Rede von medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer. Gehalten auf der Konferenz "Mission impossible am Hindukusch? - Zwischenbilanz der neuen internationalen Afghanistan-Politik" am 24.11.2009 in Berlin. Veranstaltet wurde die Konferenz vom Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO).
I.
Kriegerische Zustände herrschen in Afghanistan bekanntlich nicht erst seit gestern. Nicht die Lage ist neu, wohl aber der Minister, der sie kommentiert. Und da hat sich offenbar etwas verändert. Statt die Dinge weiter Schönzureden, könnte nun endlich auch dort Klartext geredet werden, wo über die Entsendung von Soldaten entschieden wird: im Bundestag.
Sie alle kennen die sprachlichen Verrenkungen, die in den letzten Jahren die Runde machten. Statt von Krieg war von Stabilisierungseinsatz die Rede, statt von Aufstandsbekämpfung von einer Friedens- und Wiederaufbaumission, von Soldaten als Aufbauhelfer - ja selbst von Tornados zur Planung von Infrastrukturprojekten, wie mir Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu versichern versuchten. Ein einziger Eiertanz, den wir, den entwicklungspolitisch tätige NGOs immer mit größter Skepsis verfolgt haben.
Warum? – Auch darum wird es gehen, wenn ich Ihnen im Folgenden die Lage in Afghanistan aus der Perspektive von Hilfsorganisationen, die vor Ort tätig sind, schildern werde. Ausgangspunkt für mich sind zunächst eigene Erfahrungen, Besuche vor Ort, Gespräche mit Partnern, dann aber auch die Erfahrungen meiner Kollegen bei medico international, schließlich all das, was andere NGOs berichten, was wir untereinander austauschen und zuletzt in einem gemeinsamen Positionspapier unter dem Dach von VENRO zusammengetragen haben. Dessen Forderungen werde ich Ihnen gegen Ende meiner Ausführungen im Einzelnen erläutern.
II.
Acht Jahre internationale Militärpräsenz in Afghanistan haben das Land am Hindukusch nicht sicherer werden lassen. Im Gegenteil: der STERN resümierte kürzlich:
Rafft man den Verlauf der vergangenen acht Jahre zusammen, ergibt sich folgende Gleichung: Je länger das internationale Engagement dort andauert, je mehr Soldaten und Milliarden gezahlt wurden, desto schlechter wurde die Lage. Egal, wie viele Schulen gebaut und Brunnen gebohrt wurden. Das klingt widersinnig und berechtigt zur Frage: Warum nicht einfach gehen?
Allerdings, die Frage ist nicht von der Hand zu weisen. Zumal sie auch die Stimmung widerspiegelt, die in Deutschland, aber auch bei vielen europäischen Nachbarn herrscht. Überall sinkt die Zustimmung zur Entsendung von Truppen; in Deutschland, Frankreich, Polen etc. ist längst eine Mehrheit dagegen. Und die Nachrichtenlage gibt den Kritikern des Militäreinsatzes Recht: nicht Frieden steht auf der Tagesordnung, sondern ein eskalierender Krieg.
Allein in diesem Jahr ist die Zahl der Angriffe der bewaffneten Opposition (Taliban u.a.) von 387 im Januar über 741 im Juni auf 1092 im August rapide angestiegen. Weiter zugenommen hat auch die Zahl der zivilen Opfer. Mit jeder weiteren Bombe, die in Afghanistan fällt, mit jedem weiteren Sprengstoffanschlag stirbt in Afghanistan die Hoffung auf Veränderung.
Dabei hat der Krieg längst auch die Regionen erreicht, die lange Zeit als sicher gegolten haben. Auch Kunduz im Norden, die Vorzeigeregion des deutschen Engagements, zählt heute zu den instabilen Landesteilen. Im Rahmen von OEF machen dort US-Einheiten Jagd auf die Taliban, und auch die ISAF, im Falle von Kunduz die Bundeswehr, wird immer stärker in Kriegshandlungen verstrickt. Von einer Trennung von OEF und ISAF in der Praxis kann kaum mehr die Rede sein.
