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Die ersten hundert Tage

12.07.2022   Lesezeit: 12 min

Bilanzen und Perspektiven der Regierung von Gabriel Boric.

Von Pierina Ferretti

Seit dem Sturz von Salvador Allende am 11. September 1973 stellte die Linke in Chile keine Regierung mehr. Gabriel Boric, der jüngste und mit den meisten Stimmen gewählten Präsidenten in der Geschichte Chiles und einer der wichtigen Anführer der Studierendenproteste, die das südamerikanische Land vor einem Jahrzehnt erschütterten, hat die Linke zurück in die Moneda gebracht. Doch weder Chile noch die Linke sind dieselben wie vor fünfzig Jahren. Ein großer Teil der Herausforderungen und Probleme, mit denen die neue Regierung in den letzten Monaten konfrontiert war, ist darauf zurückzuführen.

Wenn der „chilenische Weg zum Sozialismus“ unter Salvador Allende auf einer organisierten Arbeiterklasse und einem soliden Mittelstand, auf Fachkräften und Intellektuellen beruhte, muss die derzeitige Regierung eine Gesellschaft führen, die durch ein halbes Jahrhundert Neoliberalismus geprägt ist. Sie spiegelt die Widersprüche eines Wirtschafts- und Sozialmodells wider, das die Ungleichheit vertieft, die Arbeit prekärer gemacht, alle Dimensionen des Lebens kommodifiziert, die linken Parteien und Gewerkschaftsorganisationen geschwächt hat, während gleichzeitig das Konsum- und Bildungsniveau breiter Bevölkerungsschichten erheblich gestiegen ist.

Die chilenische Linke stellt nun zu einem Zeitpunkt die Regierung, in dem dieses System seine größte Krise erlebt. Die Delegitimierung der Politik und der Institutionen, die Empörung über wirtschaftliche Missstände, Korruption im öffentlichen und privaten Bereich, die Privilegien der Eliten und das Scheitern des Versprechens des sozialen Aufstiegs, an das Millionen von Chilenen geglaubt haben, haben das Land in die soziale Explosion vom Oktober 2019 geführt. Das Ausmaß des Aufstands, sein massiver Charakter und die enormen menschlichen und sozialen Kosten (Dutzende Tote, Hunderte Menschen mit verstümmelten Augen, systematische Menschenrechtsverletzungen) haben einen neuen historischen Zyklus in Gang gesetzt, der institutionell in einen verfassungsgebenden Prozess mündete. Er ist noch nicht abgeschlossen und sein positiver Ausgang ist nicht sicher.

Auch die Regierung von Gabriel Boric ist an diesem Prozess beteiligt. Ohne die Mobilisierung des chilenischen Volkes wäre es nicht möglich gewesen, dass eine linke Alternative in diesem Moment der Krise an die Macht kommt. Ihr Programm greift die jahrzehntelangen Kämpfe von Arbeiter:innen, Studierenden, indigenen Völkern, Feminist:innen und Umweltaktivist:innen gegen den Neoliberalismus auf. Der Weg in eine transformative Richtung erweist sich jedoch als sehr schwierig. Die Regierung verfügt nicht über die Mehrheit im Kongress, um ihre angestrebten Reformen durchzusetzen, die Spannungen in der Koalition sind eine Tatsache. Die Rechte übt enormen Druck auf die Regierung aus. Und die neuen politischen Kräfte, die mit der Revolte auf die Bühne tragen, verfügen einen geringen Organisationsgrad.

Diese ersten hundert Tage waren sehr schwierig. In den Höhen und Tiefen ihrer Anfänge geht es der Boric-Regierung vor allen Dingen darum, dass der Weg der sozialen Transformationen offen bleibt und sich die Linke als Alternative zur Führung des Landes konsolidiert.

Hundert Tage ohne „Flitterwochen“

Für die Regierung Boric gab es keine Aufwärmphase. Nach den Emotionen, die den historischen Tag der Amtseinführung am 11. März begleiteten, begannen sofort die Schwierigkeiten. Schon in diesen ersten drei Monaten ist deutlich geworden, dass die aktuellen Schwierigkeiten für Boric‘ Team so herausfordernd sind, dass seine eigene Agenda in den Hintergrund rückt.

Dazu zählen die sozialen Probleme, die Inflation, die öffentliche Ordnung, die durch die wachsende Kriminalität in Frage gestellt ist, und der Konflikt in der Mapuche-Region Wallmapu um die Einschränkung der Forstwirtschaft. Die wichtigsten Reformen, die sie in diesem Jahr durchsetzen will, sind eine Steuerreform, mit der die Steuereinnahmen erhöht und die Ungleichheit verringert werden sollen, und die Rentenreform, mit der ein solidarisches Sozialversicherungssystem eingeführt und das gescheiterte Modell der individuellen Kapitalisierung überwunden werden soll. Nun werden diese Vorhaben von den oben genannten Problemen an die Wand gedrängt.

