Seit Jahren beobachten wir ein Schrumpfen von Räumen, in denen ein kritisches Sprechen über Israel und Palästina möglich ist. Nun zeichnet sich eine erneute Verschärfung ab: In Berlin sind Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Gedenken an die Nakba verboten worden – und das nicht zum ersten Mal. Bereits im Mai 2022 hat die Berliner Polizei präventiv mehrere geplante Kundgebungen anlässlich des jährlichen Gedenktages an die Vertreibung und Flucht eines Großteils der palästinensischen Bevölkerung im Zusammenhang mit der Staatsgründung Israels verboten. Davon betroffen war auch eine Mahnwache jüdischer Aktivist:innen für die kurz zuvor von der israelischen Armee in Dschenin getötete palästinensische Journalistin Shirin Abu Akleh. Am 11. Mai jährt sich der Tag ihrer absichtlichen Tötung durch einen israelischen Soldaten. Das Berliner Verwaltungsgericht hatte die im Eilverfahren angefochtenen Versammlungsverbote damals aufrechterhalten.
Angesichts von Fällen antijüdischer Volksverhetzung, wie sie bisweilen auch auf pro-palästinensischen Demonstrationen vorgekommen sind, wird zurecht ein entschlossenes Vorgehen gegen Antisemitismus gefordert. So notwendig das ist, so sehr liegt es auch in der Natur der Sache, dass die Anmelder:innen von Demonstrationen keine vollständige Kontrolle über diejenigen haben, die Aufrufen zu öffentlichen Versammlungen folgen. Umso wichtiger wäre es, dass sie deutlich machen, dass das Einstehen für palästinensische Rechte nur dann emanzipatorisch sein kann, wenn es als Teil des Ringens um universelle Menschenrechte verstanden wird. Das muss selbstverständlich auch die jüdische Bevölkerung Israels miteinschließen. Diese Haltung bedarf nicht erst einer Regelung des Konflikts. Als Grundsatz sollte nur sie der Ausgangspunkt sein.
Wenn jemand in dem Kontext sein Recht auf Versammlungsfreiheit dazu missbraucht, antijüdische oder andere rassistische Tiraden zu skandieren, und sich so im Bereich der Volksverhetzung bewegt, anstatt legitim für palästinensische oder universelle Menschenrechte einzutreten, gibt es gegen derlei Hassrede Gesetze, die es der Polizei erlauben, geltendes Recht durchzusetzen. Stünde eine solche Strategie nicht im Einklang mit polizeilichen Aufgaben einerseits und der demokratischen Verfasstheit unserer Gesellschaft mit einem grundgesetzlich garantierten Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit andererseits? Doch anstatt auf diese Weise an die Sache heranzugehen, wird in Berlin zum wiederholten Mal wegen des (erwarteten) Fehlverhaltens einzelner das Grundrecht der Versammlungsfreiheit von vielen präventiv außer Kraft gesetzt.
Wieso ist das gegenüber Leuten, die für das Recht der Palästinenser:innen auf ein eigenes Land und auf Menschenrechte eintreten, hinnehmbar? Ist der Hauptgrund für diese Verbote wirklich die vielbeschworene Antisemitismusbekämpfung? Ist es die Sorge, es könnten Ordnungswidrigkeiten oder gar Straftaten begangen werden? Und wenn deshalb die Sorge so groß ist, wieso hat sie die Berliner Gerichte im Fall der Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung nicht im selben Maß umgetrieben? Es war doch bekannt, dass bei den Protesten damals massenhaft gegen Auflagen wie die Maskenpflicht oder den Mindestabstand verstoßen werden würde. Genau das war ja der Punkt der Proteste. Es war auch bekannt, dass bei solchen Anlässen der Holocaust verharmlost würde, indem Protestierende gelbe Sterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“ trugen. Egal nach welcher der Definitionen von Antisemitismus man sich richtet: Die Verharmlosung der Shoa wird als ziemlich eindeutiger Fall eingestuft. Die Grundrechte jenes politischen Spektrums galten den Gerichten so viel, dass sie zumindest in einigen Fällen zugunsten der Versammlungsfreiheit entschieden – in diesem Fall auch von Menschen, die der Demokratie und dem parlamentarischen System, gelinde gesagt, sehr kritisch gegenüberstehen, und von denen ein Teil – nach US-amerikanischem Vorbild – dann auch versuchte, in den Reichstag vorzudringen.
