Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan hatte das Referendum vom 13. September, das symbolträchtig am 30. Jahrestag des Militärputsches von 1980 stattfand, zum „Wendepunkt“ der Demokratisierung erklärt. Mit knapp 58 Prozent Ja-Stimmen wurde die Macht der Militärs weiter eingeschränkt. Der Artikel 15 der alten Putschverfassung von 1982, der den Generälen ewige Straffreiheit garantierte, wurde aufgehoben.
Schon am Tag danach kündigten Menschenrechtsvereine und Folteropfer an, die noch lebenden Putschisten anklagen zu wollen. Aus kurdischer Sicht war dieses Verfassungsreferendum dennoch ein Referendum der verpassten Möglichkeiten. In den ersten drei Artikeln der Verfassung steht weiterhin geschrieben, dass die Republik Türkei ein dem Nationalismus Atatürks verpflichteter unteilbarer Rechtsstaat ist, in dem es nur ein einziges Staatsvolk und eine einzige Staatssprache gibt. Der vierte Paragraf verbietet eine Änderung der ersten drei. Die Sperrklausel von 10 Prozent bei Parlamentswahlen, die vor allem die kurdische Opposition ausgrenzt, gilt weiter.
In den östlichen kurdischen Provinzen, aber auch in den westtürkischen Stadtvierteln mit vorwiegend kurdischer Bevölkerung, boykottierten weit über 50 Prozent der Wahlberechtigten das Referendum. Für Osman Baydemir, den Bürgermeister von Diyarbakir, ist dieser Protest als Wunsch nach weiteren kurdischen Rechten zu verstehen. „Ministerpräsident Erdogan sollte diese Chance nutzen“, betonte der wichtigste kurdische Lokalpolitiker, „wenn unsere Bevölkerung mit Nein gestimmt hätte, wäre für die AKP das Referendum verloren gegangen.“
Im neuen Verfassungsentwurf steht weiterhin der berüchtigte Artikel 301, der die „Herabwürdigung des Türkentums“ unter Strafe stellt. Nicht nur die Schriftstellerin Elif Afak, der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und zahlreiche Menschenrechtler, auch der armenisch-türkische Journalist und Autor Hrant Dink – der im Jahr 2007 von einem Rechtsextremisten auf offener Straße erschossen wurde – war zuvor wegen „Herabwürdigung des Türkentums“ verurteilt worden.
Anklagen ein Leben lang
Auch die jüngste Anklage gegen den Soziologen Ismail Besikci lässt vermuten, dass die Regierung Erdogan die Macht der kemalistischen Staatsbürokratie vor allem zum eigenen Nutzen beschneidet. So wurde das Anti-Terror-Gesetz (TKM) unter ihrer Regierung nicht liberalisiert, sondern verschärft. Ismail Besikci hat Erfahrung mit Anklagen und Gefängnisstrafen, sie begleiten ihn ein Leben lang. Erneut ist es ein wissenschaftlicher Aufsatz, der ihm den Vorwurf „terroristischer Gedanken“ einbringt. In seinem Text heißt es: „Die Kurden haben gekämpft und einen hohen Preis für ihre freie Heimat bezahlt. Syrien, Iran und die Türkei regieren die Kurden mit Zwang und Gewalt“. Und weiter: „Es ist ein Recht der Kurden, einen Kampf für Freiheit gegen diesen zwanghaften Zustand zu führen.“ Dem Autor drohen jetzt bis zu sieben Jahre Haft.
Besikci, selbst Türke, gebürtig aus Corum, wurde in der Vergangenheit unzählige Male angeklagt, die „Nationalgefühle zu zerstören oder zu schwächen“. In den letzten vier Jahrzehnten wurde der 71-jährige Soziologe zu insgesamt 100 Jahren Haft verurteilt, von denen er immerhin 17 Jahre im Gefängnis verbrachte. Er war der erste Mensch in der Türkei, der wegen „Gründung einer geheimen Ein- Mann-Organisation“ verurteilt wurde. Der bekannteste Kurden- und Minderheitenforscher seines Landes wird allein wegen seiner Studien verfolgt, in denen er ausführlich die Eigenständigkeit der kurdischen Sprache und Kultur beschreibt. Bereits 1971 verstießen ihn deshalb seine Kollegen von der Universität Erzurum.
