Sahelzone

Die Gefahr des Militarismus

20.11.2023   Lesezeit: 9 min

Auszüge aus dem Buch "Sahel. Warum die Krisenregion auch ein europäisches Problem ist" von Moussa Tchangari.

Mit den Militärputschen haben Niger, Mali und Burkina Faso ihre tatsächliche Unabhängigwerdung vollendet, meint Achille Mbembe. In welche Richtung sich diese nun jedoch entwickeln, ist hochgradig widersprüchlich und umkämpft.

Der langjähriger medico-Partner Mousa Tchangari, Generalsekretär von „Alternatives Espaces Citoyens“ (AEC) im Niger, hat sich in seinem heute erscheinenden Buch "Sahel. Warum die Krisenregion auch ein europäisches Problem ist" eingehend mit dieser Frage beschäftigt. Seit vielen Jahrzehnten kritisiert er lautstark die Fassadendemokratie im Niger ohne in den Jubel vieler Menschen nach dem Putsch der Generäle einzustimmen, die ebenso die Gefahr einer Autoritarisierung erhöht. 

Wir veröffentlichen exklusiv diesen Auszug aus Moussa Tchangaris Buch:

Der Militärputsch, der am 26. Juli dieses Jahres in Niger stattfand, ist nach jenen in Mali, Burkina Faso und dem benachbarten Tschad seit 2020 der sechste seiner Art im Sahel, einer Region, die unter einer beispiellosen Sicherheitskrise leidet. Er unterscheidet sich von diesen jedoch sowohl durch die Vorgehensweise – die Entführung des Präsidenten durch seine eigene Leibgarde – als auch durch die Umstände, unter denen er zustande gekommen ist: das Fehlen sichtbarer sozialer oder politischer Spannungen. Es war für viele Nigrer eine nicht geringe Überraschung, als sie am Mittwochmorgen, dem 26. Juli, mit der Nachricht erwachten, dass Präsident Mohamed Bazoum von der eigenen Leibgarde in seiner Residenz festgehalten werde; erst nach Einbruch der Dunkelheit wurde allen klar, dass es sich um einen Militärputsch handelte, wie ihn Niger in der Vergangenheit bereits wiederholt erlebt hatte.

Obwohl sich viele darüber im Klaren waren, dass es auch in Niger zu einem Militärputsch kommen könnte, erschien es doch schwer vorstellbar, dass dieser in einem politisch und sozial ruhigen Umfeld stattfinden würde. Die meisten Bürger gingen davon aus, dass ein solches Ereignis starke politische oder soziale Spannungen voraussetze, eine Lage also, in der das Eingreifen der Armee das einzige Mittel darstellt, um geordnete Verhältnisse sicherzustellen. Die meisten Anhänger von Präsident Bazoum und die in Niger gegründeten ausländischen Kanzleien waren ebenfalls dieser Meinung. Dabei vertraten einige die Ansicht, dass niemand es wagen würde, in einem solchen Umfeld die Macht an sich zu reißen, während andere davon ausgingen, dass ein Putsch der Präsidentengarde, deren Anführer bei den Militärs unbeliebt war, zum Scheitern verurteilt sein würde. Beide haben sich geirrt: Das Militär ist auf die politische Bühne zurückgekehrt.

Heute, fast zwei Monate nach der Machtübernahme durch die Armee, ist es für die internationalen Akteure noch immer schwer zu begreifen, wie Niger, das allgemein als das widerstandsfähigste Land der Sahelzone betrachtet wird, in die gleiche Lage wie einige seiner Nachbarn geraten konnte; dabei hatten viele Beobachter bereits vor den Militärputschen in Mali und Burkina Faso davor gewarnt, dass die Sicherheitskrise den Militärs in der ganzen Sahelzone eine Rückkehr zur Macht ermöglichen werde. Die meisten internationalen Akteure, insbesondere die westlichen, weigerten sich, dieses Risiko für Niger ernst zu nehmen – selbst dann noch, als dieser Fall bereits bei drei seiner Sahel-Nachbarn (Mali, Burkina Faso und Tschad), in denen sich unter günstigen Umständen Militärjunten etabliert hatten, für alle Welt sichtbar eingetreten war.

