Düstere, apokalyptische und oftmals ratlose Töne beherrschen viele der Diskussionsräume, in denen einmal vorwiegend über Freiheit, die Zukunft, vielleicht sogar die Revolution gesprochen wurde. „Optimismus ist nur ein Mangel an Informationen“, warnte bereits Heiner Müller. In der Tat gibt es ausreichend frei verfügbare Informationen, mit denen sich heute eine pessimistische Grundhaltung belegen lässt, von der fortschreitenden Zerstörung der Natur über die weltweiten Katastrophen bis hin zu den Wahlergebnissen von autoritären und rechtsradikalen Kräften. Die der Welt ist denkbar schlecht, ohne Frage. Doch diesem pessimistischen Blick entspricht fast immer die Überschätzung der politischen Souveränität, die Fokussierung der Weltdiagnose auf den Zustand der staatlichen und ökonomischen Mächte – auf die Vorstellung also, dass die Welt nur im Handeln von Regierungen und Institutionen organisiert und begreifbar wird. Soziale Proteste erscheinen darin häufig als bloß negative Ereignisse, als Ausbruch und Entladung von Unzufriedenheit, letztlich als Bild der Ohnmacht, die verzweifelt an die Macht appelliert. So plötzlich, wie diese Proteste häufig ausbrechen und dann kurze, heftige Debatten provozieren, so selten sind sie selbst Gegenstand einer tiefergehenden Analyse oder gar einer Erzählung politischer und historischer Kontinuität. Doch was, wenn sie sich aus mehr als spontan explodierender Ablehnung speisen, sie vielleicht Teil eines langandauernden Prozesses sind, der unterhalb der Register einer vertikalen Macht der Institutionen abläuft? Gäbe es dann nicht allen Grund, zumindest optimistisch und pessimistisch zugleich zu sein? Und gibt es nicht auch Gründe, die zahllosen Aufstände und Bewegungen der letzten Jahre als Ausdruck einer existierenden globalen Kraft zu begreifen und nicht bloß als Anhängsel der Katastrophe?
Black Lives Matter, Fridays for Future, Ni una menos
Zugegeben: Der optimistische Blick muss sich heute im Sozialen auf die Suche begeben, dort also, wo die Dinge vielleicht schlechter gesagt, aber dafür umso besser gelebt werden. Die Black Lives Matter-Bewegung hilft, auch in Zeiten von Corona an eine andere Kontinuität des jungen 21. Jahrhunderts zu erinnern. Es gibt eine andere Geschichte, als sie uns ein zu verengter Blick auf die staatlichen und internationalen Institutionen, auf Parteien und die anderen, größtenteils verknöcherten politischen Organe einer weitestgehend entleerten repräsentativen Demokratie zeigt: eine Geschichte von unten. Dass sie als Prozess instabil und schwer zu greifen erscheint, mag auch daran liegen, dass sie für den eingeübten politischen Blick einen Mangel an ausgereiften Theorien, konkreten Alternativen und politischer Organisierung hat. In Wahrheit ist das ein potentieller Reichtum: Sie ist nicht entlang der Paradigmen der Souveränität und der ihr zugehörigen politischen Rituale verfasst, sondern als sozialer Prozess, der jede politische und auch nationale Begrenzung überschreitet; der in der sozialen Welt wirkt und die Subjektivitäten sowie die sozialen Beziehungen prägt. Es reicht ein unvollständiger Blick auf die Jahre seit 2011, das mit dem Aufstand auf dem Tahrir-Platz und dem Sturz des ägyptischen Diktators Mubarak ein Schlüsselereignis lieferte, um diese Kontinuität anzudeuten. Und 2011 begann – wie auch 1968 – bereits früher, in diesem Fall im Dezember 2010, als sich der Straßenhändler Mohamed Bouazizi in Tunis selbst verbrannte und damit eine Welle von Aufständen lostrat. „Von nun an wird es jedes Jahr einen meteorologischen und einen politischen Frühling geben“, schrieben die Theoretiker der Demokratiebewegung Michael Hardt und Toni Negri in jenen Zeiten. Sie sollten recht behalten. Die Aufstände 2011 in Nordafrika, die an sie anschließenden Demokratiebewegungen in Griechenland, Spanien und den USA, die bereits 2014 beginnende Black Lives Matter-Bewegung, die Migrationsbewegungen nach Europa mit ihrem Höhepunkt und der ihr begegnenden Solidarität 2015, die unglaubliche Konjunktur einer neuen, globalen Frauenbewegung der letzten Jahre, die in Südamerika und in der #metoo-Debatte ihren Ausgang nahm und allein in Spanien jährlich Millionen Frauen auf die Straße brachte, die Fridays for Future-Proteste mit ihrer von Beginn an globalen Resonanz, die französischen Gelbwesten und die vielen anderen Aufstände des letzten Jahres von Sudan über Chile und Haiti bis nach Libanon und Iran: Vielleicht ist all das nicht ein letztes Aufbegehren, sondern ein Anfang von etwas Neuem, das schon längst begonnen hat.