Der Krieg eskaliert, und mit ihm hat sich die Sicherheitslage dramatisch zugespitzt. Betroffen ist in erster Linie die Bevölkerung Afghanistans. Auf absurde Weise werden die Menschen Afghanistans zu den Leidtragenden einer Intervention, die doch in ihrem Namen stattgefunden haben soll. Selbst die wenigen Erfolge, die in den zurückliegenden Jahren erzielt wurden: die verbesserte Gesundheitsversorgung beispielsweise oder die Beachtung der Rechte von Frauen stehen heute unter Druck.
In einer von Misereor unterstützten Klinik in Mazar-i-Sharif beispielsweise sind die Patientenzahlen zuletzt stark gesunken. Und dies nicht, weil die Menschen in Afghanistan heute gesünder sind, sondern weil sie sich einfach nicht mehr trauen, Krankenhäuser aufzusuchen. Insbesondere die ländliche Bevölkerung macht sich aus Angst vor Übergriffen gar nicht mehr erst auf den Weg in die Stadt.
Die medica mondiale musste Ende 2008 die Rechtsberatung von Frauen in Kandahar einstellen, weil es für alle, die Ratsuchenden wie die Anwältinnen zu gefährlich geworden ist, in einem immer frauenfeindlicher gewordenen Klima auf Frauenrechte zu pochen.
Vor allem in den ländlichen Gebieten Afghanistans, dort wo die Menschen so dringend Unterstützung benötigten, sind viele Hilfe- und Aufbauprojekte bereits zum Erliegen gekommen. Auch Kunduz ist betroffen.
Aufgrund der sich drastisch verschlechternden Sicherheitslage musste die Welthungerhilfe, die dort viele Jahre lang bei der Wiederankurbelung der Landwirtschaft geholfen hatte, ihre Aktivitäten zunächst reduzieren und schließlich ganz einstellen. Auch der Versuch, die Arbeit von einer Nachbarprovinz aus zu koordinieren, scheiterte. Immer wieder wurde das dortige Büro angegriffen: Anfang 2009 gar mit Granatwerfern. Als dann im Juli ein afghanischer Mitarbeiter bei einem Sprengstoffangriff ums Leben kam, war nicht mehr auszuschließen, dass die Welthungerhilfe als deutsche Organisation gezielt ins Visier der bewaffneten Opposition gekommen ist.
Schwierigkeiten haben aber auch Organisationen, die wie die Caritas, nicht mit eigenen Strukturen vor Ort sind, sondern ihre Unterstützung - sozusagen "low profile" - mit lokalen Partnern umsetzen. Die Arbeit leide, weil die lokalen Partner die Zuversicht verlieren, berichtet die Caritas. Afghanische Kollegen fürchten um ihre Sicherheit; das Vertrauen in die staatlichen Institutionen schwindet. Allzu oft sind Menschen, die im Kontakt mit ausländischen Organisationen stehen, ausgeraubt und entführt worden. Wer bei Straßensperren mit einer falschen Visitenkarte angetroffen wird oder in dessen Handy die Telefonnummer einer ausländischen Organisation gefunden wird, muss um sein Leben fürchten. Viele NGOs haben damit begonnen, ihre Unterstützung auf die vermeintlich sicheren größeren Städte zu konzentrieren: auf Kabul, Herat und Masar.
Von Januar bis September 2009 verzeichnete das NGO-Sicherheitsbüro ANSO 114 Übergriffe auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, bei denen 17 Personen ums Leben kamen. Zunehmend ist auch das Personal von Krankenhäusern, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen zum Ziel von Anschlägen geworden. Die Präsenz von ausländischen Soldaten bedeutet keineswegs mehr ein Mehr an Schutz, sondern ein zusätzliches Risiko.
Deutlich wird, dass das Ziel der internationalen Schutztruppen, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau des Landes zu schaffen, gescheitert ist. Afghanistan ist heute ein durchweg unsicherer Ort, ein Ort, der immer weniger von Aufbau und Entwicklung gekennzeichnet ist als eben von Krieg. Auch die afghanischen Partner von medico leiden darunter.
Mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützen wir seit vielen Jahren die Beseitigung von Minen und anderer explosiver Kriegshinterlassenschaften. Es mag Ihnen grotesk verkommen, sich inmitten von kriegerischen Zuständen um Formen konkreter Demilitarisierung zu kümmern, aber aus der Perspektive der afghanischen Bevölkerung ist diese Arbeit ohne Alternative. Ziel humanitären Minenräumens ist die Rückgabe von Land an Dorfgemeinschaften: um Nahrungsmittel anbauen zu können, über Weidefläche zu verfügen oder auch nur um zu wissen, dass die eigenen Kinder auf einem sicheren Schulweg unterwegs sind.
