Cecosesola

Transformative Dynamik

08.10.2019   Lesezeit: 9 min

Über den Versuch, die Herrschaftsverhältnisse zu problematisieren, in denen Subjekte zu Objekten (gemacht) werden.

“Hilfe verteidigen, kritisieren, überwinden” lautet eine Maxime der Arbeit von medico international. Verteidigen müssen wir die Hilfe andauernd – sei es gegen die Konjunkturen kurzfristiger Aufmerksamkeitsökonomien, angesichts enger werdender Handlungsräume unserer Partnerorganisationen oder im Diskurs um die richtige Position in einem aufgeladenen Konflikt. Wir kritisieren die Hilfe vielfach, reflektieren (post-)koloniale Abhängigkeiten zwischen Geber*innen und Nehmer*innen, beziehen Stellung gegen den Philantrokapitalismus großer Stiftungskonzerne und verwehren uns der Instrumentalisierung von Hilfe in kriegerischen Auseinandersetzungen. Hilfe überwinden ist komplizierter, nehmen doch die Verheerungen in der Welt zu und damit auch der Bedarf an Hilfe. Insofern ist Hilfe als Projekthilfe, als Unterstützung eines Vorhabens zugunsten marginalisierter Gruppen, in der Regel unabdingbar, hat aber eben Nebeneffekte, die nicht immer geeignet sind, tatsächlich zu leisten, was Hilfe in unserer Vision auch immer soll: Emanzipation befördern.

Insofern wissen wir es zu schätzen, wenn eine Partnerorganisation sich auch gegen Hilfe von außen entscheiden kann, weil sie ihrem Emanzipationskonzept und dem Versuch, aus eigener Kraft etwas aufzubauen, zuwider läuft. Genau das hat uns unsere venezolanische Partnerorganisation Cecosesola jetzt geschrieben. Als selbstorganisierte Kooperativenbewegung, die neue solidarische Beziehungsweisen schaffen will, hat sie es nicht leicht in der venezolanischen Ölrentengesellschaft. Es gelingt den gut 1300 Cooperativistas von Cecosesola mithilfe ihrer Kooperativen, die so unterschiedliche Dienstleistungen wie Gesundheit, Versorgung mit Lebensmitteln oder Bestattungen umfassen. Dabei spielt die Teilhabe der cooperativistas an den Gemeinschaftsaufgaben eine große Rolle. In diesem Sinne werden auch alle wichtigen Entscheidungen gemeinschaftlich getroffen: Auf etwa 3000 Versammlungen unterschiedlicher Größe im Jahr. Das braucht Zeit und Raum, beides gibt und nimmt sich Cecosesola.

Mit medico teilt Cecosesola die Idee einer Transformation zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Beziehungen und setzen in diesem Sinne auf eine Fortsetzung und Vertiefung des Prozesses eines voneinander Lernens. Aber in der konkreten Arbeit der Kooperativen, so schreiben die cooperativistas, wollen sie vorerst (und nicht grundsätzlich-dogmatisch) keine Projekthilfe von außen mehr in Anspruch nehmen, sondern die Arbeit aus sich selbst heraus verstärken.

Was das bedeutet, beschreibt Cecosesola in diesem Text:

Transformative Dynamik

Von Cecosesola

Wir leben und bewegen uns in einer Kultur, welche die Art von Beziehungen fördert, die auf dem Haben beruhen. Unsere Gefühle (Wünsche, Ambitionen, Ängste) konzentrieren sich in der Regel auf den Kampf um die Anhäufung von Macht, Reichtum und Wissen. Diese Emotionen manifestieren sich in einer Wettbewerbslogik, die manchmal offen zutage tritt, sich dann aber auch in den Beziehungsgeflechten sozusagen „versteckt“ oder immanent befindet. In der Regel allerdings mit dem Ziel, den möglichst größten Teil des Kuchens für den persönlichen Vorteil oder den meiner Referenzgruppe (Familie, Organisation, Land) zu gewinnen. In dieser – de facto – Kampfsituation spielt die Suche nach wirtschaftlicher, politischer und/oder religiöser Macht eine herausragende Rolle.

Diese Emotionen, die zu den Grundlagen unserer westlichen Kultur zählen, behindern jedweden Transformationsprozess, der z.B. vom Staat oder sogar von Versuchen der kollektiven Selbstverwaltung ausgeht und angeleiert wird. Die meisten Versuche, transformative Prozesse anzustoßen, tendieren daher meist in die Richtung, sich in der Form, aber nicht wirklich inhaltlich zu verändern. Umgangssprachlich gesagt endet es mit der gleichen Musik auf einem neuen Notenblatt.

Zum Beispiel scheint sich die Fortpflanzung dieser utilitaristischen Beziehungen, wie wir sie nennen, soweit wir in den historischen Beispielen sehen können, nicht verändert zu haben, wenn der Staat zum Eigentümer der Produktionsmittel wurde. Selbst wenn versucht wird, das Arbeitsmanagement zu verändern, bleibt die Tendenz bestehen, die gleiche hierarchische Struktur der Beherrschung und Kontrolle zu verfolgen. Es handelt sich ja immerhin darum, den Anderen/die Andere/das Andere als Subjekt und als jeweils legitime(n) Andere(n) mit dem dazu unerlässlichen Respekt zu begegnen, anstatt ihn/sie/es zum Objekt meiner Interessenverwirklichung zu machen.

