Venezuela

Im Konsens

11.07.2017   Lesezeit: 8 min

Jorge Rath von Cecosesola über die politische Situation in Venezuela, ihre Auswirkungen auf die Kooperative und den Transformationsprozess für den sie steht.

medico: Was ist Cecosesola?

Jorge Rath: Cecosesola ist ein Netzwerk von Kooperativen, ein offener Prozess, eine Organisation. Wir sitzen in Barquisimeto, der Hauptstadt des Bundestaates Lara, 350 Kilometer von Caracas entfernt. Der Ursprung von Cecosesola war 1967 die Gründung eines kooperativen Bestattungsinstituts. Später haben wir uns im Kontext von Protesten gegen Fahrpreiserhöhungen an einem kooperativen Transportunternehmen versucht. Da wir den ursprünglichen Fahrpreis beibehalten wollten, wurde der Widerstand der privaten Unternehmen, zusammen mit der Stadt- und Bundesregierung aber so stark, dass wir arg Federn gelassen haben und kurz vor dem Bankrott standen. 

In der Folge haben wir uns entschieden, unseren eigenen Prozess so autonom und selbstverwaltet wie möglich voranzubringen und zu vertiefen. Wir wollen mit den Menschen in kommunitären Projekten für bessere Lebensbedingungen arbeiten, nicht nur über Dienstleistungen, sondern über einen individuellen und kollektiven Transformationsprozess hin zu mehr solidarischen und weniger hierarchischen Strukturen und Beziehungen.

Wie sah das konkret aus? Wie habt ihr das Ende abwenden können?

In dieser Situation kam der Vorschlag einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, das dort produzierte Gemüse ohne Zwischenhandel über uns zu verkaufen. Das fing an mit fünf Kisten Tomaten, fünf Kisten Kartoffeln und fünf Kisten Salat und war der Keim dessen was heute unsere fünf großen Wochenmärkte sind, auf denen inzwischen wöchentlich ca. 70.000 Familien einkaufen. Produziert wird dafür in landwirtschaftlichen Produktionskooperativen oder familiären Betriebe, die von Pasta über Reinigungsmittel oder Honig alles Mögliche herstellen und diealle Teil des Gesamtprozesses Cecosesola sind.

Ein weiteres Standbein neben den Märkten ist unser Gesundheitsnetzwerk, in dem im vergangenen Jahr 220.000 Menschen versorgt wurden, über 1700 chirurgische Eingriffe wurden vorgenommen. Das Bestattungsinstitut läuft auch weiter und hat zurzeit 20.000 Bestattungsabkommen. Außerdem pflegen die Kooperativen ein Spar- und Darlehenssystem.

Übernehmt ihr nicht eine Rolle, die eigentlich der Staat erfüllen müsste? Vor allem die Gesundheitsarbeit ist doch staatliche Aufgabe.

Wir sind uns der Gefahr bewusst, dass wir mit so einem großen Projekt wie Cecosesola den Staat zu einem Teil aus seiner Verantwortung entlassen können. Aber gleichzeitig hat es ja seinen Grund, warum unser Gesundheitsbereich so gewachsen ist – er ist einfach für zu viele Menschen die einzige Alternative. Ein staatliches Krankenhaus, das hier eigentlich hätte gebaut werden sollen, ist nie entstanden. Das ist dann eben unverantwortlich gegenüber dem Volk.

Zwar müssen die Menschen auch bei uns etwas bezahlen, wir können die Behandlungen und Medikamente nicht umsonst zur Verfügung stellen, sondern müssen den Betrieb mit eigenen Mitteln abdecken. Aber bei uns werden die Patient_innen immer noch zu Tarifen behandelt, die durchschnittlich halb so hoch sind wie in anderen Gesundheitseinrichtungen.

Außerdem sinken die Versorgungsstandards in den staatlichen Behandlungszentren immer weiter. Ein Beispiel: Der Preis für die Tabletten-Schachtel eines Medikaments, das normalerweise nach der Geburt eines toten Fötus verabreicht wird, lag vor einigen Jahren bei 2000 Bolivar. Offiziell ist es heute nicht mehr verfügbar. Aber auf dem Schwarzmarkt kostet eine Tablette 35.000 Bolivar.
 

Du sprichst die schlechte Versorgungslage an. Wie schätzt ihr die politische Situation in Venezuela ein?

