Proteste in Guatemala

Das Ende der Angst

25.06.2015   Lesezeit: 4 min

Die Zivilgesellschaft in Guatemala scheint in ihrer ganzen Breite die politische Passivität abgestreift zu haben. Was ist passiert?

Von Dieter Müller

„Sie haben uns alles weggenommen, auch die Angst.“ Dieser Satz war im Meer der Plakate bei dem ersten großen Protesttag am 25. April 2015 immer wieder zu lesen. Spontan hatten sich rund 20.000 Menschen im Zentrum von Guatemala-Stadt versammelt, vereint in grenzenloser Entrüstung über den Machtmissbrauch der guatemaltekischen Eliten. Seitdem hat sich der Protest ausgeweitet, zuletzt fanden jeden Samstag Großdemonstrationen statt.

Auch auf dem Land gibt es eine Vielzahl von dezentralen Protestaktionen. „Es war herrlich, total spontan und sehr kreativ“, so der Menschenrechtsaktivist Wilbert. „Wir wollen keine politischen Gefangenen, sondern gefangene Politiker“, diese Haltung bringe die Situation auf den Punkt.

Das Ende der Passivität

Wer Guatemala kennt, weiß, wie lähmend die allgegenwärtige Angst über Jahrzehnte gewirkt hat. Angst infolge der Grausamkeiten des Bürgerkrieges, angesichts der zunehmenden Militarisierung des Landes und der Kriminalisierung sozialer Proteste und von Menschenrechtsaktivisten.

Nun aber scheint die Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Breite die politische Passivität abgestreift zu haben. Was ist passiert? Unmittelbarer Auslöser der zivilen Rebellion waren die Enthüllungen in dem Bericht der UN-mandatierten Internationalen Kommission gegen die Straffreiheit (CICIG) und der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft über das Netz „La Linea“. Bei den Ermittlungen war ein Korruptionsnetzwerk ans Tageslicht gekommen, das bis in höchste Regierungskreise reichte.

Kampf gegen das organisierte Verbrechen

Unter anderem hatten sich Regierungspolitiker aus der Sozialkasse des Landes bereichert. Hinzu kommt, so ergänzt Maria, Psychologin bei der medico-Partnerorganisation ECAP, die Bedeutung des Genozid-Prozesses gegen Ríos Montt. Die Strafverfolgung des ehemaligen Diktators habe eine breite und kontroverse gesellschaftliche Debatte ausgelöst. „Im Zuge des Prozesses wurden Dinge an- und ausgesprochen, die zuvor Tabu waren. So haben Jugendliche angefangen, ihre Eltern oder Großeltern zu fragen, was in jener Zeit vorgefallen ist. Endlich tut sich etwas in Guatemala.“ Die Proteste haben dafür gesorgt, dass nach den Enthüllungen niemand wieder zur Tagesordnung zurückkehren konnte. Im Gegenteil.

Ranghohe Regierungsmitglieder wie Vizepräsidentin Roxana Baldetti sowie einige Minister mussten zurücktreten, die Staatsanwaltschaft nahm zahlreiche Angehörige staatlicher Institutionen fest. Geradezu spektakulär war, dass sich Präsident Pérez Molina – dem als einstigem General selbst massive Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges vorgeworfen werden – zuletzt für eine Verlängerung des CICIG-Mandats einsetzte, das im September 2015 auszulaufen drohte. Für den Kampf gegen die Strukturen des organisierten Verbrechens und ihre Verwicklung mit den Herrschenden sowie für den Aufbau einer unabhängigen, demokratischen Justiz, die auch die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit garantieren könnte, wäre das ein herber Rückschlag gewesen.

Eine neue, bunt gemischte Protestbewegung

Im Mai 2015 wurde das Mandat tatsächlich verlängert. Doch der Protest ließ sich nicht ersticken. „Auch Pérez muss gehen“, lautet die Forderung. Wenige Monate vor den anstehenden Wahlen im September 2015 wackelt sein Stuhl. Das Parlament hat eine Kommission einberufen, die prüft, ob ihm die Immunität entzogen wird, um zu klären, inwieweit er selber in die Machenschaften verwickelt ist. Auch wurde jüngst bekannt gegeben, dass der Völkermordprozess gegen Ex-Diktator Ríos Montt im Juli fortgesetzt wird.

Neu an der aktuellen Protestbewegung ist, dass sie nicht nur von progressiven Kräften getragen wird. Es ist eine bunte Mischung, in der Bauernorganisationen, Vertreter indigener Völker, feministische Gruppierungen, NGOs und alternative Medien plötzlich gemeinsam mit der urbanen Mittelschicht auf die Straße gehen. Studierende der öffentlichen San-Carlos-Universität stehen Seite an Seite mit ihren Kommilitonen von den großen privaten Hochschulen.

Chance zu grundlegenden Veränderungen

Auch die Bischofskonferenz von Guatemala hat sich hinter die Forderungen der Massenproteste gestellt. Ein gemeinsames politisches Projekt zeichnet sich darin zwar noch nicht ab. Dennoch: „Zum ersten Mal seit langer Zeit könnte die guatemaltekische Gesellschaft die große Chance zu grundlegenden Veränderungen haben“, schreibt Michael Mörth, Menschenrechtsanwalt beim medico-Partner Bufete de Derechos Humanos.

Gleichzeitig warnt er, dass sich das alte System nicht so einfach geschlagen geben wird. Anfang Juni 2015 wurde denn auch Francisco Palomo, Repräsentant der extremen Rechten und Strafverteidiger von Ríos Montt, auf offener Straße erschossen – möglicherweise ein Versuch, ein Klima der Unregierbarkeit zu provozieren. Doch die Angst scheint momentan verschwunden. Und das wirkt ansteckend. So fanden jüngst auch im benachbarten Honduras massive Proteste gegen die staatliche Korruption statt.

Seit 15 Jahren unterstützt medico die psychosoziale Arbeit im Rahmen der Aufarbeitung der Diktatur von Equipo de Estudios Comunitarios y Acción Psicosocial. Außerdem fördert medico das Bufete Jurídico de Derechos Humanos (BJDH) und die Comisión Internacional de Juristas (CIJ) im Kampf gegen die Straflosigkeit in Guatemala.

Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 2/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren oder online lesen!


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