Häufig ist jedoch die Tendenz zu beobachten, dass auch wir in die Falle derselben utilitaristischen Beziehungsmuster tappen, sogar wenn wir versuchen, Formen kollektiven Eigentums einzuüben, um Machtverhältnisse sozusagen per Dekret zu beseitigen, motiviert durch eine „So muss es doch sein“-Denkweise oder wie in einer Idylle, in der „das Kollektiv“ als magische Lösung angesehen wird. Die Freiheit, die vermeintlich per Dekret bzw. Absichtserklärungen möglich wird – ohne die Begleitung eines Transformationsprozesses, bei dem berücksichtigt wird, dass wir alle kulturelle Wurzeln haben, die mehr im Haben denn im Sein angelegt sind – hinterlässt ein Machtvakuum, das schnell durch den Kampf um die Durchsetzung persönlicher Interessen aufgefüllt wird.

Diese Reaktion kennen wir zuhauf und mit noch geballterer Kraft im Kontext unserer venezolanischen Ölrentenkultur. So entstehen in einigen Fällen gewaltträchtige Beziehungen mit Versuchen, die Gelegenheit ellbogenartig zu nutzen. In anderen Fällen endet die Macht, der wirtschaftlichen Effizienz wegen, wieder in den Händen einiger weniger, die dann meist dieselbe traditionelle utilitaristische Beziehung reproduzieren.

Sogar in den Fällen, in denen wir ein Management erreichen, in dem Fortschritte beim Aufbau gerechter und respektvoller Beziehungen erzielt werden, widerfährt dem Prozess häufig das Geschick, sich nur innerhalb der Organisation zu entfalten. Es ist ein stark auf die Gruppe beschränktes „Wir“. Gegenüber denen von „außerhalb“ neigen wir dazu, uns auf diesen Gruppenindividualismus zu beziehen, der das utilitaristische Muster wiederholt.

Obwohl es nun den Anschein erweckt, dass wir in einem Teufelskreis gefangen sind, gibt es mögliche Wege, ihn zu durchbrechen. Die herrschende Kultur neigt zwar dazu, uns glauben zu machen, dass die Emotionen, die den Kampf ums Haben anregen, das Wesen menschlicher Natur und daher unveränderlich sind; dennoch haben wir tief in uns auch den Wunsch und die Sehnsucht, in harmonischen Beziehungen zu leben. Jede Kultur verstärkt die Emotionen, die ihre Handlungen kennzeichnen.

In unserem kooperativ-kommunitären Prozess gestatten wir uns Freiräume mit der Absicht, eine transformative Dynamik zu erzeugen, die unseren Wunsch steigert, in harmonischen Beziehungen zu leben und das Wohlbefinden zu genießen, das entsteht, wenn wir uns vom Kampf ums Haben entfernen und Menschen sind, wir Beziehungen leben, die sich um den Aufbau von Respekt, Gerechtigkeit und gegenseitiger Unterstützung zu allen/allem Anderen bemühen. Von daher ist es notwendig, all jene Arten von Beziehungen zu berücksichtigen, die in unserer Kultur verwurzelt sind und die dazu führen können, dass ein Bildungsprozess der kulturellen Transformation hinterfragt und reflektiert wird. Das ist nichts anderes als eine emotionale Veränderung, durch die die utilitaristische Beziehung, die von der Kultur, in der wir geschaffen wurden und deren Teil wir auch weiterhin sind, langsam und auch mit Rückschlägen, transzendiert werden kann.

Unser Erziehungsprozess wurde nie vorgezeichnet, geschweige denn im Voraus geplant, sondern ist ein Produkt der Intuition und ständigen Reflexion im Verlauf eines jahrzehntelangen Prozesses.

Seit der Gründung von Cecosesola vor über 50 Jahren haben wir kooperatives Wirtschaften nicht als Selbstzweck gesehen, sondern als Chance, durch einen kulturellen Transformationsprozess Menschen mit sozialem Engagement zu sein. Dieser Prozess erfordert Freiräume, die es uns ermöglichen, Fehler zu machen und verantwortlich zu sein (oder auch nicht); auf diese Weise können in den alltäglich auftretenden Situationen diejenigen Emotionen, die uns zu der einen oder der anderen Haltung bewegen, offenbar und kollektiv reflektiert werden. Dazu wurde es notwendig, über traditionelle Organisationsformen hinauszugehen und so die volle Teilhabe an der täglichen Arbeit auszubauen und zu vertiefen.

Im Rahmen traditioneller Organisationsformen werden diese Frei(heits)räume in der Regel durch Maßnahmen eingeschränkt, die auf Kommandostrukturen und bürokratischen Spaltungen und Verästelungen beruhen. Daher ist es für uns notwendig geworden, über hierarchische Beziehungen hinauszugehen und die mentalen Mauern unserer kulturellen Formation abzubauen, die tiefe Trennungen in menschlichen Beziehungen schaffen.