Eines davon ist die Inflation. Bei ihr handelt sich zwar um ein globales Problem, sie hat aber besondere Auswirkungen in einem Land, das eine ungelöste politische Krise durchläuft. Mit einem Anstieg von über 10 Prozent im letzten Jahr – eine solche Inflation gab es seit Jahrzehnten nicht – sind die steigenden Lebenshaltungskosten eine der Hauptsorgen der Chile:innen. Das Wirtschaftsförderungsprogramm der Regierung, das unter anderem eine historische Erhöhung des Mindestlohns und ein Einfrieren der Kraftstoffpreise vorsieht, stellt zwar eine beträchtliche finanzpolitische Anstrengung dar, wird aber von den Menschen des Landes als unzureichend empfunden. Der Verweis, dass während der Amtszeit von Sebastián Piñera die staatliche Hilfe zur Bewältigung der Folgen von COVID-19 zu spät kam und ein Loch in die Rentenkasse gerissen hat, kann die Boric-Regierung nicht retten.

Das Problem der Inflation offenbart darüber hinaus eine Leerstelle im Programm der Linken. Die Regierung hat sich auf Besorgnis erregende Weise schnell auf die strikte Einhaltung der Haushaltsregeln eingelassen und sich somit der Möglichkeit beraubt, über staatliche Investitionsprogramme die Wirtschaft zu unterstützen. Die Begründung für die Ursachen der Inflation klingt nach einer rechten Rede: Der Anstieg des Inlandskonsums durch die Rentenentnahme und die gestiegenen öffentlichen Ausgaben im letzten Jahr der vorherigen Regierung hätten die Inflation angetrieben.

In der krisenhaften Situation Chiles gehört es zum Ritual der popularen Stimmung, die Privilegien der Eliten in Frage zu stellen. So steigern die enormen Gewinne der Finanzinstitute, der Verdacht auf Preisabsprachen der Supermarktketten und die von der Zentralbank auferlegten aggressiven Zinserhöhungen das Gefühl von Schutzlosigkeit und Ungleichheit. Und gerade hier zögert die Regierung, klare Maßnahmen zu ergreifen, um die privilegiertesten Sektoren an der Bewältigung der Krise finanziell zu beteiligen. So gelingt es der populistischen Rechten, das Unbehagen an der Elite durch eine Rede wider jede Politik für sich zu vereinnahmen, während die Linke nicht in der Lage ist, eine alternative Wirtschaftspolitik zu entwickeln.

Andererseits stehen Probleme der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung auf der Tagesordnung. Diese Probleme bestehen zwar schon seit langem, sind aber in den letzten Monaten durch Aktionen von Banden und Strukturen des organisierten Verbrechens im Zentrum der Hauptstadt in den Vordergrund getreten. Zudem ist die Polizei aufgrund verschiedener Korruptionsskandale, bei denen es um die Entwendung von Millionen von Dollar geht, und durch die schweren Menschenrechtsverletzungen während des Aufstandes von 2019 delegitimiert. Die Regierung hat zwar eine tief greifende Reform der Carabineros angekündigt, um deren Professionalität, Effizienz und die Achtung der Menschenrechte zu verbessern. Die Umsetzung dieser Reform trifft jedoch auf enormen Widerstand der Institution, die nicht bereit ist, sich der zivilen Macht unterzuordnen. Zugleich muss die Linke ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, die Sicherheit vor Kriminalität auf den öffentlichen Plätzen und in den Stadtvierteln zu gewährleisten. Sonst spielt sie der extremen Rechten und ihren autoritären Lösungsvorschlägen in die Hände.

Wallmapu ohne Befriedung

Gleich zu Beginn von Boric‘ Präsidentschaft geriet die gewalttätige Konfrontation in Wallmapu zur Herausforderung für die Regierung. In all seinen Reden hatte Gabriel Boric betont, dass er den Konflikt des chilenischen Staates mit dem Volk der Mapuche politisch und ohne Militarisierung bewältigen möchte. Während seiner Zeit als Abgeordneter hatte Boric jedes Mal gegen die Militarisierung des Konflikts unter anderem durch die Verhängung des Ausnahmezustands gestimmt. Die Verschärfung der Gewalt in einigen Regionen des Südens gehen nicht nur auf das Konto radikaler Organisationen der Mapuche-Bewegung, beteiligt sind auch das organisierten Verbrechen, Holzhändlerbanden und bewaffnete Zivilist:innen.