Dazu muss ich sagen, dass wir als Cecosesola uns nicht zur politischen Konjunktur äußern; das entspricht unserer Philosophie der politischen und religiösen Neutralität. Wenn ich mich äußere, dann als Einzelperson.

Ok.Wie siehst du die Lage im Land?

Ganz deutlich ist, dass das Vorhaben der letzten 17 Jahre, also der sogenannte bolivarianische  Revolutionsprozess, gescheitert ist. Dieses Projekt gibt es nicht mehr. Es geht der Regierung ums Überleben als Regierung und der Opposition geht es darum, die politische Macht im Lande zu bekommen – wobei sie in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich ist. Die Gewalt, die in den Medien stark hervorgehoben wird, ist zwar auf beiden Seiten vorhanden. Was ich insbesondere in den deutschen Medien verfolge ist aber sehr einseitig. Da hört es sich so an, als würden brave Menschen auf die Straße gehen und dann von Polizei und Nationalgarde brutal niedergemacht.

Was auch eher untergeht, ist, dass Venezuela die größten bekannten Erdölreserven hat. Trotz der gefallenen Preise gibt es insofern auch ein internationales Interesse, aus China, den USA und von anderen, die wohl ein Auge darauf geworfen haben. Es geht also bei den Gedankenspielen um eine Intervention in Venezuela nicht nur um humanitäre Hilfe, wie es letztens in der New York Times dargestellt und gefordert wurde, sondern um handfeste Wirtschaftsinteressen.

Hältst du denn eine Intervention für wahrscheinlich?

Das hängt letztlich davon ab, wie sich das Militär positionieren wird. Stützt die militärische Führung die Regierung weiter? Dafür spricht vor allem, dass viele hohe Militärs in verschiedenen staatlichen Institutionen untergekommen sind oder direkt als Minister fungieren. Die Wirtschaft Venezuelas ist im Grunde vom Militär kontrolliert. Wenn das Militär Präsident Maduro aber doch fallen lassen sollte, könnte die Situation durchaus so instabil werden, dass eine Intervention von außen denkbar ist. Klar ist, dass weder Regierung noch Opposition ein Konzept für die venezolanische Wirtschaft haben, das nicht auf dem weiteren Ausverkauf der Bodenschätze auf insgesamt 112.000 km2 südlich des Orinoco-Flusses vor allem an transnationale Unternehmen beruhen würde.

Wie viel Legitimation hat die Regierung Maduro noch?

Um ihre Legitimation wieder herzustellen hat Maduro eine neue verfassunggebende Versammlung einberufen. Das Ganze ist eindeutig ein taktisches politisches Manöver, um der Forderung nach Neuwahlen etwas entgegen zu setzen. Die verfassunggebende Versammlung erfüllt allerdings bei weitem nicht die demokratischen Anforderungen wie das noch bei der verfassunggebenden Versammlung 1999 unter Hugo Chavez der Fall gewesen ist. Damals fand eine Volksbefragung statt, bei der sämtliche Kandidaten für die Versammlung frei gewählt werden konnten und nachher, als der Vorschlag komplett auf dem Tisch lag, fand noch eine Volksbefragung statt, ob die neue Verfassung angenommen wird oder nicht. Heute wird per Präsidenten-Dekret einberufen und gleich ein Teil der Kandidaten für die Versammlung gesetzt.

Nachdenklich macht das Projekt einer neuen Verfassung natürlich auch deswegen, weil es die ganzen Jahre immer und immer wieder hieß, wir hätten die beste Verfassung der Welt.

War der Chavismo eurem Projekt und dem Kooperativ-Gedanken förderlich?

Wir haben nicht unbedingt Aufwind erfahren durch die chavistische Bewegung oder Regierung. Ich denke, es war weder förderlich noch hinderlich. Wir haben unseren Prozess weitergeführt, machen das auch jetzt im Rahmen der Verknappung weiter. Was aber hervorzuheben ist, ist, dass zuletzt eine ganze Reihe kommunaler Räte, die ja letztlich auch Regierungsinitiativen sind, auf uns zugekommen sind und gefragt haben, was sie zum Lebensmittelverkauf beitragen können.

