Manchmal stelle ich mir vor, wie Jarmuk vor dem Krieg ausgesehen haben mag. Viele palästinensische Syrer_innen, die ich in den letzten Jahren traf, schufen mir ein Bild, das sich nicht mehr überprüfen lässt. Das Bild eines Flüchtlingslagers, das sich langsam zu einem Stadtteil entwickelte, in dem es Nachtleben gab und der attraktiv wurde auch für nichtpalästinensische Syrer_innen.
Mehrstöckige Wohnhäuser mit großen Balkonen und Dachterrassen, auf denen die Wäsche trocknet, erinnerten nicht mehr an ein Lager. Auch Bilder von breiten Straßen mit Begrünung finden sich im Internet. Wenn man sich diese alten Bilder anschaut, könnte das auch ein Stadtteil in Jerusalem oder Ramallah sein mit diesem schweren weißen Stein, der gut in das heiße Klima mit dem sandigen Wüstenwind passt.
Die Bronx von Damaskus
Ein Stadtteil im Süden von Damaskus – vielleicht schwingt ein Stück Orientalismus in meiner Vorstellung. Vielleicht habe ich koloniale Klischees, die der große palästinensische Intellektuelle Edward Said einst beschrieb. Das Vorkriegs-Jarmuk war wohl eine Art Arrival City. Die Bronx von Damaskus. Man kam unten an, aber es gab Chancen für einen Aufstieg. Denn die Palästinenser_innen behielten in Syrien ihren Status als Flüchtlinge und doch erhielten sie gleichzeitig syrische Bürgerrechte und damit Zugang zu Bildung. Das ist ein großer Unterschied zur Situation der Palästinenser_innen im nahen Libanon, wo viele von ihnen bis heute in elenden Camps leben, in denen zwar die Zelte von 1948 zu Wohnhäusern wurden, aber sonst kaum Perspektiven vorhanden sind.
Die Palästinenser_innen in Syrien konnten studieren, Geschäfte eröffnen, bauen, besitzen. Das hat sich, so erzählen es viele, in Jarmuk widergespiegelt. Ich erinnere mich noch an eine Palästinenserin aus Syrien, die ich im libanesischen Palästinenserlager Ein El-Hilweh traf. Eine junge Frau mit buntem Kopftuch und blau geschminkten Augen. Sie hatte in diesem verschrienen Lager, das regelmäßig mit undurchschaubaren bewaffneten Straßenkämpfen von sich reden macht, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren zwei Kindern Unterschlupf vor der syrischen Katastrophe gefunden. Nun saß sie verwundert und sprachlos in zwei Zimmern ohne Fenster und konnte sich einfach nicht erklären, wie sie aus einer großen Wohnung mit Balkon und Gästezimmer, die sie in Syrien besessen hatte, in dieser Misere hatte landen können. Die Verachtung für die sie umgebende Armseligkeit war ihr anzumerken. Sie sprach nur davon, dass sie nach Deutschland weiter ziehen wolle, wie viele ihrer Freunde. Denn auch ihr war klar, dass es kein Zurück nach Syrien mehr gibt.
75 Prozent zerstört
In diesen Tagen wird das besonders sichtbar. 75 Prozent von Jarmuk sind mittlerweile vollständig zerstört. Die letzten IS-Milizen und ihre Familien verhandeln ihren Abzug, die letzten Kämpfer der Al-Nusra nahen Hayat Tahrir al-Sham-Miliz haben das Camp bereits verlassen. Genau diese Verhandlungen führte das Regime mit den Milizen seit Jahren, dennoch kam es seit dem 20. April zu einem militärischen Großangriff, der das Camp nach vielen Jahren Belagerung endgültig unbewohnbar machte.
Vorletzte Woche gelang es 2.000 Familien, aus Jarmuk zu fliehen. Sie kamen im benachbarten Yalda an, wo sie in das von medico unterstützte Nothilfe-Programm aufgenommen wurden. Wenige Tage später war auch dieser Fluchtweg verschlossen. Der letzte Checkpoint um Jarmuk ist seit Tagen in Regime-Hand.
Es wird geschätzt, dass noch immer 150 Familien in den Kellern ausharren. Denn der Verhandlungsprozess um den Abzug ist immer begleitet von heftigen Bombardierungen. Es ist vielleicht eine Frage von Tagen, da der Süden von Damaskus wieder unter vollständiger Kontrolle der Assad-Regierung sein wird. Die großangelegten erzwungenen Umsiedlungen von bis zu 17.000 Menschen aus Süd-Damaskus, darunter Kämpfer verschiedener Milizen und ihre Angehörigen, aber auch politische Aktivisten und Zivilist_innen laufen seit vergangenem Freitag.