Die politische Rechte macht gerade in dieser Frage enormen politischen Druck und die Transportgewerkschaft droht, einen landesweiten Streik auszurufen wie damals gegen Allende. Das alles veranlasste die Regierung, ihr Versprechen, keine Streitkräfte einzusetzen, zu überdenken und schließlich erneut den Ausnahmezustand zu verhängen. Diese Entscheidung wurde von Teilen der Mapuche scharf kritisiert, die der Exekutive vorwarfen, ihr Wort zu brechen und die gleiche repressive Politik wie frühere Regierungen zu betreiben. Dennoch hat die Regierung darauf bestanden, parallel dazu einen Weg des Dialogs, der Verhandlungen und der Landrückgabe zu beschreiten, und die Vereinten Nationen um Unterstützung für diesen Prozess gebeten.

Worin bestehen die Erfolge der ersten 100 Tage? Die Erhöhung des Mindestlohns ist eine historische Maßnahme. Denn es war die höchste seit 30 Jahren. Hinzu kommt die Unterzeichnung des Escazú-Abkommens, eine Agenda zur Wiedergutmachung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Volksaufstand und die Schließung der staatlichen Kupferhütte in Ventanas, einer emblematischen „Zona de Sacrificio“ (Opferzone), wo die ganze Region Massenvergiftungen erlebte. Ein landesweiter Skandal.

Schließlich trug die Reise des Präsidenten nach Kanada und in die Vereinigten Staaten im Rahmen des amerikanischen Gipfels dazu bei, ihn als einen Führer der regionalen Linken mit eigener Stimme zu positionieren, der in der Lage ist, die Entscheidung der USA, Kuba, Venezuela und Nicaragua vom Gipfel auszuschließen, offen zu kritisieren, ohne seine Distanz zu diesen Regierungen zu verbergen. In dieser Angelegenheit versucht Boric, sich als Vertreter einer demokratischen Linken mit einer starken lateinamerikanischen Bedeutung in einem Kontinent zu etablieren, der wieder eine Reihe fortschrittlicher Regierungen an der Macht erleben könnte.

Der Streit um den Charakter der Regierung

Innerhalb der Regierung selbst gibt es natürlich auch Streitpunkte. Zwei Koalitionen unterstützen die Regierung: Apruebo Dignidad und Socialismo Democrático. Die erste besteht aus der Kommunistischen Partei und den Parteien und Bewegungen der Frente Amplio (die hauptsächlich aus den Studierendenmobilisierungen des letzten Jahrzehnts hervorgegangen ist). Der Demokratische Sozialismus hingegen vereint Parteien der ehemaligen Concertación (ein Mitte-Links-Konglomerat, das das Land mehr als zwanzig Jahre lang regierte). Ihr gehören unter anderem die Sozialistische Partei, die Partei für Demokratie und die Radikale Partei an.

Das Bündnis zwischen diesen beiden Sektoren, die im ersten Wahlgang gegeneinander antraten, stellt die Linke vor große Herausforderungen. Die politische Generation von Gabriel Boric ist aus einer scharfen Kritik an der neoliberalen Haltung der chilenischen linken Mitte geboren. Die Frente Amplio entstand aus dem Versuch, eine Alternative zur traditionellen politischen Klasse zu schaffen. Nun besteht die Gefahr, dass Apruebo Dignidad verwässert und zu einem neuen Kapitel des neoliberalen Progressismus wird. Die Linke leidet unter erheblichen Defiziten. Weder stehen ihr ausreichend geschulte Politiker:innen noch Professionelle zur Verfügung, um die Koalition zu steuern und Positionen im Staat zu besetzen. Der Demokratische Sozialismus hingegen verfügt über die Erfahrung und die technischen Kader, um jedes Amt zu übernehmen.

Am besorgniserregendsten ist jedoch die Tatsache, dass das linke Lager immer noch zu zersplittert ist, keine gemeinsame strategische Vision hat und keine entsprechenden politischen Entscheidungen trifft. Diese Unzulänglichkeiten von Apruebo Dignidad kommen die Linke teuer zu stehen, da es einen verdeckten Wettbewerb um die Führung innerhalb der Regierung und die Politik der Regierung gibt. Die am stärksten gefestigte Gruppe um die ehemalige Präsidentin Michelle Bachelet bemüht sich aktiv darum, ihr Narrativ und ihre Art, Politik zu machen, zu etablieren. Sie verfügt über Ressourcen, jahrzehntelange Erfahrung in der Verwaltung des Staates und war bereits mehrfach an der Regierung beteiligt.

