Auf den Generalstreik vom vergangenen Freitag, der das ganze Land lahm legte und zu heftigen Auseinandersetzungen führte, folgt am Wochenende eine kurze Atempause zum Einkaufen und um kurz zu fühlen, was Normalität ist. Am Freitag hatte die Straße landesweit die Herrschaft übernommen und dem Präsidenten Jovenel Moïse, dessen Rücktritt seit Wochen gefordert wird, die Grenzen seiner Macht gezeigt. Selbst im letzten Winkel des Landes, so die Programmdirektorin des haitianischen Menschenrechtsnetzwerk RNDDH, Rosy Auguste, seien Polizeistationen in Brand gesetzt worden. Nur Spezialeinheiten der Polizei hätten verhindert, dass die aufgebrachte Menschenmenge zum Wohnsitz des Präsidenten stürmte. Mittlerweile heißt es, der Präsident halte sich versteckt. Und alle Spekulationen über seinen Aufenthaltsort werden aus Angst vor neuen Demonstrationen sofort dementiert.
Haiti ist die Welt
Am Freitag wurde nicht nur geplündert, nicht nur Banken und Autohäuser angesteckt, sondern auch kleine Läden in Brand gesetzt. Das wird hier nicht nur als Signal gegen den Präsidenten gelesen, sondern sorgt für extreme Unsicherheit. Rosy Auguste meint angesichts dieser Eskalation: Bislang habe man sich in bestimmten Armenvierteln unsicher gefühlt, nun könne sich in Haiti niemand mehr sicher fühlen.
Für Montag hat der oppositionelle Abgeordnete André Michel weitere Demonstrationen angekündigt – gegen die die Proteste vom Freitag harmlos gewesen seien. Tatsächlich haben 80 Prozent der Bevölkerung nichts mehr zu verlieren. Dass sie ihre Verzweiflung mit allen Mitteln auf die Straße tragen, sehen hier viele als legitim an, auch wenn sie die Gewalt wie ein Öffnen der Büchse der Pandora fürchten. Denn sie kann jeden treffen, der etwas zu verlieren hat. Und wenn es nur wenig ist. „Die Situation kann jederzeit völlig außer Kontrolle geraten“, so Fritz Alphonse Jean, ehemaliger Direktor der haitianischen Nationalbank. Er hat gerade ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Haiti – eine Ökonomie der Gewalt“. Die brennenden Reifen auf dem Titel des Buches habe er gewählt, weil er seit Jahren in Vorträgen darauf hinweise, dass die herrschenden feudalen Strukturen zwangsläufig zum Aufstand führen würden. Bei den Vorträgen würde die Zuhörer*innen bedächtig mit dem Kopf nicken. Und nichts unternehmen. Der Staat, so Jean, sei von wenigen Reichen gekapert worden. Haiti ist in dieser Hinsicht offenkundig eine der extremsten Formen politisch-ökonomischer Verzahnung, wie sie auch andernorts üblich ist.
Auch der Schriftsteller und Journalist Gary Victor, den wir im historischen Hotel Oloffson treffen, dem Schauplatz von Graham Greenes Roman „Die Stunde der Komödianten“, hat nur noch Worte der Verachtung für die gegenwärtige Regierung übrig. Sie sei Ausdruck eines feudalen Systems, das Haiti seit 200 Jahren beherrsche und die Bevölkerung ausbeute. Einzig die ausgegrenzten Menschen würden nicht aufhören zu kämpfen. Das sei schon immer so gewesen. Seine Befürchtungen sind groß, dass der chaotischen Situation, in der sich Haiti gerade befindet, eine Diktatur à la Duvalier folgen könnte, die sich auf die paramilitärischen Teile der Polizei und die Gang-Gewalt stützen könne. Weder Opposition noch Demonstrierende wollten das, aber es wäre die einzige Option, den gegenwärtigen Status Quo aufrecht zu erhalten.
