Interview

Vom Bandenkrieg zum „Narco-Frieden“

03.04.2023   Lesezeit: 9 min

In El Salvador etabliert sich ein neues Regime aus Staat und organisiertem Verbrechen, sagt die Journalistin Celia Medrano.

medico: Wie begann deine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Gewalt?

Celia Medrano: Schon als Teenager habe ich mich zunächst in einer christlichen Jugendbewegung mit dem bewaffneten Konflikt in El Salvador auseinandergesetzt. Mit Anfang zwanzig begann ich, für die nichtstaatliche Menschenrechtskommission zu arbeiten, die 1979 gegründet worden war. Zum Kriegsbeginn mussten die meisten Mitglieder der Kommission ins Exil nach Mexiko fliehen, von wo aus sie Berichte für die UN-Ausschüsse des Interamerikanischen Systems schrieben. Als Journalistin habe ich dem kleinen Team in El Salvador zugearbeitet indem ich Massaker und Demonstrationen dokumentiert habe, Informationen, die in den Berichten verarbeitet wurden.

Die Rückkehr des Teams aus Mexiko war sehr schwierig. Auf das erste Büro wurde geschossen, ein Kollege wurde entführt und tauchte erst nach 50 Tagen als politischer Gefangener wieder auf, einer von Tausenden. Das gleiche traf später noch einmal vier Kolleg:innen gleichzeitig. Wir schlossen kurzzeitig, öffneten wieder, doch wir waren im Fokus. 1986 wurde der damalige Präsident der Organisation ermordet. Das gleiche Schicksal hatte wenige Jahre zuvor bereits seine Vorgängerin getroffen: Sie ist im Kriegsgebiet in Cabañas entführt und getötet worden, als sie Beweise für den Einsatz von Napalm sammelte.

Welche Dimensionen hat die Gewalt in der Gegenwart?

In allen Ländern Zentralamerikas, und wahrscheinlich auch darüber hinaus, wird ein und dieselbe Person Opfer vieler Arten von Gewalt. Ich habe mit Menschen gesprochen, die einen Krieg erlebten und häusliche Gewalt, Bandengewalt und Naturkatastrophen. Gewalt, als sie versucht haben, in ein anderes Land zu gehen, vor allem in die Vereinigten Staaten, Missbrauch, als sie abgeschoben wurden. Sie sind vor der Gewalt, die sie in Zentralamerika erlebt haben, geflohen und sie sind in die Gewalt zurückgekehrt. Gewalt, die vom Staat ausgeht.

Die Bukele-Regierung hat ein Gefängnis gebaut, in dem 40.000 echte oder vermeintliche Gang-Mitglieder inhaftiert werden sollen. Was sagt dieses Mega-Gefängnis über Gesellschaft und Politik in El Salvador aus?

Meine erste Reaktion ist: Das ist Ablenkung, schaut nicht auf das Gefängnis, schaut auf das faschistische Narrativ dahinter. Wir haben das größte Krankenhaus in Mittelamerika, wir haben die größte und wunderbarste Tierklinik. Wir haben Surf City, den größten und schönsten Strand in ganz Mittelamerika und wir haben Bitcoin. Hier ist es immer das Größte, das Großartigste. Alles, was getan wird, muss verherrlicht werden.

Das Gefängnis ist außerdem Teil eines Diskurses, den wir als punitiven Populismus bezeichnen können. Er weckt nicht den Wunsch nach Gerechtigkeit bei den Menschen, die Opfer von kriminellen Gruppen geworden sind, sondern er schürt den Wunsch nach Rache. Dieses Phänomen habe ich auch in meiner Arbeit mit den Opfern der Banden erlebt. Zum Beispiel müssen ganze Familien aus dem Land gebracht werden. Es geht nicht nur um die junge Frau, die irgendwelche Gang-Mitglieder vergewaltigen wollen. Ihre ganze Familie muss weg, denn wenn sie das Mädchen nicht bekommen, wird die Gang aus Rache einen Bruder angreifen, den Vater, die Großmutter, Onkel und Tanten.

Ich habe diese Schutzprogramme jahrelang koordiniert und dabei auch die andere Seite der Rache erlebt: In einem Workshop mit Überlebenden sollten Grundlagen für ein Opferschutzgesetz erarbeitet werden. Welche Bestandteile sollte so ein Gesetz aus Perspektive der Opfer haben? Für sie am wichtigsten: Die Todesstrafe. Außerdem wollten sie die permanente Präsenz von Polizei und Soldaten in den Vierteln.

