Der „Deal“ mit der afghanischen Regierung exekutiert eine ebenso simple wie brutale Logik: Kabul nimmt seine nach Europa geflüchteten Staatsbürger*innen zurück - oder die dringend benötigten Finanzhilfen werden gestrichen. Die Unterschrift war gerade getrocknet, da kam es schon zur ersten „Sammelabschiebung“ aus Deutschland, dem ersten Flug sind mittlerweile zwei weitere gefolgt. Menschen, die sich bei uns vor der Gefahr in Sicherheit gebracht haben, von Gewehrsalven niedergestreckt oder von Bomben zerfetzt zu werden, unterliegen seither der organisierten Hatz der deutschen Sicherheitskräfte: Ab nach Haus ins „sichere Herkunftsland“!
Dass der deutsche Innenminister weiß, für welches Unrecht er verantwortlich ist, verrät die ihm ganz eigene Sprache: Immerhin sei, so ließ Thomas de Maizière jüngst verlauten, die „normale Zivilbevölkerung zwar Opfer, aber nicht Ziel von Anschlägen der Taliban“. Im nächsten Satz beschloss er diese offensichtlich absurde Behauptung mit dem nun tatsächlich infamen Satz „Das ist ein großer Unterschied“.
Absurdität und Infamie der Formulierung belegen, dass es sich hier nicht um einen Versprecher im Eifer des Gefechts, sondern um den bewussten Versuch handelt, die wohl auch ihm selbst unerträgliche Wahrheit zu verdrängen: Schließlich weiß gerade der Minister, dass es für den Abtransport von bereits weit über hundert, demnächst aber noch viel mehr Afghan*innen in Krieg, Gewalt und Ausweglosigkeit keine, aber auch gar keine politisch oder moralisch tragende Rechtfertigung gibt.
Um dazu das vielleicht erschütterndste Beispiel zu erinnern: Im Juli 2016 sprengten sich während einer Demonstration von über 10.000 Menschen in Kabul zwei Selbstmordattentäter in die Luft und rissen über 80 Demonstrant*innen mit sich in den Tod; 231 wurden verletzt, ungezählte andere von der Unfassbarkeit des Geschehen traumatisiert. „Ich befand mich in unmittelbarer Nähe, ich hätte tot sein können“, schrieb uns am nächsten Tag ein Mitarbeiter unserer Partnerorganisation „Afghan Human Rights and Democracy Organisation“ (AHRDO).
Nach de Maizières jüngster Einlassung zu den Überlebensaussichten der einfachen Menschen in Afghanistan sind die Toten und Verletzten der Juli-Demonstration wohl nicht der „normalen Zivilbevölkerung“ zuzurechnen, weil sie durch die Inanspruchnahme des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung irgendwie ja auch rechtens zum Ziel der Attentäter geworden sind. Eine Logik nicht nur des Grauens, sondern schlicht des Irreseins.
Afghanistan - ein sicheres Herkunftsland?
Konfrontieren wir de Maizières Formulierungskünste der Wirklichkeit, die sie verdrängen sollen. Seit den späten 1970er Jahren sind über zwei Millionen Zivilist*innen der Gewalt in Afghanistan zum Opfer gefallen. Millionen von Afghan*innen sind aus ihrem Land geflohen: Allein 2,5 Millionen ins westliche Nachbarland Iran, noch einmal 3 Millionen zum östlichen Nachbarn Pakistan, Hunderttausende nach anderswo. Trotz jahrelanger Besatzung herrscht in 14 der 34 Provinzen Afghanistan offener Krieg, 30 Prozent des Landes stehen unter direkter Kontrolle der Taliban.
