Venezuela

Den Gegner anerkennen

01.08.2019   Lesezeit: 6 min

Was hat die Zuspitzung in Venezuela mit dem Scheitern der Linken zu tun? Was wäre ein friedlicher Ausweg? Fragen an Edgardo Lander

Wie kommt es zu der Zuspitzung in Venezuela?

Fast alle Parteien des Oppositionsbündnis Mesa de Unidad Democrática waren von der vorgezogenen Präsidentschaftswahl im Mai 2018 ausgeschlossen worden. Die Wahl war also mindestens fragwürdig. Maduro gewann, sein altes Mandat lief noch bis Januar 2019. Dann kam aus heiterem Himmel die Selbsternennung Juan Guaidós zum Interimspräsidenten. Begründet wurde dieser Schritt mit einem Machtvakuum infolge der Illegitimität der Wahl. Darüber gibt es eine verfassungsrechtliche Kontroverse. Fakt ist, dass die Selbsternennung Guaidós minutiös mit der US-Regierung abgestimmt war. Zuerst wurde die sogenannte „Lima-Gruppe“ gegründet, ein Zusammenschluss der rechten lateinamerikanischen Regierungen und Kanadas. Hier wurde beschlossen, Maduro nur noch bis Januar 2019 anzuerkennen. Am 5. Januar wurde Guaidó zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt, wo die Opposition seit 2015 die Mehrheit hat. Und als Guaidó sich am 23. Januar zum Interimspräsidenten ernannte, wovon die übrige Opposition völlig überrascht wurde, erkannten die Lima-Gruppe und die USA ihn sofort an – ebenso wie die europäischen Länder mit Ausnahme Italiens und Griechenlands. Einen Monat später verkündete Guaidó, dass über Kolumbien „humanitäre Hilfe“ nach Venezuela kommen würde. Dafür wurde eine große Show geplant, an der auch eine Reihe rechter Präsidenten aus der Region und US-Vizepräsident Mike Pence teilnahmen. Man dachte, es bräuchte nur einen kleinen Stoß, um Maduro zu stürzen.

Doch das war nicht der Fall?

Das Verständnis der venezolanischen Gesellschaft ist seit Beginn der Chávez-Regierungen vollkommen verzerrt. Die Opposition glaubt seit zwanzig Jahren, Chávez wäre ein Zauberer, der Venezuela mit einem Fluch belegt hätte, und man müsse nur den Fluch brechen, dann wäre alles wieder, wie vorher. Sie hat die tiefe politische Transformation Venezuelas nicht verstanden.

Wie würdest du die aktuelle Situation beschreiben?

Wir stehen vor der Gefahr eines Bürgerkriegs. Auf der einen Seite kontrolliert die Maduro-Regierung praktisch jede staatliche Institution, unterstützt von den Streitkräften, die keinerlei Zeichen von Spaltung zeigen. Außerdem – und das fehlt in vielen Analysen zu Venezuela – unterstützt nach wie vor ein signifikanter Teil der armen Bevölkerung die Regierung. Vielleicht sind es nicht mehr als 20 Prozent. Aber es sind Millionen Menschen, die in erheblichem Ausmaß von der Verteilung der Überschüsse aus dem Erdölexport profitiert haben und bereit sind, für das zu kämpfen, was sie als ihre Regierung betrachten. Das ist eine Macht, die auch Gewalt impliziert. Wenn man das ignoriert, ignoriert man, was Venezuela heute ist. Auf der anderen Seite gibt es die Guaidó-Fraktion, die den Moment gekommen sieht, Maduro loszuwerden. Und das wollen immerhin gut 80 Prozent der Bevölkerung. Doch das ist nicht die Hauptquelle von Guaidós Stärke. Die liegt im Willen der US-Regierung zum „regime change“.

Wie ernst ist das zu nehmen? Und lässt es sich mit älteren lateinamerikanischen Erfahrungen vergleichen?

Ich nehme das sehr ernst. Die venezolanische Ökonomie wird durch die aggressiven US-Sanktionen stranguliert. Venezuela kann sein Öl nicht verkaufen, kein Material für seine Industrien kaufen und hat keinen Zugang zu Krediten. Jede Woche werden neue Maßnahmen angekündigt. Kein Wunder, in den USA koordiniert mit Elliott Abrams ein buchstäblicher Kriegsverbrecher die Politik gegenüber Venezuela. Er war unter der Reagan-Administration zentral verantwortlich für die dunkelsten Vor-gänge in Lateinamerika. Und der Nationale Sicherheitsberater John Bolton war maßgeblich in den Krieg gegen den Irak involviert. Diese Leute reden nicht nur, sie sind reale Bedrohungen. Andererseits hat Guaidó wiederholt um eine US-Militärintervention gebeten – vergeblich. Beide Seiten spielen ein Nullsummenspiel, das auf die komplette Zerstörung des Gegners ausgelegt ist. Das ist keine Politik, das ist eine kriegsähnliche Situation, in der das einzige Ziel ist, das Gegenüber zu besiegen.