Die Herausforderung, soziale und politische Stärke aufzubauen

Bei der Bewertung dieser ersten 100 Tage der Regierung aus linker Sicht stellt sich die Frage, inwieweit die strategische Aufgabe des Aufbaus einer sozialen und politischen Basis, die den notwendigen Strukturwandel unterstützt und vorantreibt, in Angriff genommen wurde. Um auf den Anfang dieser Analyse zurückzukommen: Die Linke kommt in einer Zeit der sozialen Krise und großer sozialen Mobilisierung an die Regierung, aber auch mit erheblichen organisatorischen und politischen Schwächen. Sicherlich gibt es starke soziale Bewegungen in Chile. Die feministische und die Umwelt-Bewegung sind die bedeutendsten. Es ist auch richtig, dass die Linke wichtige Wahlsiege errungen hat. Die Millionen, die sich in der Revolte mobilisiert haben, die sozialen Gruppen, die ihr ihr massives Ausmaß verliehen haben, sind jedoch größtenteils unorganisiert und politisch nicht repräsentiert. Diese Gruppen, die sich gegen die vom Neoliberalismus aufgezwungenen Lebensbedingungen und die Missbräuche der Eliten auflehnten, waren in den Wahlkämpfen ausschlaggebend und sollten von der Linken und dieser Regierung dazu aufgerufen werden, sich aktiv an dem laufenden Prozess zu beteiligen.

Wenn uns die Geschichte des 20. und bisher des 21. Jahrhunderts eines gelehrt hat, dann dass ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel nicht von oben verordnet oder allein vom Staat vorangetrieben werden kann. Um einen Weg zu beschreiten, der aus dem Neoliberalismus herausführt, was lang und schwierig sein wird, müssen soziale und politische Kräfte aufgebaut werden, die diese Veränderungen vorantreiben, sie unterstützen und den Kräften entgegentreten, die diese Veränderungen mit aller Macht verhindern wollen. In Chile befinden sich diese Kräfte gerade erst im Aufbau, und es ist die Aufgabe der Linken innerhalb und außerhalb der Regierung, zu ihrer Stärkung beizutragen. Dazu gehört, dass die Gesellschaft aufgefordert wird, bestimmte Kämpfe zu führen und die politische Diskussion aus der parlamentarischen und institutionellen Enge herauszuführen. In der Zukunft wird diese Regierung neben der sozialen Mobilisierung, die für den Sieg bei der verfassungsgebenden Volksabstimmung am 4. September eingesetzt werden muss, die Möglichkeit haben, Prozesse des sozialen Kampfes voranzutreiben, um die demokratisierenden Elemente ihres Programms und Strukturreformen wie Steuer- und Rentenreformen zu verteidigen. Aus strategischer Sicht ist die Stärkung eines solchen breiten Lagers als politischer Akteur eine Voraussetzung, ohne die ein Veränderungsprozess, wie er in Chile erforderlich ist, nicht vorangebracht werden kann. Es ist jedoch nicht ganz klar, dass diese Ansicht von der Linken in ihrer Gesamtheit geteilt wird.

Alles in allem gibt die Bilanz dieser ersten hundert Tage Anlass zu Optimismus. Die Boric-Regierung beweist nach wie vor ihren Willen, eine emanzipatorische Politik zu entwickeln, und einen Weg zur Überwindung des Neoliberalismus zu konsolidieren. In einer Zeit, in der der Weg aus der globalen Krise von autoritären und konservativen Projekten der extremen Rechten beschritten wird, kann das, was in Chile geschieht, zu einem Beispiel für eine andere Welt werden.

medico unterstützt mit der Spendenkampagne„Adiós Neoliberalismo“ Organisationen in Chile, die in der aktuellen Verfassungsdebatte eine besondere Rolle spielen: Dazu zählen u.a. die Umweltorganisation MODATIMA, die gegen die Privatisierung des Wassers kämpft und die Fundación Nodo XXI, die sich 2012 im Zuge der Studierendenproteste gründete. Nodo XXI versteht sich als Thinktank für linke, progressive Politik und vernetzt Akteur:innen aus Politik, Bewegung und Zivilgesellschaft.

Pierina Ferretti

Pierina Ferretti ist eine chilenische Soziologin. Sie veröffentlicht regelmäßig Essays und Analysen zu aktuellen politischen Themen und ist Mitglied der Stiftung «Nodo XXI», ein Forum für eine antineoliberale, feministische und demokratische Linke. Sie war Referentin auf der medico-Konferenz „Die (Re-)Konstruktion der Welt“ im Februar 2021.


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