Lange Zeit ist die Arbeit unserer afghanischen Partner, mit denen wir bereits in den 90er Jahren in der Kampagne zum Verbot von Landminen zusammengearbeitet haben, gut vorangekommen. Nun sind auch sie einem stetig gestiegenen Risiko ausgesetzt.
Acht Mitarbeiter des Mine Dog Detection Center (MDC) sind in den letzten zwei Jahren bei Überfällen ums Leben gekommen; weitere 80 Mitarbeiter wurden entführt und kamen erst nach langwierigen Verhandlungen wieder frei. Fahrzeuge und Gerät im Werte von 500.000 Euro ging verloren, wobei nie geklärt werden konnte, ob die Taliban hinter solchen Übergriffen standen oder einfache Kriminelle, die auf diese Weise ihren Lebensunterhalt zu sichern versuchten. Viele Landesteile sind inzwischen auch für die Minenräumer zu "no go areas" geworden.
Die Gefahren aber könnten künftig noch größer werden. Kürzlich erschien auf einer Website das State Department ein Artikel, der voll des Lobes für die Arbeit der afghanischen Minenräumer war. Gepriesen wurde freilich nicht das Minenräumen selbst, sondern seine Funktion als Mittel der Aufstandsbekämpfung. Minenräumer, so der Artikel, bezögen einen Gehalt, weshalb sie weniger anfällig seien, sich der Opposition anzuschließen.
Exemplarisch wird das Problem deutlich: Schritt für Schritt sind in den letzten Jahren in Afghanistan humanitäre und entwicklungspolitische Vorhaben von der Dynamik des Krieges erfasst und strategischen Zielen untergeordnet worden. Der Bau von Schulen und Krankenstationen, das Räumen von Minen, die Förderung landwirtschaftlicher Alternativen zum Drogenabbau – all das muss nicht mehr nur eigenständige Ziele folgen, sondern wird von anderen als Mittel von Counterinsurgency betrachtet – und gerät somit auch ins Visier der bewaffnete Opposition.
Für die Partner, für NGOs wie medico, aber – so wie ich sie kenne – auch für die Kolleginnen und Kollegen in den zuständige Referaten des AA und des BMZ resultiert daraus durchaus ein Dilemma. Überzeugt von der zivilen Bedeutung von humanitären und Wiederaufbauprojekten, müssen wir doch feststellen, das eine solche Arbeit für strategische Zwecke in Dienst genommen und dabei mehr und mehr gefährdet wird. Umso notwendiger ist es deshalb für Hilfsorganisationen, auf Unabhängigkeit zu pochen.
Und das ist auch der Grund für die Kritik von NGOs an all den modernen sicherheitspolitischen Konzepten, die im NATO-Jargon "Comprehensive Approach", in Deutschland "Vernetzte Sicherheit" und in den USA, deutlich weniger verschwiemelt, "Integrated Civ-Mil Campaign Plan for Afghanistan" genannt werden. In der Konsequenz geht es in diesen Konzepten immer um die Unterordnung von Entwicklungszusammenarbeit und Aufbauhilfe unter militärische Ziele.
Mit schwerwiegenden Folgen: denn wenn militärische Interessen dominieren, dann orientieren sich Hilfeleistungen eben nicht mehr an den Bedürfnissen der Empfänger, sondern an den Interessen der Geber. In Afghanistan ist zu beobachten, wie das Gros der Hilfen auf die Landesteile konzentriert werden, die von strategischen Interessen sind, während vergleichsweise ruhige Provinzen, wie das Hazarajat, wo doch eigentlich ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau bestünde, weniger von Hilfen profitieren.
Wer genau hinschaut, entdeckt in dem internationalen Engagement in Afghanistan heute eine bemerkenswerte Umkehrung dessen, was in all den Jahren öffentlich bekundet wurde. Die Entsendung von Truppen dient nicht mehr dazu, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau zu schaffen, sondern sollen umgekehrt die zivilen Maßnahmen mithelfen, das militärische Handeln effektiver zu machen. Und das scheint uns der Kern aller militärischer "CIMIC"-Programme zu sein, so auch der "Provincial Reconstruction Teams" (PRTs) der NATO, von denen Deutschland eines in Kunduz und ein weiteres in Faizabad unterhält: sie entpuppen sich bei näherer Betrachtung als die Instrumentalisierung von Entwicklungszusammenarbeit für militärische Zwecke.