Neue Ansprüche an die Demokratie
Nixon Moumba, der für den American Jewish World Service in Haiti arbeitet, die ähnliche Kooperationen mit lokalen Partnerorganisationen pflegt wie medico, betont ebenso wie Gary Victor, dass in Haiti eine Mehrheit der Bevölkerung auch gegen eine sie ausbeutende Elite im eigenen Land kämpft. Deswegen sei eine Politsprache, die nur auf alte Formeln der „Kritik am US-Imperialismus“ zurückgreife, nicht mehr zeitgemäß. Nixon Moumba kennt die neuen sozialen Bewegungen, die rund um den Korruptionsskandal um die venezolanischen Petrodollar entstanden sind. Sie sind auch Ausgangspunkt der derzeitigen Protestwelle. Diese Bewegung, so sagt der Aktivist, habe andere Ansprüche an demokratische Partizipation. Moumba, der von einer überwältigenden Energie getrieben wird, bleibt trotzdem auf dem Teppich mit seiner Einschätzung. Das Momentum der Bewegung sei großartig und von nicht zu unterschätzender Stärke. Es fehle aber an einer politischen Strategie, dieses Momentum in eine andere Politik der sozialen Inklusion und der ökologischen Transformation umzuwandeln.
Das Oloffson gehört zu den wenigen Gebäuden in Port-au-Prince, das noch aus Holz gebaut ist und dessen viele Giebel detailreich verziert sind. Der Blick fällt von hier auf das Meer und auf die Kunst des Restaurants, die in Gemälden und Skulpturen Bezug nimmt auf die Voodoo-Religion. Fast scheint die Welt der Inspiration, die trotz allem von Haiti ausgeht, hier noch in Ordnung. Wenn man aber Gary Victor, dessen Literatur tief in dieser Kultur verwurzelt ist, nach dem Einfluss evangelikaler Kirchen fragt, dann bricht es aus ihm heraus. Die evangelikalen Kirchen seien besser als Maschinengewehre. Sie töteten die haitianische Seele der Selbstbehauptung.
Desinteresse der globalen Öffentlichkeit
Am Montag werden die Proteste weitergehen. Und sie könnten noch gewalttätigere Formen annehmen, weil sich bei den Verantwortlichen nichts bewegt. Das Desinteresse der globalen Öffentlichkeit an diesen Ereignissen ist schlagend. Man gibt sich offenbar damit zufrieden, das alles für ein Ergebnis lokaler Unfähigkeit zu halten. So wie die haitianische Gesellschaft gezwungen ist, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen, wenn sie Wege aus der Krise finden will, muss sich aber auch die internationale Gebergemeinschaft mit der eigenen Verantwortung auseinandersetzen. Hier gab es mit 13 Jahren Dauer die längste UN-Militärmission. Sie kostete täglich eine Million Dollar. Sie war Teil dieses Pakts zur Verteidigung des Status Quo und hat vor allen Dingen zur weiteren Schwächung der haitianischen Institutionen beigetragen. Das zumindest ist die Bilanz von Pierre Esperance, dem Direktor des Menschenrechtsnetzwerkes RNDDH. Die Rolle der Weltbank und der internationalen Geber, diesen Status Quo des Ausschlusses der Mehrheitsbevölkerung aufrecht zu erhalten, ist einer tieferen Untersuchung wert. Dass nun die Ereignisse in Haiti, die durchaus von globaler Bedeutung sind, mit Wegschauen und Schweigen behandelt werden, offenbart nur, wie sehr die globale Politik in diesem Status Quo selbst verharrt. Die Millionen von Fridays for Future haben das zumindest deutlich gemacht.
In Haiti wie anderswo ist der Status Quo ist nicht mehr zu halten. Ob sich hier ein Weg findet, den politischen Willen und den Mut aufzubringen, eine Politik des Teilens mit und der Beteiligung von 70 Prozent der Bevölkerung, die unter zwei Dollar am Tag zur Verfügung hat, zu wagen, wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen. Vielleicht können wir dann von Haiti lernen.
Die weiteren aktuellen Haiti-Blogs von Katja Maurer:
1. Die haitianische Regierungskrise
2. Menschenrechtsarbeit im Parastaat
3. Vor dem Generalstreik
5. Das bloße Leben kämpft