Auf den Pfaden von 68
Es genügt jedenfalls nicht, all diese Ereignisse nur als Reaktionen auf die von ihnen thematisierten Missstände zu erklären. Die Bewegungen sind Zeichen des Fortschritts und der Katastrophe zugleich und jedenfalls mehr als der Ausdruck von Verzweiflung. Das zeigen auch die Massendemonstrationen der letzten Jahre, selbst hier in Deutschland: Überall Menschen, deren Gesichtszüge, Sprache und Umgangsweisen nicht nur von Wut und Verzweiflung geprägt sind, sondern gleichermaßen Bilder einer bereits gelebten Zukunft vorwegnehmen. In einem Interview für das medico-rundschreiben aus dem vergangenen Jahr berichtete die lateinamerikanische Feminismus-Ikone Rita Segato von ihren Erfahrungen beim Frauenstreik in Buenos Aires: „Die Interviews mit jungen Teilnehmerinnen haben mich perplex gemacht: Sie sind so gescheit und selbstbewusst. Sie sind, so scheint es mir, in ein anderes geschlechtliches Selbstverständnis hinein geboren worden. Für uns waren diese Themen ein zu verwirklichendes Programm, für sie sind sie Wirklichkeit. Das ist eine Revolution, die schon stattgefunden hat.“ Vergleichbares lässt sich über die deutsche Black Lives Matter-Bewegung sagen. In ihr wird nicht bloß der institutionelle Rassismus in Deutschland thematisiert. Sie gibt auch der postmigrantischen Gesellschaft ein machtvolles Gesicht, in dem sich die jahrzehntelange Selbstbehauptung migrantischer Communities, ihre Erfolge und ihr Selbstbewusstsein spiegeln. Das Gelebt-Werden der Utopie führt die Spurensuche weiter zurück als 2011, nämlich zu den Jahren um 1968 – verstanden als Chiffre einer jahrzehntelangen globalen Revolte, die über die politischen Formen und Inhalte der klassischen Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung hinausging. Sie schrieb eine Geschichte von der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung über Vietnam, Algerien, Lateinamerika, Paris und auch bis nach Prag, die sich dann in antikolonialen, feministischen und migrantischen Kämpfen fortsetzte. Wir erleben heute, dass all das nicht zu Ende ist und sich auch nicht – wie so viele meinen – in einen individualistischen Pakt mit den Glücksversprechen des Neoliberalismus verstrickt hat. Heute haben die Fragen von damals eine neue Konjunktur: Ökologie, Feminismus, Antirassismus, Antikolonialismus. Die Kinder der 68er wollen die zweite Hälfte des Weges gehen. Ihre Eltern mögen ihnen verzeihen, dass sie den ersten Teil des Weges womöglich gar nicht kennen, aber sie sollten mit ihnen weitergehen. Sie fangen von vorne an, aber auf halber Strecke. Selbst Angela Davis hat die Revolte in den USA jüngst in eine lange Tradition der Kämpfe eingeordnet, die sich für sie jetzt zu einer ultimativen Chance verdichten. In einem BBC-Interview sagte sie, dass diese besondere historische Konjunktur die Möglichkeit eines politischen Wechsels berge, „wie wir sie nie zuvor erlebt haben“. Rassismus, die Folgen der Sklaverei und des Kolonialismus seien nie zuvor derart herausgefordert worden. Und ganz ehrlich: Sie muss es wissen!
Vom Gemeinsamen zurück zur Politik
Die Spuren der globalen Aufstände als Kontinuum und als Ausdruck einer lebendigen sozialen Welt zu verfolgen, bedeutet, die spezifische Art von Macht anzuerkennen, die sie jenseits der politischen Institutionen ausüben: die Anerkennung ihrer Fähigkeiten, das Gemeinsame zu produzieren, ohne dabei über das, was wir in Deutschland das öffentliche oder staatliche Gemeinwesen nennen, zu verfügen. Mit Rita Segato dabei von einer „Revolution, die schon stattgefunden hat“, zu reden, soll nicht bedeuten, aus einem veränderten Blickwinkel die globale Katastrophe schönzureden. Der alte Marx liefert vielleicht einen auch heute noch hilfreichen Hinweis: „Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch.“ Dass sich diese „politische“ Frage nicht durch einen etwas optimistischeren Blick auf die „soziale“ Welt erledigt, zeigen die letzten Jahre deutlich. Die Existenz von Kräften sagt noch nichts über die Kräfteverhältnisse. Aufbrüche in eine neue Zukunft wurden oftmals brutal erstickt und im wahrsten Sinne des Wortes unterdrückt – der syrische Bürgerkrieg ist das wohl dramatischste Beispiel dafür, ebenso die Stärke der rechtsautoritären Internationale. Doch es bleibt lebendig und lebt immer wieder auf, was in eine andere Zukunft drängt. Es wird vorerst keine Partei, kein Programm und keine politische Einheit daraus werden. Haben wir trotzdem – erst recht global gesehen – etwas gemeinsam, auf das wir bauen und ein wenig Optimismus begründen können, jenseits aller lokalen Unterschiede und politischer Schwerpunkte? Vielleicht ist das, was verbindet, einfach erst einmal das Gemeinsame: Das Beharren auf einer gemeinsamen Welt aller, einem politischen und sozialen Universum ohne Ausschlüsse und Entrechtung. Der Rest wird sich zeigen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!