Wie erklärst Du Dir diesen Wunsch nach Vergeltung, der inzwischen ja offizielle Politik geworden scheint?

Es ist nicht überraschend, dass Menschen, die großen Schaden erlitten haben, einem Diskurs applaudieren, der diejenigen, die ihnen diesen Schaden zugefügt haben, wie Tiere behandelt. Aber das ist Populismus. Und es ist nicht nachhaltig im Umgang mit der Gewalt. Aber darum scheren sich die Leute nicht, denn im Moment zählt die Erleichterung. Das Leben blüht auf in den Vierteln, die vor dem Ausnahmezustand von den Gangs kontrolliert wurden. Dieses Gefühl der Befreiung übertönt jede Analyse. Es ist eine Blase und sie wird platzen, aber angesichts der Brutalität, die diese Menschen seit Jahrzehnten durchleben müssen, kann man ihnen damit gerade nicht kommen.

Welchen Preis hat diese Verdrängung?

Wir erleben ein Regime des Ausnahmezustands, das die Verletzung der Menschenrechte normalisiert. Es wird normal, dass ein Soldat die Entscheidungsgewalt darüber hat, mich in Gewahrsam zu nehmen – für 15 Tage, für drei Monate oder ein Jahr. Das ist der Preis, den wir für die Blase, in der wir jetzt leben können, zahlen müssen.

Ich weigere mich, noch von einem Ausnahmezustand zu sprechen, denn es ist bereits ein ganzes Ausnahmejahr, ein permanentes Regime der Menschenrechtsverletzung. Und ich weigere mich auch, über die Person Bukele zu sprechen. Die Kräfte, die Bukele kontrollieren, sind nicht sichtbar. In Gana, der Partei, die Bukele an die Macht gebracht hat, hatten sich die schlimmsten Elemente der vorherigen Regierungen von Arena und FMLN vereint. Die Verbündeten von Bukele sind die schlimmsten Figuren dieser Parteien und der politischen Kräfte dahinter.

Wie geht es weiter?

Wenn man das politische Geschehen in El Salvador noch verändern will, muss man gegen die Wahlen im kommenden Jahr sein. Wenn man als Partei an ihnen teilnimmt, unterstützt man die verfassungswidrige Wiederwahl von Bukele, man spielt ein Spiel nach Regeln, die so verändert wurden, dass es längst keine rechtsstaatlichen Garantien mehr gibt. Es ist das gleiche Spiel wie in Nicaragua und das Mega-Gefängnis ist Teil dieses Spiels. Das Regime zur Aussetzung der Menschenrechtsgarantien wird das ganze Jahr so weitergehen, denn erst 2024 wird gewählt. Und danach wird es noch schlimmer.

Ich schließe gerade eine Untersuchung zur Pressefreiheit ab, für die ich etwa 30 Journalist:innen befragt habe. Eines der wichtigsten Ergebnisse ist, dass es längst eine Selbstzensur gibt. Die Angst gewinnt. Ein Journalist sagte, er hätte bei seinen Recherchen früher immer seinen Presseausweis gezeigt und damit Situationen besser bewältigen können. Heute trägt er den Presseausweis nicht mehr bei sich, aus Angst vor Repressalien.

Die Bukele-Regierung hat wie ihre Vorgängerinnen auch mit den Gangs paktiert. Wie ist das Verhältnis zwischen Staat und organisiertem Verbrechen in El Salvador heute?

Ich denke, der Pakt ist nach wie vor intakt und es entwickelt sich eine neue Qualität des Verbrechens. Zum Beispiel diese Bilder von tätowierten Bandenmitgliedern bei ihrer Verlegung in das neue Gefängnis, die um die Welt gegangen sind. Ich sehe auf diesen Bildern nicht, dass der offizielle Diskurs, dass sie nur einmal am Tag essen, dass sie kein Sonnenlicht sehen würden, stimmt. Ich höre eine martialische Erzählung, die auf diesen Bildern nicht zu sehen ist. Da sind gut genährte Menschen zu sehen, die wahrscheinlich sogar Sport treiben. Seht euch dagegen Menschen an, die unschuldig im Gefängnis saßen. Sie sind blass, verängstigt und krank. So sieht Gefängnis aus, so müssten die Gang-Mitglieder auch aussehen, würde die Erzählung stimmen, die uns aufgetischt wird. Aber es ist eine Lüge. 