In ihrem offenen Brief, dessen Ungeist heute noch erschreck, heißt est: „In seinen Schriften befasst sich Besikci mit den Kurden. Er erläutert, dass es, abgesehen von der türkischen Nation, eine eigene Nation gäbe, deren Sprache und Kultur anders als die türkische Sprache und Kultur seien. Die angesehensten Autoren und wissenschaftlichen Autoritäten haben jedoch bewiesen, dass diese Thesen wissenschaftlich nicht haltbar sind… Kurde sein heißt Türke sein. Es gibt auch keine kurdische Sprache… Diese Person verletzt unsere Würde als Person und Wissenschaftler. Deshalb sind wir an einer Verurteilung und einer entsprechenden Bestrafung dieser Person interessiert.“
Haft auf Haft
Eine Kette von Anklagen und Verurteilungen wurde seitdem gegen Besikci geknüpft. Er verlor seine Lehrbefugnis und arbeitete als freier Schriftsteller. Im eigenen Land wurde er geächtet und nur von wenigen linken Kollegen und Schriftstellern unterstützt. 1987 war Besikci einer der Kandidaten für den Friedensnobelpreis. Auch medico und der internationale PEN setzten sich für ihn ein. Seit seiner Haftentlassung Ende der Neunziger interessierte sich Besikci zunehmend auch für verfolgte Minderheiten wie die Aleviten, die Yeziden oder die syrischen Christen. Regelmäßig publiziert er und schreibt eine Kolumne für das kurdische Webportal gomanweb.
Auch bei seinem Auftritt vor dem 11. Strafgerichtshof zeigt sich der kleingewachsene Wissenschaftler mit der leisen Stimme kämpferisch. Er erklärte, die kurdische Existenz werde zwar in den Medien nicht mehr – im Gegensatz zu früheren Zeiten – geleugnet, aber es fehle weiterhin an dem Willen für eine politische Lösung. Ohne Meinungsfreiheit, so Besikci, sei auch eine „kurdische Öffnung“ des politischen Lebens in der Türkei nicht möglich: „Das freie Denken, die freie Kritik ist das wichtigste Kriterium der Demokratie“.
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Aktuell setzten sich zahlreiche Intellektuelle in der Türkei für die Freiheit von Ismael Besikci ein. Der Soziologe ist aber nicht der einzige, dem eine Verurteilung wegen seiner politischen Meinung droht. Am 10. August wurde der seit 1991 in Köln lebende Schriftsteller Dogan Akhanli bei seiner Einreise in die Türkei verhaftet. Die Anklage wirft dem deutschen Staatsbürger einen Raubüberfall aus dem Jahr 1989 und damit einen „versuchten Umsturz“ der verfassungsmäßigen Ordnung vor. Die Anklage stützt sich u.a. auf Folterprotokolle, die der Betroffene öffentlich bereits widerrief. Die türkische Staatsanwaltschaft stört das wenig. Sie scheint mit einem politischen Linken und Romancier abrechnen zu wollen, dessen hoch gelobte Bücher den Völkermord an den Armeniern von 1915 oder das Schicksal der jüdischen Diaspora in der Türkei zum Inhalt haben. Akhanli engagierte sich außerdem für die Aufklärung des Mordes an seinem Kollegen Hrant Dink. Am 18. Oktober beginnt zudem ein Massenprozess in Diyarbakir. Die Staatsanwaltschaft klagt 151 kurdische Politiker, Anwälte und Menschenrechtler an, das Land in eine „demokratische Republik“ mit „freien Kommunen“ im Sinne der verfemten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) umwandeln zu wollen. Das freie Wort und damit das Recht auf kulturelle Differenz, in diesem Fall der Kurden, muss in der Türkei weiterhin verteidigt und erkämpft werden. Das Stichwort lautet: Kurdistan.