In den letzten zehn Jahren hielten die meisten westlichen Akteure an der von einigen Experten vertretenen Auffassung fest, dass Niger eine Ausnahme in der Sahelzone darstelle. Begründet wurde diese Annahme zum einen mit der politischen Stabilität des Landes, da es seit 2010 zu keinem gewaltsamen Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung gekommen war, und zum anderen mit dessen relativer Widerstandsfähigkeit gegenüber den Angriffen bewaffneter Gruppen, die an mehreren Fronten, insbesondere im Osten und im Westen, operieren. Diese beiden Umstände wie auch die Tatsache, dass das Land vor kurzem die erste friedliche Machtübergabe zwischen zwei Präsidenten erlebt hatte, trugen dazu bei, den Mythos der nigrischen Ausnahme zu formen, der am 26. Juli auf brutale Weise in sich zusammengebrochen ist und eine Lawine an Reaktionen ausgelöst hat, die hauptsächlich von Überraschung und Wut geprägt waren.

Einhellige Empörung, unterschiedliche Lösungsansätze

In Abuja, Nigeria, dem Sitz der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS), trafen sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer – mit Ausnahme jener, deren Mitgliedschaft ausgesetzt worden ist (Burkina Faso, Guinea und Mali) – zu einem Sondergipfel und verurteilten den Militärputsch in Niger aufs Schärfste. Sie verabschiedeten zudem ein beispielloses Sanktionspaket, das unter anderem die Schließung der Grenzen, die Aussetzung aller Handels- und Finanztransaktionen zwischen den Ländern der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA) und Niger, das Einfrieren der Guthaben des Staates und der öffentlichen Unternehmen bei der Le Canard enchaîné und den Geschäftsbanken sowie die Aussetzung der Finanztransaktionen zwischen den Banken Nigers und der UEMOA vorsah. Zudem kündigten die westafrikanischen Staats- und Regierungschefs, die die Afrikanische Union und alle ausländischen Partner um Unterstützung für die Durchsetzung dieser Sanktionen baten, militärische Maßnahmen an, um die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen.

In Paris und Washington, den beiden westlichen Hauptstädten, die mit 1500 beziehungsweise 1100 Soldaten über die stärkste Militärpräsenz im Land verfügen,1 löste der Staatsstreich vom 26. Juli eine wahre Schockwelle aus, und das nicht nur, weil ihre Dienste und Experten den Putsch nicht hatten kommen sehen – auch wenn diese, wie die Zeitung Le Canard enchaîné enthüllte, dafür zumindest in Frankreich den Zorn des Staatschefs zu spüren bekamen. Für Paris wie für Washington steht bei diesem Staatsstreich in dem Land, auf das sie nach den Enttäuschungen in anderen Teilen der Region – insbesondere in Mali – all ihre Hoffnungen gesetzt hatten, viel auf dem Spiel: Beide Hauptstädte sorgen sich neben dem Verbleib ihrer Truppen und Militärstützpunkte vor Ort auch um den wachsenden Einfluss ihrer Rivalen, insbesondere Russlands und Chinas, die den Ländern der Sahelzone lang ersehnte Perspektiven für eine Erweiterung der Partnerschaften sowohl im Sicherheits- als auch im Wirtschaftsbereich eröffnen.

Es ist an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass Paris und Washington zwar die gleichen Sorgen hegen, aber nicht einig darüber sind, wie mit der durch den Staatsstreich vom 26. Juli ausgelösten Krise umzugehen ist. Die Differenzen zwischen den beiden Hauptstädten, die den Staatsstreich einhellig verurteilen und auch beide die Rückkehr zu einer verfassungsmäßigen Ordnung fordern, betreffen insbesondere die von der ECOWAS befürwortete Gewaltanwendung: Während Paris sich zur Beteiligung an einem möglichen Militäreinsatz in der Region bereiterklärt hat, mahnt Washington in dieser Sache zur Vorsicht und strebt eine diplomatische Lösung an. Die Position Washingtons wird nicht nur von fast allen Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten geteilt, sondern auch von Moskau und Peking, die sich offen gegen einen Militäreinsatz aussprechen, welcher ihrer Meinung nach schwerwiegende Folgen für die gesamte Sahelzone haben könnte.