Du meinst, der Pakt zwischen Gangs und Regierung ist trotz Ausnahmezustand und inzwischen fast 65.000 Festnahmen weiter in Kraft?

Meine Analyse und die von Kolleg:innen ist, dass zurzeit die eine Mafia von einer noch mächtigeren Mafia überholt wird. Dabei sind die Eliten der Banden entscheidend. Sie haben sich infolge der Pakte mit den verschiedenen Regierungen über die Jahre immer weiter entwickelt. Mit der aktuellen Regierung haben sie echte Machtpositionen im Staatsapparat erlangt. Im Grunde sind es längst keine Gangs mehr, sondern es ist das organisierte Verbrechen, es sind Kartelle wie in Mexiko.

Kannst du das genauer erklären?

Der 13-jährige tätowierte Junge, der das Bild der maras geprägt hat, ist untergetaucht, im Gefängnis oder tot. Die Eliten der Gangs, die jetzt die Macht haben, brauchen die Jungs auf der Straße nicht mehr.  Die vielen Toten vom März 2022, dieser Bruch des Paktes und der Beginn des Ausnahmeregimes markieren eine Neuordnung der kriminellen Verhältnisse, nicht das Verschwinden des Verbrechens. Die gewachsene Macht der Banden verbindet sich mit den kriminellen Anteilen der Regierung.

Ich denke, dass wir auf dem Weg sind in einen „Narco-Frieden“. Mit anderen Worten: Man kann wieder Limo auf der Straße verkaufen, von einem Viertel ins nächste gehen, sich bis morgens in irgendeiner Diskothek betrinken, solange man anerkennt, dass hinter den Kulissen eine andere Macht tätig ist und man dazu schweigt. Verstößt man dagegen, ist die Gewalt wieder da, punktuell, vorübergehend. Das ist die Macht der organisierten Kriminalität.

Das heißt, die Straßengangs kommen nicht zurück?

Ich glaube, dass ihre Zeit vorbei ist, sie sitzen wirklich im Gefängnis. Stattdessen gibt es eine engere Verbindung zwischen organisiertem Verbrechen und Staat, ein neues Modell, eine neue Struktur. Wir bewegen uns von der mikrokriminellen Ebene, die sich sehr auf viele, aber doch bestimmte Gebiete konzentriert hat, zu einer Struktur, die auf lokaler Ebene nicht mehr so sichtbar sein wird. Dennoch bleibt die Angst der Menschen. Sie nehmen die Entwicklung hin, sie sind erleichtert angesichts des Verschwindens der Straßengangs und sie sind es gewohnt, zu schweigen. Die Angst und die Erleichterung sind die perfekte Kombination, um das neue Regime zu akzeptieren.

Ein Regime, das auf große Zustimmung zählen kann.

Es wird Jahre dauern, bis die Leute anfangen zu begreifen, dass die Gangs durch Armee und Polizei ersetzt wurden, dass derjenige, der eine Frau bedroht, vergewaltigt, ihr Schweigen fordert, der sie ermordet jetzt der Soldat ist. Der Schaden an der Demokratie und ihren Institutionen ist enorm, weil die gesamte Macht bereits gesichert ist. Es wird Jahrzehnte dauern, das rückgängig zu machen.

Die Parallelen zu Nicaragua, wo die Macht von der Ortega-Familie monopolisiert wird, und Guatemala, wo der Pakt der Korrupten die Politik dominiert, sind nicht zu leugnen.

Diese Form der Beziehung zwischen Staat, Narcos und Gewalt ist ein regionaler Trend. Dieses Modell lässt sich nicht unter dem Gesichtspunkt der formalen Macht analysieren. Es geht nicht um Präsidenten, Abgeordnete, Bürgermeister, sondern es geht um die faktische Macht dahinter. Wenn wir das nicht sehen, werden wir es nicht verstehen.

Ein Beispiel: El Salvador bekam Covid-Impfstoffe aus China, die sehr effizient verteilt wurden. So effizient, dass Impfstoff an Honduras gespendet werden konnte. Und an wen? An Gemeinden mit der größten Kontrolle über den Drogenhandel. Die Allianzen der faktischen Macht sind längst regional.

Das Interview führten Jana Flörchinger und Moritz Krawinkel.


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