Die in VENRO zusammengeschlossenen NGOs lehnen solche Formen der zivil-militärischen Zusammenarbeit ab. Sie haben die Arbeit von NGOs in Afghanistan erschwert und Helfer, ausländische wie afghanische in den Verdacht gebracht, Parteigänger der Militärs zu sein. Sie tragen nun dazu bei, dass auch die Arbeit von Hilfsorganisationen in den Strudel des militärischen Scheiterns hineingezogen wird.
Vor dieser Gefahr hat VENRO übrigens schon gewarnt, als erstmals von Soldaten als Aufbauhelfer die Rede war. Trotz guter Argumente, alle nachzulesen in einem VENRO-Positionspapier aus dem Jahre 2003, konnten wir uns nicht durchsetzen. Nicht selten wurden wir sogar beschuldigt, doch nur Angst zu haben, dass uns mit der Bundeswehr ein Konkurrent entstanden sei, der uns die Pfründe streitig machen würde. Endlich tun unsers Jungs doch mal was Gutes. Was sollte daran schlecht sein.
Heute, wo sich der Rechtfertigungsnebel gelegt hat, sehen wir klarer: es sind grundsätzlich unterschiedliche Mandate, die Militärs und Hilfsorganisationen haben. Militärs gründen sich qua Verfassung auf einen territorialen Sicherheitsbegriff, der von nationalen Interessen getragen wird (Stichwort: es ist die Sicherheit Deutschlands, die am Hindukusch verteidigt wird), während sich Hilfsorganisationen am Begriff von "human security" orientieren, der vor einigen Jahren vom UNDP ins Spiel gebracht wurde und die Verwirklichung universeller Menschenrechte im Auge hat. Die Verteidigung partikularer Interessen aber ist etwas grundsätzlich anderes als das Bemühen um allgemeine, universell gültige politische und soziale Rechte.
Das zumindest aber wird nun deutlich. Es sind nicht die Bedürfnisse und Interessen der afghanischen Bevölkerung, die im Mittelpunkt stehen, sondern die Absicht, dass von Afghanistan keine Gefahr mehr für Deutschland und die internationale Sicherheit ausgehen darf, wie es im gerade erst verabschiedeten Afghanistan-Konzept der neuen Bundesregierung heißt.
Zwangläufig resultiert aus einer solchen Sicht eine Dominanz des Militärischen, und nicht von ungefähr dreht sich in den Debatten der deutschen Öffentlichkeit auch alles um dieses Thema. Es geht um die Sinnfälligkeit der Entsendung von Truppen, Tornados oder AWACS, Sicherheitskonzepte werden erörtert, die Traumatisierung der Soldaten beklagt, die Angemessenheit von Bombardements diskutiert, - all das fraglos von immenser Bedeutung, aber eben doch geeignet, die Nöte der Afghaninnen und Afghanen aus dem Blick zu verlieren.
Ganz anderes in Afghanistan. Spricht man da mit den Leuten, geht es um ganz andere Dinge. Das kam ja auch in den Ausführungen meines Vorredners zum Ausdruck. Aziz Rafiee hat keinen Zweifel daran gelassen, was die afghanische Gesellschaft zuallererst bedrückt. Ich will das gerne nochmals hervorheben. Vor zwei Jahren habe ich ihn in Kabul besucht, und wir hatten ein langes Gespräch über die wichtigsten Probleme Afghanistans. Das größte sei der Mangel an Zuversicht, der letztlich die gesamte afghanische Gesellschaft erfasst und zu einer Fragmentierung der Gesellschaft geführt habe.
Dann die grassierende Armut, die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und ineffiziente staatliche Strukturen – und schließlich, erst an fünfter oder sechster Stelle sprachen wir über den Krieg: die Auseinandersetzungen mit den Aufständischen und die Anwesenheit der ausländischen Truppen.
Damit wird eine völlig andere Perspektive deutlich. Und nimmt man die zum Maßstab, dann ist die Bilanz des internationalen Engagements in Afghanistan allerdings niederschmetternd.
