Im Jahr 2020 jähren sich zum zehnten Mal zwei große humanitäre und Natur-Katastrophen, die auch medico international stark verändert haben. Das Erdbeben in Haiti im Januar 2010 und die große Flutkatastrophe im Sommer in Pakistan haben der humanitären Hilfe in Deutschland und im Norden der Welt Millionensummen in die Kassen gespült. medico international erhielt in diesem Jahr über acht Millionen Euro Spenden für diese beiden Länder, die sich schwer miteinander vergleichen lassen, die aber eines gemeinsam haben: Fast zehn Jahre später taumeln sie auf den Abgrund zu. Unsichtbar und von der Weltwahrnehmung vergessen. medico aber hat über die jahrelange Kooperation mit Partnern in Projekten, die angesichts der strukturellen Verheerungen insbesondere in Haiti auch die Grenzen einer emanzipatorisch gedachten Hilfe aufzeigten, und durch viele Kontakte zu Intellektuellen vor Ort einen Zugang und eine Augenzeugenschaft erlangt. Es gilt dies zu Papier zu bringen.
Einer dieser Kontakte ist Mark Schuller. Seit neun Jahren will ich Mark Schuller treffen, weil seine Texte eine wesentliche Hilfe waren, um die Ereignisse zu verstehen, die sich nach dem Erdbeben in Haiti 2010 abspielten. Der US-amerikanische Anthropologe aus Chicago beschäftigt sich seit Jahren wissenschaftlich und als politischer Aktivist mit der Situation in Haiti. Er spricht fließend Kreol, hat Monate, wenn nicht Jahre in Haiti verbracht, und das nicht erst seit dem Erdbeben 2010. Sein teilnehmender und zugleich vorbehaltloser Blick, sein Netzwerk aus Beziehungen und seine Forschungen in den Lagern der Überlebenden des Erdbebens, in denen zeitweise 1,5 Millionen Menschen ausharrten, hat ihn neben dem haitianischen Filmemacher Raoul Peck zu einem der wichtigsten Augenzeugen der Katastrophe nach der Katastrophe gemacht: dem Versagen der internationalen staatlichen und parastaatlichen Hilfe wie der internationalen Nichtregierungsorganisationen.
Der hagere Schuller, der Chicago mit dem Fahrrad bewältigt und eine Thermoskanne dabei hat, in die fast ein Liter Kaffee passt, spricht flapsig darüber: „We totally screwed up.“ Wir haben es total vermasselt. Was witzig klingt, ist allerdings zu ernst gemeint. Denn er ist in seiner Kritik unerbittlich. Haiti sei das „Waterloo“ der NGOs gewesen. Er zählt auf: Statt die Regierung zu stützen und nach dem zu schauen, an das man hätte anknüpfen können, habe es eine „Tabula-Rasa-Mentalität“ gegeben. Das UN-Lager, eine Zeltstadt, die Schuller als Militärbasis der UNO bezeichnet, sei quasi der Regierungssitz gewesen. Dort sprach man Englisch, Haitianer kamen nur mit Sondergenehmigung hinein. Schuller berichtet, er hingegen habe einfach so hineingehen können.
Heute, neun Jahre nach dem Erdbeben, zeigt sich dieses erschütternde Scheitern auf dramatische Weise. Die gebildete junge Mittelschicht verlässt zu Hunderttausenden das Land. Die Regierung oder besser das, was von ihr noch übrig ist, ist selbst nach einem zehnsekündigen Erdbeben der Stärke 5,8 im Oktober 2018 in einem Dorf im Norden bereits auf internationale Hilfe angewiesen. Und die Straßenränder des Landes sind übervölkert mit Menschen, die im Staub auf notdürftig ausgebreiteten Decken irgendwelche Kleinigkeiten verkaufen. Was nach dem Erdbeben eine sinnvolle Überlebensstrategie war, ist zum Dauerzustand geworden. Für Schuller ist klar, warum: „Die Internationale Hilfe hat die sozialen Netzwerke, sozialen Institutionen, die Tradition des Teilens und den Zusammenhalt der Familien zerstört.“ Die kulturellen Annahmen und die Weltsichten der humanitären Hilfe müssten überwunden werden, wenn man die Fehler von Haiti nicht wiederholen will. Dafür sehe er bislang keinen Ansatz. Bis dato galt die Zauberformel, dass NGOs die Probleme lösen. In Haiti sei klar geworden, dass es ohne eine soziale Infrastruktur und eine legitime Regierung nicht geht.
Es gibt wenige so einleuchtende Beispiele wie Haiti, die zeigen, wie sehr der Kolonialismus und die bis heute fortgesetzte koloniale Haltung des Westens ein freies Haiti unmöglich machen, obwohl oder vielmehr weil die Sklaven Haitis die ersten waren, die sich 1805 selbst befreiten. Am Beispiel von Haiti und anderen Regionen, zu denen medico aufgrund langjähriger Partnerbeziehungen über eigene Zugänge verfügt, wollen wir von diesen Enden der Welt erzählen, die auch das Ende, also das letzte Ziel, der herrschenden Ordnung sind. Dabei geht es uns nicht darum, in dieser ohnmächtig auf den Abgrund zu taumelnden Ordnung Hoffnung zu stiften, die keine ist. Stattdessen versuchen wir, uns mit der haitianischen, aber auch mit der pakistanischen Erfahrung auseinanderzusetzen, die im medico-Kosmos ebenfalls 2010 begann.
Unser eigenes Ende, also unser Ziel wäre, daraus eine an diese Bedingungen gekoppelte neue Erzählung der Befreiung zu entwickeln, ein anderes Narrativ der Globalisierungskritik und der Ambivalenzen in der Globalisierung. Wir wollen Erfahrungen von den Enden der Welt sichtbar machen, um sie zu Ausgangs- und Bezugspunkten einer vielleicht trotz allem möglichen gemeinsamen Welt-Bürgerschaft werden zu lassen. Dabei folgen wir einer Methode, die der Theatermacher Milo Rau in seinem Stück „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ als die Methode der Verwandlung von implizitem in explizites Wissen bezeichnet. Implizit, uneingestanden, jedenfalls ohne ausdrückliches Bewusstsein wissen wir alle um unsere Verantwortung für die Enden der Welt. Doch nutzen wir dann ausgerechnet unser Mitleid, um diese Verantwortung nicht zu sehen und nicht wahrzunehmen. Wäre dieses Wissen explizit, müssten wir weitaus radikaler über Erfahrungen wie die haitianische oder pakistanische nachdenken, um ganz andere Vorstellungen von Solidarität und Internationalismus zu entwickeln.
Am Anfang der Reihe, die wir auf der medico-Webseite beginnen, steht deshalb das Interview mit Mark Schuller. Einmal monatlich wird es Texte und Reportagen geben, die sich bis zum zehnten Jahrestag des Erdbebens im Januar 2020 mit verschiedenen Aspekten der haitianischen Wirklichkeit beschäftigen, die immer in das Verhältnis zu uns gesetzt werden. Hinzu treten Erfahrungen aus Pakistan: Die großen Fluten von 2010 waren ebenso einschneidend für unsere Weltwahrnehmung, weil sich nun die Wirklichkeit eines großen asiatischen Landes vor uns auftat, die nur aus der Kolonialgeschichte heraus zu erzählen ist. Unter ganz anderen Bedingungen bewegt sich auch dieses medico-Projektland auf einen Abgrund zu, gegen den der syrische Bürgerkrieg nur ein bitterer Vorgeschmack sei. Werden wir aus der Peripherie schauend das Zentrum besser verstehen und verändern können? Das zumindest ist unsere Absicht.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!