So einfach ist unsere Methodik: Wir eröffnen Freiräume, die den Ausdruck der uns bewegenden Emotionen erleichtern, so dass von dort und aus der kollektiven Reflexion ein Bildungsprozess entsteht, der die Beziehungen zwischen Respekt, Gerechtigkeit und gegenseitiger Unterstützung vertieft, begleitet von der Entstehung von Vertrauen, einer überraschenden kollektiven Kreativität und einer tiefreichenden Identifikation mit unserem Transformationsprozess.

Das Komplexe ist, dass es eine Methodik ohne Methode ist. Es gibt weder Verfahrenshandbücher noch „Werkzeugkästen“. Jede menschliche Gruppe muss ihren eigenen Weg innerhalb der Komplexität menschlicher Beziehungen finden, die tief von unserer kulturellen Bildung beeinflusst sind.

Die Qualitäten jedes Prozesses werden durch die vorherrschenden Emotionen in einer bestimmten Gruppe bestimmt, die durch unseren kulturellen Kontext gekennzeichnet sind. Es besteht also immer das Risiko, dass die Freiräume nicht als transformative Möglichkeit, sondern als Chance für individualistische Ausbeutung genutzt werden.

Angesichts einer venezolanischen Realität, die sich praktisch täglich ändert, haben wir zu überleben geschafft, indem wir Lösungen für jede entstehende Herausforderung fast im Handumdrehen erfunden haben. Ein Beispiel findet sich auf dem Land, wo die Landwirtschaft aufgrund des dramatischen Mangels und der skandalösen Kosten für Betriebsmittel einer extremen Situation der Dekapitalisierung ausgesetzt war. Angesichts dieses Dilemmas, das unsere kleinen landwirtschaftlichen Erzeuger dazu nötigte, ihre Ernten auf weniger als die Hälfte zu reduzieren, bemühen wir uns, unseren Finanzierungsfonds zu potenzieren, indem wir bei den landwirtschaftlichen und städtischen Genossenschaften die Prozentsätze aus den Erlösen erhöhten, die in den gemeinsamen Topf zur Finanzierung von Investitionen gehen. Dieser Fonds ist nun in erster Linie für den – angesichts der galoppierenden Inflationsrate – schnellen Ankauf von Saatgut und anderen landwirtschaftlichen Betriebsmitteln bestimmt, was einen sehr wichtigen Einfluss auf die Erholung der Produktion hatte.

Eine weitere Herausforderung, der wir uns stellen mussten, besteht darin, die Auswirkungen der Inflation auf die Lebensqualität unserer Vollzeitkooperativist*innen, die wir uns tagtäglich im Prozess unserer Kooperative einbringen, zu verringern. Aufgrund der Auswirkungen der Hyperinflation sind wir alle einem erheblichen Rückgang unseres Realeinkommens ausgesetzt. Aus diesem Grund haben wir z.B. einen Medikamentenfonds geschaffen, um allen cooperativistas und ihren Familienmitgliedern, die Teil des Netzwerks sind, verknappte und überteuerte Medikamente selbst zur Verfügung stellen zu können. Wir haben eine Art eigener Krankenkasse, die einen hohen Prozentsatz von Krankheitskosten übernimmt. Wir entwickeln Aktivitäten (Verkauf von Produkten auf den Wochenmärkten seitens derjenigen, die eigentlich ihren wöchentlichen Ruhetag haben), um unsere Sparkasse zu stärken und so Kredite zu sehr niedrigen Zinsen für Haushaltsausgaben bereitstellen und/oder die wenigen privaten Fahrzeuge (Modelle des letzten Jahrhunderts) zu reparieren zu können, die wir sonst stillstehen lassen müssten. Angesichts der hohen Unsicherheit und des Mangels an Verkehrsdiensten in der Stadt haben wir mit unseren Fahrzeugen außerdem Routen festgelegt, um den Transport von cooperativistas von Zuhause zu unseren Aktivitäten und zurück zu erleichtern.

Dieselben finanziellen Schwierigkeiten, die sowohl persönlich als auch für uns als Organisation aufgetreten sind, haben uns zum Nachdenken angeregt und dazu ermutigt, die Tiefe unseres persönlichen Engagements für den Kooperationsprozess einmal mehr unter Beweis zu stellen. Während sich Widrigkeiten und Bedrohungen vermehren, nehmen unsere Kreativität und unsere kollektive Fähigkeit, uns angesichts der Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, neu zu erfinden, tendenziell zu. Wir haben das Gefühl, dass die Tatsache, dass wir uns gemeinsam in ständiger Reflexion mit ihnen auseinandersetzen, uns stärkt und uns auf die neuen Schwierigkeiten vorbereitet, die mit Sicherheit kommen werden. Das große Interesse, das unser mehr als 50-jähriger Weg international geweckt hat, verpflichtet uns noch mehr, alle Anstrengungen und Ressourcen zu aktivieren, damit ein solcher Prozess nicht nur nicht stirbt, sondern sich vielmehr vertieft.


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