Von Gedenkveranstaltungen aber, die an die Vertreibung der Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gebiet, das 1948 zu Israel wurde, erinnern wollen, soll eine so große Gefahr ausgehen, dass sie verboten werden müssen? Für wen? In Reaktion auf die jüngsten Verbote äußerte sich unlängst eine Gruppe von Jüdinnen und Juden zu den Maßnahmen der vermeintlichen Antisemitismusbekämpfung: „Solche antidemokratischen Maßnahmen kommen einer kollektiven Bestrafung gleich und bieten uns als jüdische Berliner*innen keinen wirksamen Schutz.“
Hier drängt sich der Eindruck auf, dass vor allem das deutsche Israel-Bild nicht gestört werden soll. Welche Elemente für dieses Bild zentral sind, lässt sich nicht nur Verlautbarungen des Deutschen Bundestags entnehmen, sondern auch den jüngsten Glückwünschen Ursula von der Leyens an die israelische Regierung anlässlich des Unabhängigkeitstages. Sie reproduzierte darin den staatlich gepflegten israelischen Gründungsmythos, erst die eingewanderte jüdische Bevölkerung habe „die Wüste zum Blühen gebracht“, ein beliebter Topos des zionistischen Narrativs, der in erster Linie dazu dient zu begründen, wieso der groß angelegte Landraub an der arabischen Bevölkerung eigentlich gar nicht so schlimm gewesen sein kann. Sie hätten sich sowieso nicht richtig darum gekümmert. Das von offizieller Seite gepflegte unkritische Bild Israels als einziger Demokratie im Nahen Osten soll nicht durch die Erinnerung an die Vertreibung der arabischen Bevölkerung getrübt werden. Die Verhinderung von Protesten hierzulande, die sich auch gegen die aktuelle Politik der Landnahme und des Siedlungsbaus richten, korrespondiert hier folgerichtig mit der deutschen Duldung des rechtswidrigen Handelns des israelischen Staates und mit der versuchten Abwehr rechtlicher Schritte gegenüber Israel. Die Bundesregierung positionierte sich beispielsweise gegen die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs und stimmte jüngst in der UN-Generalversammlung dagegen, den Internationalen Gerichtshof mit der Ausarbeitung einer Meinung zur Frage nach der Illegalität der Besatzung zu beauftragen.
Dabei reihen sich die Verbote von Kundgebungen in einen allgemeinen Trend ein. Im Namen der Antisemitismusbekämpfung werden seit Jahren politische Willenserklärungen von Parlamenten auf Bundes-, Länder- und lokaler Ebene verabschiedet, die sich nach eigener Aussage „gegen jeden Antisemitismus“ richten, faktisch aber zumeist Auswirkungen auf palästinasolidarische Gruppen und einzelne Redner:innen haben, denen qua ihrer Zugehörigkeit oder behaupteten Nähe zur Boykottbewegung BDS Antisemitismus unterstellt wird. Um die 35 solcher Beschlüsse gibt es mittlerweile in Deutschland, vom Bundestag über die Landtage Thüringens, Nordrhein-Westphalens, Baden-Württembergs sowie das Abgeordnetenhaus von Berlin bis hin zu Städten wie Dortmund, Frankfurt, Leipzig oder München.
