschen an den EU-Außengrenzen weiter, und es ist klar: Vor allem auch am Umgang mit der akuten Not der Menschen in den Grenzgebieten zu Belarus wird sich entscheiden, ob die neue Regierung in der Flüchtlingspolitik einen Unterschied machen wird. Dass dazu von Regierungsbeteiligten bislang so wenig zu hören war, verheißt nichts Gutes.