Was lässt sich dieser Konfrontation noch entgegenhalten?

Venezuela ist eine schwer bewaffnete Gesellschaft und es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Streitkräfte einfach kollabieren. Eine Lösung muss dabei beginnen, das Gegenüber anzuerkennen und zu verstehen, dass beide Seiten Teil eines zukünftigen Venezuela sein werden. In der Konsequenz braucht es eine Verständigung darüber, wie die Verbindung in der Gesellschaft wieder hergestellt werden kann. In diesem Sinne argumentieren wir von der Bürgerplattform zur Verteidigung der Verfassung, dass es ein konsultatives Referendum braucht, wie es in der venezolanischen Verfassung vorgesehen ist. So könnten die Venezolanerinnen und Venezolaner darüber entscheiden, ob sie eine grundlegende Erneuerung der Institutionen wollen – namentlich der Exekutive und des Parlaments. Das ist keine einfache Position angesichts der Polarisierung. Aber nur wenige wollen eine US-Intervention oder einen Militärputsch.

Wie könnte dieser Vorschlag angesichts drohender Wahlfälschungen funktionieren?

Wahlen machen nur Sinn, wenn wir eine neue vertrauenswürdige Wahlbehörde haben. Das wäre Teil der Verhandlungen für die wir die Unterstützung multilateraler Institutionen brauchen, vor allem der Vereinten Nationen. Kaum eine andere Institution hat hier noch Legitimität, auch nicht die sogenannte Kontaktgruppe aus der EU.

Du hast gesagt, Maduro muss gehen. Aber wer aus der Regierung würde darüber verhandeln?

Das ist die komplizierte Frage. Die Spitze des Militärs, der Regierungspartei und des Staates sind zu einer sehr kohärenten Gruppe verwachsen. Ihr Hauptinteresse besteht darin, die Kontrolle über die enormen Ressourcen zu behalten, die sie akkumuliert haben. Weil die Armee seit Jahren so einen großen Anteil an der Korruption hat, ist ein Bruch innerhalb der Streitkräfte sehr unwahrscheinlich. Aber wenn ich optimistisch bin, hoffe ich auf den nicht so radikalen Teil der Opposition, der anerkennt, dass Maduro nicht mit Gewalt aus dem Amt gejagt werden kann, sondern es Verhandlungen braucht. Und ich hoffe auf die Einsicht der Regierung, die verstehen muss, dass sie um ihr Überleben verhandelt. Je länger die Regierung in dieser absurden Situation verharrt und Verhandlungen verweigert, desto geringer werden ihre Chancen.

Wir alle haben große Hoffnungen in die linken Regierungen Lateinamerikas gesetzt. Jetzt erleben wir die Enttäuschung in Venezuela, Ecuador, Brasilien, gar nicht zu reden von Nicaragua. Was bedeutet das für die Linke?

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Gefühl, der Sozialismus ist am Ende, waren die progressiven Regierungen eine Art Wiedergeburt von Hoffnung und Möglichkeiten. Aber ich glaube, die Linke, insbesondere die traditionelle auf Partei und Staat fokussierte Linke hat die Dimension der Krise bislang nicht erkannt. Wir stehen nicht bloß vor einer Krise des Kapitalismus, sondern vor einer multiplen zivilisatorischen Krise: eine Krise kolonialer Modernität, eines Systems des Anthropozentrismus, des Patriarchats, des Rassismus. Solange dies nicht anerkannt wird und die Herausforderungen nicht simultan angegangen werden, verharren wir in dem Kalter-Krieg-Dilemma zwischen Imperialismus und Antiimperialismus. Diese linke Tradition war absolut unfähig zur Selbstkritik und hat nicht verstanden, warum was passiert ist. Und entsprechend lernt sie auch nicht, sondern wiederholt dieselben Dinge immer wieder. In Lateinamerika erleben wir derzeit das gleiche Dilemma wie die damalige europäische Linke, die den Stalinismus nicht kritisieren konnte, weil er Teil des antiimperialistischen Lagers war. Wenn man schaut, welche Länder heute proto-faschistische Regierungen haben, dann sind es vor allem die ex-kommunistischen Länder, in denen alles was nach Sozialismus oder Staatskontrolle klingt, abgelehnt wird, als Konsequenz aus traumatischen Erfahrungen. In Lateinamerika wird heutzutage das Wort Sozialismus zu einem Schimpfwort, als Konsequenz der Verweigerung der Linken, sich mit ihren Erfahrungen kritisch auseinanderzusetzen. Darüber müssen wir reden.

Das Interview führten Julius Bücher, Moritz Krawinkel und Katja Maurer.
 

Immer weniger Menschen können sich die vergünstigten Lebensmittel und Gesundheitsdienste des Kooperativenverbands Cecosesola leisten. Die medico-Partnerorganisation kämpft ums wirtschaftliche Überleben. Doch ihr Bemühen, solidarische Beziehungsweisen in Venezuela zu stärken, geht weiter.

Spendenstichwort: Gesundheit


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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