Acht Jahre nach Beginn der Intervention ist Afghanistan noch immer eines der ärmsten Länder der Welt. Im "Human Development Index" des UN-Entwicklungsprogramms rangiert Afghanistan heute auf Platz 181. Die Lebenserwartung liegt bei 43 Jahren, und in vielen Regionen ist die Müttersterblichkeit die höchste der Welt. Die Arbeitslosigkeit der erwerbstätigen Bevölkerung liegt zwischen 50-70%
Von blühenden Landschaften, die den Menschen am Hindukusch mit der Ankunft der fremden Soldaten in Aussicht gestellt wurden, keine Spur. Weltweit sind etwa 85 Mrd. $ für den Militäreinsatz in Afghanistan ausgegeben worden und nur 7 Mrd. $ für den Wiederaufbau.
Was Wunder, dass die Zustimmung der afghanischen Bevölkerung zur Präsenz von ausländischen Soldaten sinkt. Lag sie 2007 noch bei 67%, ist sie 2008 auf 59% gesunken. Das ist zwar noch immer eine Mehrheit, doch ist es unterdessen auch eine Mehrheit, die sich unzufrieden mit der Art des internationalen Engagements äußert. Viele fürchten die Rückkehr der Taliban, sind aber zugleich enttäuscht mit dem, was ihnen die Intervention bislang gebracht hat. 70 Prozent der Befragten einer gerade veröffentlichen Studie von Oxfam nennen Armut und Arbeitslosigkeit als Hauptursache für den andauernden bewaffneten Konflikt in ihrem Land. An zweiter Stelle die schwache afghanische Regierung sowie Korruption. Die Taliban und die Einmischung von Nachbarstaaten werden als die dritt- und viertwichtigsten Ursachen angesehen.
So absurd es klingt: die Bundeswehr führt in Afghanistan heute Krieg, weil die Chance auf Schaffung von Frieden verspielt wurde. Viel zu viel Zeit habe man vergeudet, sagte Tom Koenigs kürzlich. Viel zu lange, so will ich ergänzen, ist man einer Strategie aufgesessen, die nicht wirklich die afghanische Bevölkerung im Blick hatte, sondern einen ominösen Krieg gegen den Terror, der Anspruch der NATO, so etwas wie ein globales Gewaltmonopols auszuüben, geostrategische Interessen, etc. etc.
Ob die Chance auf Frieden noch mal wiederkommen wird, das muss sich erst noch zeigen. Ohne eine grundlegende Korrektur der bisherigen Afghanistan-Politik jedenfalls wird sie nicht kommen. Frieden, das ist die Lektion, die aus Afghanistan zu lernen ist, basiert nicht auf militärischer Stärke, sondern auf dem Vertrauen der Menschen und einem glaubhaften Bemühen um soziale Gerechtigkeit.
Die Rolle, die NGOs unter Umständen, wie sie in Afghanistan herrschen, ausüben können, ist begrenzt. NGOs können einen Beitrag zur sozialen Entwicklung leisten, Friedenbemühungen fördern und Prozesse der Demokratisierung unterstützen, sie können aber nicht das ersetzen, was in Afghanistan so dringend gebraucht wird: funktionierende staatliche Institutionen, die den Rechten und Erwartungen der Bevölkerung auch entsprechen können. Ein verlässliches Rechtswesen, ein Ende von Korruption und Willkür. All das haben wir in den zurückliegenden Jahren immer wieder gefordert, auch die afghanische Zivilgesellschaft hat das getan, auch Aziz Rafiee, der immer wieder deutlich gemacht, dass mehr Druck auf Karsai ausgeübt werden müsse. Und da ist es schon verwunderlich, dass es erst einer nicht mehr zu verleugnenden Wahlfarce bedurfte, um den internationalen Druck auf Karsai zu erhöhen. Wer es früher hätte wissen wollen? - ein Blick in den Korruptionsindex von Transparency International hätte alles klar gemacht: in den letzten Jahren ist Afghanistan auf den vorletzten Platz abgerutscht ist, nur Somalia rangiert noch schlechter.
Soll Afghanistan noch eine Chance haben, dann ist eine grundlegend andere internationale Afghanistan-Politik notwendig.
1.
