Nachruf

Ein Leben im Einsatz für eine andere Welt

16.08.2023   Lesezeit: 4 min

Wir trauern um unseren Kollegen Dieter Müller (1959-2023), der am 12. August unerwartet in Mexiko gestorben ist.

Würde man der politischen Post-68er Generation, die heute herablassend als „Boomer“ bezeichnet wird, ein persönliches Denkmal setzen, wäre Dieter Müller seine Verkörperung. Das steht hier nicht, weil man in Nachrufen immer übertreibt. Nein, Dieter war ein in Italien und Spanien aufgewachsener, polyglotter Internationalist, dessen Heimat die Bewegung derer war, die sich für eine andere, gerechtere Welt einsetzten.

Im Gegensatz zu den 68ern, die mit der Vietnam-Solidarität wenig von Vietnam, aber viel vom Imperialismus wussten, kannte sich Dieter bis in die kleinste Verästelung politischer und ökonomischer Verhältnisse dort aus, wo er erst politisch aktiv war, um dann diese Politik zu Beruf und Berufung zu machen. Er war wie viele seiner Generation aktiv in der Solidaritätsbewegung mit den Befreiungsbewegungen in Mittelamerika und engagierte sich insbesondere für Guatemala. So kam er 1988 zu medico international, ohne sein Geographie-Studium zu beenden. Wozu auch.

Über 30 Jahre lang war er dann bei medico in unterschiedlichen Funktionen der Projektarbeit tätig: vom Mittelamerika-Referent über Leiter der Projektabteilung bis zu Leitungsverantwortung für verschiedene Außenbüros. Beim Aufzählen wird klar: Nie war es Dieter um Titel und Posten gegangen. Er wollte dort sein, wo er am nützlichsten war.

Wer neu zu medico kam, der musste mit Dieter sprechen, um das Herz von medico zu verstehen: die unbedingte Solidarität mit den Ausgeschlossenen, Ausgestoßenen und arm Gehaltenen. Das hieß bei Dieter auch, rückhaltlos die Fehler und das Versagen politischer Organisationen zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie vorgaben, in deren Namen zu sprechen und doch vor allen Dingen eigene Interessen verfolgten.

Wer mit Dieter Projektpartner:innen kennenlernen wollte, musste sich von der jeweiligen Hauptstadt weg bewegen. Dieter verachtete die zunehmend professionalisierte Entwicklungshilfe, die sich in schönen Büros mit guten Gehältern in den Hauptstädten des Südens einrichtete und zur Expat-Elite wurde. Er forderte von sich und anderen, sich ins Handgemenge der Ausschlusszonen zu begeben und sich dort mit den Menschen in deren komplexen Lebenswirklichkeiten zu bewegen.

Mit Unterstützung von Dieter entstand bei medico die Idee und Praxis der Inseln der Vernunft. Ein Beispiel war die Zusammenarbeit mit der guatemaltekischen Gesundheits- und Gemeinwesen-Organisation ACCSS. Mit seinen Freunden Elisabeth und Humberto, die er noch aus der Untergrundbewegung in Guatemala kannte, arbeitete er über Jahrzehnte an der Reparation einer vom Bürgerkrieg geschundenen Grenzregion Guatemalas zu Mexiko. Gemeinsam organisierten sie die Rückkehr von guatemaltekischen Flüchtlingen, kümmerten sich um die Wiederansiedlung geheimer Dörfer, die sich im Urwald vor dem Bürgerkrieg versteckt hatten, machten aus den auf der Flucht erlernten Fähigkeiten Berufsbilder, darunter die Ausbildung von Gesundheitspromotoren, die Zähne versorgen und kleine Operationen durchführen können. Inmitten der verlassenen Provinz Ixcán, die von Drogen- und Migrationsschmuggel lebt, errichteten sie ein ökologisches Vorzeigezentrum zur beruflichen und politischen Ausbildung von Jugendlichen.

Der unbedingte Wille von Dieter und seinen Kolleg:innen in Deutschland und Guatemala, solcherlei Inseln als Widerstandsnester gegen die Verwahrlosung und Vernachlässigung zu errichten, stand gegen jede Idee einer markt- und Marketing gerechten Projektarbeit. Ihm ging es immer um die bedächtige und vorsichtige Unterstützung derer, die Ideen einer emanzipatorischen Veränderung in die Tat umsetzen wollten. So etwas lange, klug und immer lernend zu begleiten, war Dieters Lebenselixier.

Als Dieter für medico nach Ramallah ins Westjordanland ging, schien das eher ein Job, um seine Erfahrung in der Durchführung großer kofinanzierter, also staatlich unterstützter Projekte zu nutzen. Er war eben auch ein sorgfältiger und mit allen Tücken des Abrechnungswesens vertrauter Projektarbeiter. Und trotzdem mied er auch in Ramallah die Blase aus internationalen Nichtregierungsorganisationen, die damals zuhauf in der palästinensischen Kapitale anzutreffen waren. Sie war für ihn Sinnbild einer Hilfe, die zum puren Geschäft geworden war. Stattdessen fuhr er regelmäßig in den Gaza-Streifen, eben in die Ausschlusszone, von der man nichts Wahrhaftiges weiß, sondern nur propagandistische Abziehbilder kennt. Dort traf er palästinensische Kolleginnen und Kollegen, die wie er an einem aufgegebenen Teil der Erde ausharren, weil es ihr akzeptierter Auftrag ist. Wer heute nach der Zukunft einer solidarischen Hilfe in katastrophalen Zeiten fragt, der kann eine Antwort in dieser Haltung finden.

Wie Dieter dieses unbedingte Leben in der Welt mit seinem Familienleben verband, bleibt ein Rätsel. Seine Frau Carmen, seine Kinder Chantal und Aljoscha und seine vier Enkel waren sein Haltepunkt in dieser andauernden Beschäftigung mit dem Unrecht und der Zerstörung, die Kolonialismus und Neokolonialismus angerichtet haben und anrichten.

Als Dieter nach über 30 Jahren medico verließ, war dies nur auszuhalten, weil er als Büroleiter für die Rosa-Luxemburg-Stiftung nach Mexiko ging. Wieder nach Lateinamerika, in seine zweite Heimat. Er war glücklich als Büroleiter der Stiftung, reiste viel, wieder auch in sein geliebtes Guatemala, dessen politische Entwicklung so trostlos ist. Er arbeitete wie immer – Tag und Nacht. Manche behaupten, er habe keine Zeit gehabt, sich richtig einzurichten. Aber auf Bequemlichkeit hat er bekanntlich nie Wert gelegt.

Nach kurzer schwerer Krankheit ist Dieter Müller am 12. August 2023 in Mexiko-Stadt viel zu früh gestorben. Wir sind untröstlich über diesen Verlust eines Unbeugsamen und in Gedanken bei seiner Familie und seiner Wahlverwandtschaft.

Die Kolleginnen und Kollegen von medico international


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