Ob es irgendwann eine Rückkehr-Möglichkeit für die Palästinenser_innen geben wird, ist vollkommen unklar. Da das Regime bereits erlassen hat, dass Häuser und Wohnungen schnell enteignet werden können, ist die Voraussetzung für eine völlige demographische Umgestaltung Syriens gegeben. Das könnte das Ende von Jarmuk als sozialem, politischem und kulturellem Zentrum der Palästinenser_innen in Syrien sein. In der Studie „Palestinians in Syria“ von Anaheed Al-Hardan schreibt die Autorin, dass Jarmuk emblematisch für „die Katastrophe der Palästinenser in Syrien geworden sei, deren Gemeinschaften möglicherweise weder überleben noch geheilt werden.“
Schlimmer als 1948
Ihre Studie beschäftigte sich ursprünglich mit der Frage, wie sich die Erinnerung an die Vertreibung aus dem heutigen Israel (Nakba) im kollektiven Gedächtnis der verschiedenen Palästinenser-Generationen in Syrien spiegelt. Nun sprächen viele Palästinenser_innen, so Anaheed Al-Hardan, von einer zweiten Nakba. Nach vier Generationen sozialer Integration in Syrien habe die Destruktion der palästinensischen Gemeinden im „Gegensatz zur Katastrophe von 1948 zu ihrer endgültigen Zerstörung“ geführt.
Mit dem Exodus vieler Palästinenser_innen aus Syrien, der 2012 nach großen Demonstrationen gegen Assad und deren blutiger Unterdrückung auch in Jarmuk begann, ist auch die syrische Gemeinde palästinensischer Herkunft so gespalten wie nie. Davor hatten sich die Palästinenser_innen in Syrien notgedrungen hinter einem nationalen Projekt der Rückkehr gesammelt, weil ihre Interessen im Osloer-Friedensprozess – also die Anerkennung des Rechts auf Rückkehr und seiner Regulierung beispielsweise durch Entschädigungen – auf das Ende des Oslo-Prozesses und dem Entstehen einer palästinensischen Eigenstaatlichkeit in der Westbank und Gaza-Streifen verschoben worden war. Sie fühlten sich damals zu Recht ausgeschlossen.
Ungewisse Zukunft
Nun aber ist es auch mit dieser Einigkeit vorbei, weil sich viele junge Palästinenser_innen an dem Aufstand gegen Assad beteiligten und dafür zu tausenden ins Gefängnis wanderten oder ermordet wurden. Diese Erfahrung hat viele aus der Generation der in den 1980ern geborenen zutiefst erschüttert. „Ich stellte fest, dass ich als Palästinenser nur eine Karte im Spiel von Assad gewesen bin“, sagte ein Palästinenser aus Syrien auf einer Veranstaltung zur syrischen Revolution kürzlich im medico-Haus. Der FAZ-Journalist Rainer Hermann, sicher einer der besten deutschen Kenner der arabischen Welt, schreibt in seinem jüngsten Buch „Arabisches Beben“, dass das Vorliegen des israelisch-palästinensischen Konflikts in den 1970er Jahren eine liberale Modernisierung in den arabischen Ländern verhindert habe. Heute hingegen sei der Konflikt nur noch einer von vielen in der arabischen Welt.
Zum 70. Jahrestag der Nakba, der in diesen Tagen begangen wird, sind die Palästinenser_innen aus Syrien in alle Winde verstreut, in Syrien sind sie verfeindet und das zum Teil unter Waffen. Es gibt Ausnahmen, wie die gemeinsame Demonstration von Anti- und Pro-Assad-Kräften im Flüchtlingslager Khan Eshieh gegen die Bombardierungen des Lagers vor anderthalb Jahren. Für unsere palästinensischen Kolleg_innen vor Ort, die mit Spendengeldern und Fördermitteln aus dem Auswärtigen Amt über viele Jahre Nothilfe in Rebellengebieten wie in Assad-Territorium Hilfe geleistet haben, die in der jahrelangen Belagerung von Jarmuk Schulunterricht aufrecht erhielten und Urban Gardening als Überlebensprojekt organisierten, ist die Zukunft offen. Sie werden weiter um eine palästinensische Präsenz in Syrien ringen. Wenn der Süden von Damaskus wieder vollständig unter Kontrolle Assads sein wird, können manche vielleicht bleiben. Andere aber müssen das Weite suchen, wenn sie nicht auch noch in einem der Foltergefängnisse von Assad landen wollen.
Das palästinensische Jarmuk ist zu Ende. Das, was sich dort ereignete, zeigt symbolisch, wie sich kollektive Erinnerung aufbewahrt und zugleich von Generation zu Generation wandelt. Dass aus der palästinensischen Frage, also letztlich aus einer nationalen Frage, ein universelles Begehren nach Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit werden kann – dafür steht Jarmuk aber auch. Diese Erfahrung sollte in der Trostlosigkeit der Gegenwart nicht vergessen werden.