Um das schwindende Vertrauen der Menschen überhaupt noch zurückgewinnen zu können, bedarf es zuallererst eines starken Signals an die Menschen in Afghanistan, dass es nicht so weiter geht. Auch und gerade der Bundestag ist gefordert, das deutlich zu machen, wenn er am Anfang Dezember über die Verlängerung des Mandats für die Entsendung der Bundeswehr entscheidet. Jedes Weiter so! verbietet sich.
Wer aus dem Krieg herauskommen will, muss erkennen, dass es falsch gewesen ist, der NATO das Mandat für den Militäreinsatz zu übertragen. Angesichts der Bilanz des bisherigen Engagements sind die UN heute aufgefordert, über ein neues Mandat zu entscheiden, das die Sicherheitsinteressen der afghanischen Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt. Eine internationale Afghanistan-Konferenz, wie sie jetzt für Anfang des Jahres im Gespräch ist, könnte dazu beitragen. Sie müsste allerdings endlich all jene mit an den Tisch holen, die 2001 auf dem Petersberg ausgeschlossen waren: die Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft, die Frauenorganisationen, die Anrainerstaaten und weitere wichtige Akteure wie Russland oder China.
Fatal aber wäre es, wenn der Bundestag das Mandat für die Entsendung deutscher Soldaten einfach so verlängern würde. Stattdessen sollte er die Bundesregierung auffordern, alles zu untenehmen, um einem weiteren Engagement in Afghanistan eine andere Legimitationsgrundlage zu geben. Aus sich heraus, so Noam Chomsky vom angesehen MIT in den USA kürzlich im Interview, könne der Westen kein Recht beanspruchen, in Afghanistan militärisch präsent zu sein; darüber könnten nur die Afghanen selbst entscheiden.
2.
Ein konzeptioneller Neubeginn ist notwendig, der das, was bisher nur zur Rechtfertigung militärischer Ziele herhalten musste, zum tragenden Konzept macht. Statt Aufstandsbekämpfung ist zivile Konfliktlösung gefragt. Unerlässlich ist, überall dort, wo Entwicklung entsteht, auf regionaler und lokaler Ebene, mit allen relevanten Kräften, auch den Taliban, in Verhandlungen zu treten. Nur wenn es gelingt, im Konsens getragene Gemeinde- und Provinzverwaltungen aufzubauen, werden auch Wirtschafts- und Sozialprogramme fruchten und hat der Frieden eine Chance. Ermunternd sind dabei die Untersuchungen des Dachverbandes der in Afghanistan tätigen NGOs (ACBAR), mit denen die Wirksamkeit kommunaler Friedensarbeit in Afghanistan nachgewiesen wurde.
Es geht um einen Strategiewechsel, der sich nicht mit ein paar Millionen mehr fürs Zivile begnügt (um am Ende damit doch nur die Wirksamkeit des militärischen Engagements zu steigern), sondern um einen Plan, der den Weg frei macht für eine politische Lösung, die von der afghanischen Bevölkerung weitgehend selbst bestimmt wird.
3.
Zentrales Augenmerk muss auf die Zustandekommen rechtstaatlicher Strukturen, die Sicherstellung demokratischer Grundrechte und dabei nicht zuletzt der Rechte der Frauen gelegt werden. Mit Sorge betrachten wir in diesem Zusammenhang das auch von der Bundesregierung propagierte Konzept der "Selbsttragenden Sicherheit", das ein rasche Erhöhung der Afghanischen Sicherheitskräfte, sowohl im Militär als auch in der Polizei vorsieht. Angesichts der im Land herrschenden Korruption, angesichts grassierender Armut und Arbeitslosigkeit bedeuten mehr Militär und mehr Polizei nicht automatisch mehr Sicherheit für die Menschen. Wenn die afghanischen Sicherheitskräfte tatsächlich auf 130.000 Soldaten und 80.000 Polizisten aufgestockt werden sollten, wie es die Planungen der NATO vorsieht, dann würden die damit einhergehenden Kosten ein Drittel des afghanischen BIP betragen und das 5fache des gesamten Staatsbudgets.
4.
