In Zeiten von COVID-19 ist die Situation der Migrant:innen in Niger katastrophal. Ohne Geld und ohne Schutz sind sie vielfältigen Gefahren ausgesetzt. Im Norden Nigers kommen viele nicht nur bei der Durchquerung der Wüste ums Leben, sondern werden auch häufig Opfer von willkürlichen Verhaftungen. Ende Mai 2020 starben zwanzig Migrant*innen verschiedener Nationalitäten in der Ténéré-Wüste an Dehydrierung, nachdem ihre Fahrzeuge im Sand stecken geblieben waren. Laut „Alarme Phone Sahara“ berichteten Überlebende von der makabren Entdeckung weiterer 15 Leichen etwa zwanzig Kilometer von der ersten Tragödie entfernt.
In der Wüstenregion Agadez im Zentrum Nigers haben die Migrant*innen permanent Angst. Nicht vor Hitze und Durst, die nach wie vor Dutzende der Schwächsten töten, auch nicht vor Covid-19, obwohl es im Niger bis zum 15. Juni 980 Covid-19 Fälle gab, 66 mit tödlichem Ausgang. Trotz dieser grauenhaften Zahlen geben das Coronavirus und die Gefahren der Wüste den Migrant*innen nicht den größten Anlass zur Sorge. Laut den von Radio Alternative FM interviewten Migrant*innen auf der Durchreise überwiegt die Angst vor dem Gefängnis alle anderen Gefahren. Diese Angst hat nichts mit der Pandemie zu tun. Sie ist das Ergebnis des zunehmenden Drucks der Justiz auf Migrant*innen im Transit. Vor einigen Jahren richtete sich die Welle der Unterdrückung durch die Justiz nur gegen Schmuggler*innen, Transporteur*innen und Ghettobesitzer*nnen wegen ihrer Unterstützung so genannter irregulärer Migration. Doch seit 2016, dem Jahr der rigorosen Umsetzung des Gesetzes 2015-36 gegen die Schleusung von Migrant*innen, sind auch Migrant*innen selbst im Visier der Behörden.
Das Gesetz 2015-36: Ein Unglück für die Region und für die Migrant*innen
Heute, fünf Jahre nach seiner Verabschiedung, hat die strikte Durchsetzung des Gesetzes den Kritiker*innen Recht gegeben, die es als Unglück für die Region Agadez und als Gift für die Migrant*innen bezeichneten. So bezifferte der Regionalrat von Agadez die mit der rigiden Umsetzung dieses Gesetzes verbundenen wirtschaftlichen Verluste für die Region auf fast 65 Milliarden CFA-Francs. Wie ein heftiger Hurrikan hat es außerdem die Hoffnungen potenzieller Migrant*innen hinweggefegt und viele auf der Flucht vor den Gesetzeshüter*innen auf noch tödlichere Routen verwiesen. Die schädlichen Folgen des Gesetzes für die Region und seine negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte haben viele Organisationen und Institutionen dazu veranlasst, seine Aufhebung oder zumindest seine Revision zu fordern. Der seitens der EU präferierte Sicherheitsansatzes zur Migrationssteuerung wurde leider von den Behörden an der Spitze des Staates übernommen und davon rücken sie nicht ab. Trotz ihrer Unzufriedenheit über die Zusammenarbeit mit den EU-Ländern übt die nigrische Regierung im Sinne der EU weiterhin Druck auf die Migrant*innen aus und greift dabei neben den Sicherheitskräften zunehmend auch auf Richter*innen zurück.
Die Liste der in Untersuchungshaft festgehaltenen Migrant*innen wächst seit Anfang 2020. Wie viele es insgesamt sind, ist jedoch nicht öffentlich bekannt. Alternative Espaces Citoyens (AEC) hat zusammen mit der regionalen Zweigstelle der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) drei Prozesse dokumentiert, die seit Februar 2020 in der Region Agadez gegen ganze Gruppen von Migrant*innen durchgeführt wurden. (Neben diesen kollektiven Prozessen gibt es noch Reihe weiter Prozesse gegen einzelne Migrant*innen, die als Schmuggler*innen beschuldigt, verhaftet und gemäß Gesetz 2015-36 festgehalten werden.) Die Massenprozesse fanden nach einem Aufstand in den Transitzentren statt, wo sich einige Migrant*innen weigerten, mit neuen Rückkehrer*innen aus Algerien zusammenzuleben, weil sie eine Ansteckung mit dem Corona-Virus fürchteten, und sich außerdem nicht mit einer Verlängerung ihrer Internierung über die 14-Tage-Frist hinaus abfinden wollten.