Mit Anschlägen aber ist jederzeit überall zu rechnen: „Wenn ich morgens aus dem Haus gehe“, sagt uns der eben schon zitierte AHRDO-Kollege in aller Knappheit, „dann weiß ich nicht, ob ich abends zurückkehren werde.“ Dabei geht die Bedrohung des eigenen wie des Lebens ausnahmslos aller nicht nur von den Taliban aus, die sich bereits 2003 wieder reorganisiert hatten und sich seit 2005 wieder auf dem Vormarsch befinden. Tagtäglich lebensbedrohlich sind die noch einmal mörderischeren Kämpfer des Islamischen Staats und anderer Splittergruppen der auch untereinander in blutige Gefechte verstrickten Taliban; lebensbedrohlich ist die ungebrochene Gewalt der Warlord- wie verschiedener Stammesmilizen, lebensbedrohlich ist die Gewalt der Drogenmafia, lebensbedrohlich ist schließlich auch die Gewalt der sog. „Sicherheitskräfte", also der afghanischen Armee und Polizei.
Mit dem Rückzug der ISAF-Truppen ist diese Gewalt sprunghaft angestiegen: allein 2015 waren über 11.000 zivile Opfer zu beklagen – so viel wie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr. Gestiegen ist deshalb auch die Zahl der Geflüchteten: allein 2015 haben sich über 200.000 Afghan*innen nach Europa gerettet und die Menschen vom Hindukusch damit zur zweitstärksten Gruppe von Asylsuchenden gemacht, gleich nach den Geflüchteten aus Syrien und noch vor denen aus dem Irak.
„Sichere Gebiete“
Nun soll es in Afghanistan allerdings verstreut Gebiete geben, in denen das Überleben zwar nicht gesichert, doch immerhin sicherer sei. Dass diese Behauptung nachweislich falsch, wenn nicht absichtsvoll gelogen ist, belegen alle Untersuchungen, die dazu zitiert werden könnten. Falsch wäre sie allerdings auch, wenn man ihr trotzdem zunächst einmal folgen würde. Denn das afghanische Gewaltgeschehen wird von ethnischen und religiösen Spaltungen bestimmt, die aus der kolonialen und postkolonialen Geschichte der ganzen Region resultieren. So wird das in seinen heutigen Grenzen erst seit 1919 existierende und erst seit dem 19. Jahrhundert mit dem Namen „Afghanistan“ belegte Land von Menschen unterschiedlicher Sprachen und unterschiedlicher Religion bewohnt.
Die größte Gruppe stellen mit rund 40% die Paschtun*innen, 25% sind Tadschik*innen, 10% Hazara, 6% sind Usbek*innen, kleinere Gruppen sind die der Aimak, der Turkmen*innen, der Baluchi und Nuristani. Dass sie einander so feind wie heute sind, verdankt sich den gescheiterten Versuchen, sie zu Angehörigen einer „afghanischen“ Nation zu machen und die politisch behauptete nationale Einheit auch religiös zu grundieren. Unmittelbare Folge dieser Geschichte aber ist, dass man Afghan*innen nicht einfach so in vorgeblich sichere Gebiete bringen kann: weil solche Gebiete – wenn überhaupt – dann nur für Paschtun*innen oder Usbek*innen, für Hazara oder für Tadschik*innen sicher wären, nicht aber für alle, die einen afghanischen Pass haben. Macht man sich das klar, findet de Maizières Einlassung in dem Satz des 25jährigen Zwangsrückkehrers Naim Muradi ihre ebenso hilflose wie definitive Antwort: „Wie kann die deutsche Regierung mir das antun?“
Was heißt eigentlich „sicher“?
Kann nun aber eine Gegend schon deshalb für „sicher“ erklärt werden, weil man dort vielleicht nicht gleich niedergeschossen oder in die Luft gesprengt wird? Gehört zu tatsächlicher Sicherheit nicht einiges mehr – ein sicheres Auskommen zum Beispiel? Die westliche Militärintervention ist nun aber nicht nur gescheitert, weil es ihr nie gelungen ist, den Krieg tatsächlich zu beenden und der alltäglich überall drohenden Gewalt Halt zu gebieten. Gescheitert ist sie auch, weil sie weder Demokratie, noch Menschen- und Frauenrechte und ebenso wenig eine irgendwie nachhaltige Ökonomie etablieren konnte.