Das sah dann so aus, dass viele kommunale Räte mitgemacht haben bei der Organisation der kilometerlangen Menschenschlangen, die ja nicht nur vor unseren Toren, sondern vor allen Lebensmitteleinrichtungen standen und immer gewalttätiger abliefen. Drei Menschen sind in den Schlangen vor unseren Wochenmärkten getötet worden und die Nationalgardisten, die wir riefen als wir keinen anderen Ausweg sahen, sagten, sie hätten keine Mittel und keine Fahrzeuge. Wenn wir ihnen Lebensmittel gäben würden sie vielleicht kommen.

Das heißt bei aller Distanz zur Regierung arbeitet ihr schon mit staatlichen Institutionen zusammen?

Wir sind offen für alle Ansprachen, sei es die Regierung, die Stadtverwaltung, kommunale Räte oder die amerikanisch-venezolanische Handelskammer, die uns einlädt, um über unseren Prozess zu berichten. Dann überlegen wir bei Cecosesola und treffen eine Entscheidung, ob es sinnvoll für uns ist, an diesem Gespräch, oder jenem Forum teilzunehmen. Wir behalten uns das Recht vor, abzuwägen, ob wir eine bestimmte Kooperation wollen oder nicht. Vor allem wegen der vielen Familien, die zu unseren Wochenmärkten kommen, hat Cecosesola in Barquisimeto einiges an Gewicht sodass wir also manchmal auch sagen können, das passt uns nicht.

Auch im Gesundheitsbereich gibt es punktuelle Absprachen. Beispielsweise hat die Stadtverwaltung gerade angefragt, ob bei uns chirurgische Eingriffe stattfinden können, die im Vorhinein aus einem städtischen Fonds bezahlt werden. Im Vorhinein, weil es schlechte Erfahrungen damit gibt, wenn im Nachhinein bezahlt werden soll. Ein anderes Beispiel ist, dass wir mit praktisch allen Universitäten in Barquisimeto kooperieren.

Wie trefft ihr solche Entscheidungen?

Cecosesola ist vor vielen Jahren, nicht von Anfang an, aber vor vielen Jahren, dazu übergegangen, Zeit für Entscheidungen im Konsens zur Verfügung zu stellen. Bei uns heißt Konsens nicht unbedingt, dass alle 20.000 Mitglieder der Kooperativen in einem Fußballstadion zusammenkommen und sagen müssen, dass sie einverstanden sind. 
 

Es geht eher um einen Prozess, in dessen Verlauf die 1300 Hauptamtlichen von Cecosesola sich zusammensetzen und in kleinen und großen Versammlungen Kriterien für unsere Entscheidungsfindung herausarbeiten. Da das ein Prozess ist, der jetzt schon 20, 25 Jahre läuft, gibt es eine lange und gute Gesprächserfahrung und damit die Möglichkeit, über diese vielen vernetzten Versammlungen relativ zügig zu Konsensentscheidungen zu kommen. Wenn aber gesagt wird, hier sind noch einige, die sind damit nicht einverstanden, weil Erstens, Zweitens, Drittens, dann wird eine Entscheidung nochmal auf Eis gelegt und solange darüber geredet bis wir zu einer Lösung kommen.

Das heißt, der oder die Einzelne hat ein Veto-Recht.

Ja. Wenn ich einen Einwand begründe und denke, dass etwas nicht mit einer bereits getroffenen Entscheidung oder dem Weg, den wir grundsätzlich gehen wollen, übereinstimmt, dann kann ich von meinem Veto Gebrauch machen.

Das durchzuhalten ist unsere Herausforderung. Durch die derzeitige Verknappung der Lebensmittel sind beispielsweise die Tage der Wochenmärkte immer länger geworden. Das geht morgens um 5 Uhr los und manchmal sind abends um 22 Uhr immer noch Menschen da, die Schlange stehen für ein Kilo Zucker. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht überrollen lassen von der hohen Nachfrage nach unseren Dienstleistungen und dadurch unseren eigenen Transformationsprozess nicht mehr durchführen können.

Das Interview führten Karin Urschel und Moritz Krawinkel.
 

medico international unterstützt den Aufbau einer Blutbank im Gesundheitszentrum von Cecosesola. Bisher muss die Kooperative Blutkonserven bei kommerziellen Anbietern kaufen und die Kosten den Patient_innen in Rechnung stellen. Eine eigene Blutbank erhöht die Unabhängigkeit des kooperativen Gesundheitsnetzwerks und verringert die Behandlungskosten.


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