Niger: Verlässlicher Partner der EU bei der Migrationssteuerung
Die von den Gerichten verhängten Urteile sind nicht hart, da die im Zuge der Proteste inhaftierten Migrant*innen ihre Freiheit wiedererlangt haben. Soweit AEC bekannt ist, hat jedoch keine*r von ihnen eine Entschädigung erhalten. Es muss jedoch laut und deutlich gesagt werden, dass die wiederholte Inhaftierung von Migrant*innen und ihre kollektive Verurteilung zu solchen Mindeststrafen an sich schon Anlass zu großer Besorgnis gibt. Diese Prozesse senden die falschen Signale, was die Menschenrechte in Niger anbelangt. Sie zeigen, wenn es eines Beweises bedürfte, dass der Schutz der Rechte von Migrant*innen nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste der Behörden dieses Landes steht, das als guter Partner der EU bei der Steuerung von Migrationsbewegungen gilt.
Darüber hinaus hat das Justizsystem bei der Festnahme und Inhaftierung der Migrant*innen nicht berücksichtigt, dass es sich um sehr vulnerable Menschen handelt, die lange und traumatische Reisen hinter sich haben. Trotz der Einschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie und der Schließung der Grenzen schiebt Algier weiterhin massiv und ohne Rücksicht auf Rechte und Wohlergehen Migrant*innen aus Subsahara-Ländern ab. Diese Kollektivausweisungen sind willkürlich und stellen einen Verstoß gegen die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeiter*innen und ihrer Familienangehörigen dar, der Algerien als Vertragsstaat angehört.
Aus Algerien verjagt, in Niger inhaftiert
Dennoch macht Algerien brutale Jagd auf subsaharische Migrant*innen, lädt sie wie Vieh auf Lastwagen und transportiert sie mit hoher Geschwindigkeit durch die Wüste, um sie nahe der Grenze zu Niger zu entsorgen. Mitten in den Sanddünen ausgesetzt, ohne Wasser und Nahrung, sind sie gezwungen, Dutzende von Kilometern zu laufen, um Assamaka zu erreichen, die erste nigrische Kleinstadt nach der Grenze etwa 200 Kilometer nördlich der Bergbaustadt Arlit. Auf dieser gefährlichen Reise kommt es sehr häufig vor, dass die Schwächsten aufgrund von Durst und großer Hitze sterben. Wer in Assamaka ankommt, wird unter Quarantäne gestellt und von der IOM betreut, die sich auch um den Weitertransport nach Agadez kümmert. Migrant*innen, die sich bereit erklären, am Programm für unterstützte freiwillige Rückkehr und Reintegration (AVRR) teilzunehmen, werden an die IOM-Aufnahmezentren oder die von der Regionaldirektion für Zivilstand, Migration und Flüchtlinge verwalteten Transitstandorte für Rückkehrer*innen verwiesen.
Die Migrant*innen, die in Agadez und Arlit inhaftiert waren, gehören zu den Überlebenden dieser leidvollen Migrationsreise. Wenn man sich ihre Geschichten anhört, kann man verstehen, warum die meisten von ihnen lieber in der Wüste sterben würden, als verhaftet zu werden. Die Silhouette eines Mannes in Uniform macht ihnen mehr Angst als das Coronavirus. Die Inhaftierungen von Migrant*innen im Niger fanden mitten in der COVID-19-Krise statt, während der die UNO die Regierungen aufrief, die Untersuchungsgefängnisse zu entlasten und „ältere und kranke Insass*innen sowie Straftäter*innen mit geringem Risiko“ freizulassen, und die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, die Freilassung „aller Personen, die ohne ausreichende rechtliche Grundlage inhaftiert sind, einschließlich politischer Gefangener und Personen, die lediglich wegen der Äußerung kritischer oder abweichender Meinungen inhaftiert sind“, forderte.
Menschenrechte haben keine Priorität
Nach den von AEC gesammelten Informationen gab es zahlreiche Verstöße gegen internationale Menschenrechtsstandards. Bei der Durchführung der Prozesse wurden Mindeststandards die Garantie eines Anwalts oder einer Anwältin nicht eingehalten, und es war nur ein Dolmetscher im Gerichtssaal anwesend, um die Kommunikation zwischen den Richter*innen und einigen Angeklagten zu erleichtern. Abgesehen davon entsprach die Behandlung der Migrant*innen während ihrer Haft nicht den internationalen Menschenrechtsstandards. In Niger ist die Situation in Bezug auf die Achtung der Grundrechte von Gefangenen generell sehr besorgniserregend, da die Gefängnisse baufällig und überfüllt sind und nicht die Mindeststandards in Bezug auf Gesundheit, Hygiene und Nahrung erfüllen. Laut einer mit dem Fall vertrauten Quelle, die um Anonymität bat, erhielten die in Arlit inhaftierten Migrant*innen während der gesamten Dauer ihrer Inhaftierung nur eine Mahlzeit pro Tag. Das bedeutet, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, die lebensnotwendigen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, denen er die Freiheit entzogen hat. Er hat gegen seine Verpflichtung zur Einhaltung der Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe verstoßen.
Jetzt sind Menschenrechtsverteidiger*innen am Zug, um die nigrische Regierung dazu zu bringen, den wiederholten Verletzungen ihrer internationalen Verpflichtungen ein Ende zu setzen.
Übersetzt und bearbeitet von Ramona Lenz.
Original in voller Länge inkl. Quellenangaben findet sich hier: