Montag Vormittag in einem heruntergekommenen Gewerbegebiet von Barquisimeto, 200 Kilometer westlich von Caracas, der Hauptstadt von Venezuela. Auf den Straßen verbeulte Autos, Hunde und hunderte Menschen, mehrheitlich Frauen, aber auch viele Männer, die in langen Schlangen um eine große Halle herum warten. Trotz des Andrangs geht es zügig voran, am Schalter zeigen sie ein Kärtchen vor und bekommen eine Nummer zugeteilt, mit der sie am kommenden Wochenende Zugang zum Wochenmarkt von Cecosesola bekommen. Dieses Anmelde-System, Tage vor dem eigentlichen Markt, wurde notwendig als der Andrang größer und die Auseinandersetzungen in den wachsenden Schlangen gewalttätig wurden.
Der Kooperativen-Verband betreibt in Barquisimeto zwei kleinere und drei große Wochenmärkte, auf denen pro Wochenende 800 Tonnen Lebensmittel verkauft werden. Allein in die größte Markthalle strömen knapp 40.000 Menschen um Obst, Gemüse und andere Dinge des täglichen Bedarfs einzukaufen. Angesichts der explodierenden Inflation können sich jedoch viele die einfachsten Produkte nicht mehr leisten. Ein halber Mindestlohn für eine Tüte Milchpulver, ein Zehntel für Shampoo. Und die Preise bei Cecosesola liegen schon deutlich unter denen eines normalen Supermarkts.
Ob es Privilegien für die Mitglieder der Kooperative gibt? Ricardo, ein junger Mann, der uns an diesem Tag im alten Geländewagen der Kooperative fährt, sagt: „Die Kooperative gehört zur Gemeinschaft, aus der sie entsteht. Uns geht es nicht darum, Vorteile für uns zu schaffen, sondern für alle Menschen.“ Ricardo verkörpert das Prinzip Cecosesola: Er arbeitet als Wachmann, Koch, Reinigungskraft und in der Chirurgie des kooperativen Gesundheitszentrums. Dafür bekommt er den Einheitslohn von Cecosesola, der wöchentlich ausgezahlt wird und deutlich über dem staatlichen Mindestlohn liegt. Über die Versammlungen, die ständig stattfinden, ist er an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt.
Versammlungen, Einheitslohn, Rotation
„Cecosesola ist kein Gemüsevertrieb“, sagt Jorge Rath, der seit vielen Jahren dabei ist. „Cecosesola ist ein kollektiver Transformationsprozess, der unsere Beziehungen zueinander und zu den Menschen, die unsere Dienstleistungen nutzen, verändert.“ Auf etwa 3000 Versammlungen im Jahr entscheiden die 1300 festangestellten Cooperativistas basisdemokratisch über alle wichtigen Belange. Das kann zwar schon mal länger dauern, wenn eine Debatte in verschiedenen Versammlungen geführt wird, auf denen jedes Mitglied ein Vetorecht hat, aber dabei können sie inzwischen auf eine gewachsene Gesprächskultur bauen, die sich in jahrelanger Auseinandersetzung entwickelt hat. Gerade angesichts der Schwächung der sozialen Bindungen in der aktuellen Krise ist das wichtig, betont Jorge: „Wir stärken den Dialog und den sozialen Rückhalt, untereinander und über Cecosesola hinaus. Das ist viel wichtiger als die ökonomischen Fragen.“ Ricardo betont, dass es dabei nicht um Kollektivismus gehe, sondern um Diversität; darum dass die Cooperativistas sich gegenseitig ergänzen, Stärken und Schwächen ausgleichen. Das sei vor allem ein reflexiver Prozess, der immer wieder an Grenzen stoße und dann andere Wege ausprobieren müsse.
Dass beides zusammen geht, zeigt ein Beispiel, von dem Teresa, die bei Cecosesola und an der Universität von Barquisimeto arbeitet, erzählt: Weil ihre Not immer größer wurde, mussten immer mehr Menschen in den Abfällen der Märkte nach noch Essbarem suchen. Dabei habe es immer wieder Streit und auch Schlägereien gegeben. Inzwischen haben sich 48 extrem arme Familien in einer offenen Gruppe zusammengeschlossen und teilen die Reste untereinander auf. Die Reste landen inzwischen gar nicht mehr erst im Müll, sondern werden gleich bei den Anlieferungen der Lebensmittel abgezweigt, wenn sie nicht für den Verkauf infrage kommen. Was wirklich nicht mehr gegessen werden kann, wird als Kompost verwendet.
Selbstorganisation statt Rentiersökonomie
Die Haltung, die an diesem Beispiel deutlich wird – Selbstorganisation und Übernahme von Verantwortung für das eigene Schicksal – will Cecosesola fördern, keine karitative Organisation sein. Das bedeute vor allem, mit einer tradierten Haltung zu brechen, die die erdölbasierte Rentiersökonomie geschaffen habe. Seit hundert Jahren – darin sind sich alle unsere Gesprächspartner_innen einig – seien die Venezolaner_innen gewohnt, dass Geld aus dem Export von Erdöl ins Land fließe und dort verteilt werde. Produzieren sei immer unpopulär gewesen, weil ja im Zweifelsfall bessere Güter aus dem Ausland importiert werden konnten. Das geht solange der Strom von Devisen ins Land nicht abreißt und richtig eingesetzt wird. Aber seit Jahren sinkt der Weltmarktpreis für das venezolanische Erdöl, die Inflationsrate lag laut Finanzkommission der Nationalversammlung zwischen Januar 2017 und Januar 2018 bei über 4000 Prozent, und der Korruption sind der Generalstaatsanwalt zufolge allein im Erdölgeschäft 35 Milliarden US-Dollar anheimgefallen.
Die Bilanz von Cecosesola ist beeindruckend, aber die Krise fordert ihren Tribut. Immer mehr Menschen können sich auch die verbilligten Produkte und Dienstleistungen von Cecosesola nicht mehr leisten, mehrfach mussten die Preise angehoben werden, um kostendeckend arbeiten zu können. „Das ist sehr schmerzhaft“, sagt Jorge. Aber wenn schon der Staat mit den Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen, die Versorgung der Bevölkerung nicht leisten könne, wie solle eine Organisation wie Cecosesola die wachsende Not lindern können? Es bleiben die kleinen Gesten der Solidarität, die das Problem nicht lösen. Zum Beispiel wenn jemand auf dem Markt seinen Einkauf nicht bezahlen kann und eine andere Person die Differenz übernimmt.
Moritz Krawinkel, z.Zt. Caracas