Sicher: zehn Jahre Besatzung haben gereicht, um eine Vielzahl von Infrastrukturmaßnahmen erfolgreich abzuschließen – zerstörte Häuser wieder aufzubauen, neue zu errichten und das Land mit Straßen zu erschließen. Die Arbeitslosenquote liegt dennoch bei 35%, der Abzug der Besatzungstruppen hat noch einmal Tausende von Jobs gekostet. Ein zureichendes Einkommen hat nur, wer im deshalb auch hochgradig korrupten Staat oder im Opiumanbau und -export tätig ist – oder das eigene Auskommen im Dienst eines der bewaffnet kämpfenden Verbände einwirbt, zur Not um den Preis des eigenen Überlebens.
Auch von daher kein Wunder, wenn geschätzt 40% der in Afghanistan lebenden Menschen angeben, das Land lieber heute als morgen verlassen zu wollen. Zur Ausweglosigkeit der Verhältnisse gehört, dass dieser Wunsch für die allermeisten ein frommer Wunsch bleiben wird, weil ihnen die Mittel fehlen, um sich auf den Weg zu machen. Und, nicht zu vergessen: Abgeschoben wird nicht nur aus Europa. Seit Monaten bereits zwingt Pakistan zu Tausenden „seine“ afghanischen Asylant*innen ab – in einem gewaltgetriebenem Zug eines eigentlich unsagbaren Elends, der so wenig „freiwillig“ ist wie der Zug der Rückkehrer aus Europa.
Aus freien Stücken
Auf eigenem Wunsch aus dem Exil nach Afghanistan zurückgekehrt sind allerdings die Gründer des medico-Partners AHRDO. Der Name ihrer Organisation ist den Aktivist*innen Programm. Sie organisieren Überlebende der Gewalt und versuchen so, eine Gemeinsamkeit, eine Solidarität zu stiften, die über sprachliche und religiöse Differenzen hinausführt. Dabei hilft die Einübung in gegenseitige Unterstützung im Alltag, aber auch die Beteiligung am Spiel des „Theaters der Unterdrückten.“
2015 hat AHRDO mit dem Projekt „Die Reisen“ begonnen, in dem sich jeweils sechs junge Frauen und Männer aus vier Provinzen gegenseitig besucht und ihren jeweiligen Gastgeber*innen Theaterstücke mit Szenen ihres Alltags vorgespielt haben. Die Stücke wurden im Verlauf der Reise und der insgesamt 24 Aufführungen stetig überarbeitet, die gemeinsamen Erfahrungen in Reisetagebüchern und in einem Dokumentarfilm festgehalten, der schließlich selbst auf Reisen ging und an verschiedenen Orten vorgeführt wurde. Zu Recht aber bestehen alle Beteiligten trotzdem auf der Wahrheit, dass Afghanistan kein Land ist, das in Sammelabschiebungen gezwungenen Menschen Orte einer sicheren Rückkehr einräumen könnte.
Für Minister de Maizière gehören deshalb, nimmt man ihm beim Wort, auch die Aktivist*innen AHRDOs nicht zur „normalen Zivilbevölkerung“, d.h. zum Kreis derjenigen, die den „großen Unterschied“ genießen können, nur das Opfer, doch nicht das Ziel von Anschlägen der Taliban zu sein. Über Thomas de Maizière und die Mitverantwortlichen seiner Politik ist damit tatsächlich alles gesagt. Bleibt zu hoffen, dass die Regierungen der deutschen Bundesländer, die sich dem Zynismus des Ministers widersetzen, den Mut aufbringen werden, bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu gehen – und vielleicht sogar über diese Grenzen hinaus.