Die daraus resultierende repressive Verwaltungspraxis, etwa bei der Überlassung öffentlicher Räumlichkeiten, der erzwungenen Absage von Veranstaltungen oder der Vergabe von Mitteln der öffentlichen Hand, wurde von Gerichten in Teilen wiederholt als unrechtmäßig eingestuft. Das hindert politische Akteure aber nicht daran, über Möglichkeiten zur Fortsetzung und Ausweitung solcher Praktiken nachzusinnen. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sich mit dem „Handlungsbedarf aufgrund zunehmender antisemitischer und antiisraelischer Hetze vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts“ befassen sollte, empfahl in ihrem Abschlussbericht an die Innenministerkonferenz (IMK) weitreichende, auch repressive Maßnahmen, beispielsweise Äußerungen, Symbole, Motive, die bislang straffrei sind, weil sie nicht gegen geltende Gesetze verstoßen, mit Strafen zu bewehren, notfalls auch durch neue Gesetze. Es steht zu befürchten, dass bei einer Umsetzung Grundrechte wie die Meinungs-, Versammlungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit verletzt werden könnten, wenn es um Israel und Palästina geht. In dieser weitreichenden Form wurden die Handlungsempfehlungen nicht explizit in die Beschlüsse der IMK aufgenommen. Gleichwohl wurden der Bund und die Länder im Dezember 2022 gebeten, „die im Bericht genannten Handlungsempfehlungen zu prüfen“.
Anlässlich vereinzelter antisemitischer Parolen bei Protesten gegen den Gaza-Krieg im Mai 2021 hatte Felix Klein als Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus gefordert, „Communities im muslimischen Spektrum“ müssten „sich beteiligen am politischen Diskurs, am demokratischen Diskurs. Wenn es Unmut gibt, dann müssen sie ihn äußern durch angemeldete Demonstrationen, durch Veranstaltungen, aber nicht durch Gewalt, und hier sehe ich meine Aufgabe.“ Leider war weder hinsichtlich der Verbote 2022 noch der in diesem Jahr etwas von Felix Klein zum Grundrecht der Versammlungsfreiheit dieser Bevölkerungsteile zu hören. Wie sie sich als Teil der Gesellschaft in Deutschland künftig noch am politischen Diskurs beteiligen sollen, wenn die Innenminister:innen von Bund und Ländern darüber nachdenken, wie sie „verfassungskonform“ genau diese Partizipation unterbinden können, bleibt schleierhaft.
Die Gefahr in dem Zusammenhang ist darüber hinaus, dass die Debatte um Israel und Antisemitismus für Sicherheitspolitiker:innen und -organe als willkommenes Einfallstor für die Etablierung repressiver Praktiken und Maßnahmenpakete dienen wird, die dann freilich nicht mehr nur für palästinasolidarische Gruppen reserviert bleiben, sondern allgemeiner Anwendung finden werden. Angesichts der Aktionen zivilen Ungehorsams der Letzten Generation rüstet so manche:r Politiker:in bereits massiv auf: Hier ist von Klimaterrorismus die Rede, Präventivhaft wird bereits durchgesetzt. Der Holocaustforscher Amos Goldberg warnte schon 2019 in der Frankfurter Rundschau, Deutschland könne sich „in fünf oder zehn Jahren in ein weiteres illiberales Bollwerk verwandeln. Seine Politik könnte dann der Israels, Ungarns und Polens ähneln.“ Wenn Goldberg nicht Recht behalten soll, muss die Arbeit der Innenministerien in dem Bereich sehr kritisch überprüft und der repressiven Politik gegenüber der Ausübung von Grundrechten auch Widerstand entgegengesetzt werden. Im vorliegenden Fall geschieht dies auf unterschiedlichen Ebenen: Ein internationaler Aufruf spricht sich unter dem Motto „Redefreiheit ist ein Menschenrecht“ gegen die Verbote aus. In Berlin wird mit der Aktion „they ban, we dabke“ zu spontanen Zusammenkünften aufgerufen, bei denen den Verboten mit einer positiv und fröhlich besetzten Zurschaustellung palästinensischer Präsenz auf öffentlichen Plätzen Berlins getrotzt werden soll. Menschengruppen ab fünf Personen treffen sich zum Tanzen und Feiern.
medico international unterstützt eine Klage gegen die Verbote der Kundgebungen der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost und des Bündnisses Palästina Spricht im Zusammenhang mit dem Nakba-Gedenken im Mai 2022 in Berlin.