In Addis Abeba, dem Sitz der Afrikanischen Union, deren Kommissionspräsident den Militärputsch frühzeitig verurteilte und die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung forderte, wurden die Beschlüsse des ECOWAS-Gipfels nur knapp vom Friedens- und Sicherheitsrat der ECOWAS bestätigt: Das Kommuniqué des Sicherheitsrates, das einige Tage nach der nicht wenig hitzigen Sitzung zur Lage in Niger veröffentlicht worden war, billigte zwar die Sanktionen und nahm die Entscheidung der ECOWAS, eine Bereitschaftstruppe zu entsenden, zur Kenntnis, enthielt aber auch einige Einschränkungen. Diese betreffen zum einen die Anwendung von Gewalt, für die der Rat die Beteiligung von Akteuren von außerhalb des Kontinents strikt ablehnt und eine Bewertung der wirtschaftlichen, sozialen und sicherheitspolitischen Auswirkungen einfordert. Zum anderen wird für die Strafmaßnahmen eine schrittweise Umsetzung verlangt, »um unverhältnismäßige Auswirkungen auf die Bürger Nigers zu vermeiden«2.

Neben den Vorbehalten des Friedens- und Sicherheitsrates ist anzumerken, dass die Beschlüsse des ECOWAS-Gipfels, insbesondere die Androhung von Gewalt, von einigen Staaten der Region scharf kritisiert wurden. Die wichtigsten Reaktionen in diesem Zusammenhang sind jene der Militärjunten von Burkina Faso und Mali, die erklärten, dass ein militärisches Eingreifen der ECOWAS in Niger eine Kriegserklärung an die von ihnen regierten Länder sei, sowie die Reaktion Algeriens, das sich zwar für eine Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung, aber gegen eine militärische Intervention in seinem südlichen Nachbarland einsetzte. Die algerische Regierung, die eine führende Rolle bei der Lösung der Probleme in der Sahelzone zu übernehmen beabsichtigt, hat sich als Vermittler angeboten und einen Fahrplan vorgelegt, der unter anderem einen sechsmonatigen Übergang unter der Führung einer allseitig anerkannten Person und Garantien für alle Parteien vorsieht.

Innerhalb der ECOWAS wurde der algerische Vorschlag von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten nicht kommentiert, obwohl die Idee eines kurzen Übergangs auch von ihrem amtierenden Präsidenten, dem Nigerianer Bola Tinubu, bei einem Treffen mit muslimischen Führern aus dem Norden seines Landes geäußert worden war. Diese Stellungnahme von Präsident Tinubu, eines jener Staatschefs, die am entschlossensten für eine Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung eintraten, wurde von der regionalen Organisation nicht gebilligt. Dennoch deutet alles darauf hin, dass es dem nigerianischen Staatschef, der unter starkem Druck seitens der religiösen Führer und traditionellen Häuptlinge im Norden seines Landes stand, die wahrscheinlich im Hintergrund von den Netzwerken des ehemaligen nigrischen Präsidenten Mahamadou Issoufou mobilisiert worden sind, bereits gelungen ist, seine Initiative für einen Militäreinsatz in Niger zu bremsen.3 Dies stellt die religiösen Führer des Nordens schon zufrieden, die sich in die nigrische Krise eingeschaltet haben, um zu erreichen, dass ebendiese Option aufgegeben würde.

Angesichts der geschilderten Reaktionen kann man sagen, dass der Militärputsch vom 26. Juli die Spaltungen und Einflusskämpfe zwischen den beteiligten Staaten auf internationaler und regionaler Ebene offengelegt hat. Dies ist sicherlich der Grund, warum die von einigen Experten vorgelegten Analysen den Schwerpunkt eher auf geostrategische Erwägungen als auf lokale Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Kampf um die Macht und die Kon­trolle über die Ressourcen unter den Eliten des Landes legen. Diese Analysen haben den Vorteil, dass sie das Wechselspiel der Interessen der internationalen Akteure offenlegen, und zwar sowohl bei der Einschätzung der Lage als auch bei der Suche nach einem Ausweg aus der durch den Staatsstreich vom 26. Juli ausgelösten Krise. Ihr Nachteil aber ist, dass sie dabei außer Acht lassen, wie nationale zivile und militärische Akteure sich in dieses Spiel einmischen und es für ihre eigenen Zwecke, nämlich die Rückeroberung oder den Erhalt der Macht, ausnutzen.

Moussa Tchangari: „Sahel. Warum die Krisenregion auch ein europäisches Problem ist“, aus dem Französischen von Christoph Birk Schermelleh und Lea Mara Eßer, 146 Seiten, Westend Verlag, 20.11.2023


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