Dringend erforderlich ist es, den Aufbau staatlicher Institutionen zu fördern, die sich den Menschen verpflichtet fühlen und deren Erwartungen und Bedürfnissen auch entsprechen können. Eine sozialpolitische Offensive ist notwendig, um die Folgen der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Eine Wiederankurbelung der Wirtschaft wird ohne regulative Eingriffe, ohne Subventionen und andere protektionistische Maßnahmen nicht gelingen. Die bisherige Entwicklung hat gezeigt, dass es falsch gewesen ist, sich allein von der Liberalisierung der Märkte eine Erholung der afghanischen Wirtschaft zu versprechen. Es ist ein Unding, dass schon die Einrichtung einer Handelskammer, wie sie von der gtz betrieben wurde, von den USA als "kommunistisch" diffamiert wurde.
5.
So sehr wir auf rasche und spürbare Verbesserungen drängen, steht für uns doch auch fest, dass nachhaltige Veränderungen nicht von heute auf morgen gelingen werden. Voraussetzungen sind partizipative Prozesse, in die alle relevanten Akteure eingebunden werden müssen, begleitet von Verhandlungen und vertrauensbildenden Maßnahmen, um schließlich langfristig angelegte Aufbauprogramme zu definieren, die nicht von außen übergestülpt werden und am Ende nur der Legitimation bzw. der Absicherung von Truppenpräsenz dienen.
III.
Lassen Sie mich abschließend noch mal auf die Äußerungen von Verteidigungsminister Guttenberg zu sprechen kommen. In seinem Focus-Interview hat er auch gesagt, dass – und ich zitiere – "dass man in Afghanistan an seine Grenzen stößt, wenn man von einer Demokratie westlichen Stils zu träumen beginnt. Ein solcher Traum ist mit den Realitäten vor Ort nicht vereinbar. Auch dieser Traum hat uns viel Zeit gekostet".
Mit Blick auf die Verhältnisse, die in Afghanistan herrschen, mag auch darin etwas Zutreffendes zum Ausdruck kommen. Gewiss war die Idee naiv gewesen, das Modell des OECD-Staates nach Afghanistan exportieren zu wollen. Dennoch kann ich mich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass er für die Grenzen, auf die man in Afghanistan nun stößt, vor allem die Afghanen selbst verantwortlich machen will.
So notwendig realistische Einschätzungen sind, so wenig darf dabei übersehen werden, dass die Sache der Afghanen schon lange nicht mehr die Sache der Afghanen alleine ist. Auch der Westen hat über Jahrzehnte hinweg heftig Einfluss genommen. Mit dem Argument, Freiheit und Demokratie verteidigen zu wollen, hat er den Kampf der Mujaheddin gegen die sowjetische Besatzung finanziert. Später hat er zusehen, wie das Land von eben den Mujaheddin vollends in Schutt und Asche gelegt wurde. Er hat, in der Hoffnung, endlich wieder einen Garant für Stabilität gefunden zu haben, der sich obendrein noch als Bündnispartner in den Auseinandersetzungen mit dem Iran anbot, Mitte der 90er Jahre die Bildung der Taliban unterstützt. Und er hat dann 2001 erneut mit den Mujaheddin und Warlords gemeinsame Sache gemacht, als es darum ging, die Taliban wieder aus Afghanistan zu vertreiben.
2001, zu Beginn des internationalen Engagements, standen die Voraussetzungen für die Herausbildung demokratischer Verhältnisse nicht einmal schlecht. Mit großem Enthusiasmus beteiligten sich die Afghanen an der Loya Jirga und stimmten für eine neue Verfassung. Der Moment, in dem die Demokratie scheiterte, war, als der damalige US-Botschafter und die UN dafür sorgten, dass in der Loya Jirga neben den gewählten Delegierten auch 50 Plätze für die Warlords reserviert wurden. Es waren die Afghanen, denen mit diesem skandalösen Akt die Grenzen für den Traum ihrer Demokratie aufgezeigt wurden. Um sich selber die Finger nicht schmutzig machen zu müssen, hatte der Westen mit Kriegsverbrechern paktiert, mit anderen Worten: den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben.
Wer so vorgeht, muss sich nicht wundern, wenn Demokratie scheitert. Nicht eine vermeintliche Rückständigkeit der Afghanen steht dem Traum demokratischer Verhältnisse entgegen, sondern die Art und Weise wie der Westen in den letzten Jahrzehnten von außen eingegriffen hat. Taliban, Warlords, Milizen, Drogenbarone – sie alle sind nichts anderes als die Gespenster der Ruinen gescheiterter Interventionen.
Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit!