Migration

Bedrohte Bewegungsfreiheit

22.07.2024   Lesezeit: 7 min

Ousmane Diarra von der Vereinigung Abgeschobener in Mali über die Situation von Migrant:innen in Nordafrika und die Auswirkungen geopolitischer Veränderungen.

Die Europäische Union schließt Migrationsdeals mit Tunesien und Mauretanien und unternimmt zusammen mit Libyen erhebliche Anstrengungen, um die steigende Zahl der Menschen, die über die nigrische Stadt Agadez Richtung Mittelmeer reisen, zu stoppen. Gleichzeitig unterstützt, finanziert und beteiligt sich Europa direkt an geheimen Operationen in nordafrikanischen Ländern, um Zehntausende Menschen in der Wüste oder in abgelegenen Gebieten abzuladen, damit sie nicht in die EU gelangen. Das berichtete kürzlich die gemeinnützige, kollaborative Nachrichtenorganisation Lighthouse Reports.

Im Gespräch mit medico beschreibt medico-Partner Ousmane Diarra die Auswirkungen dieser Blockaden auf Migrant:innen aus dem südlichen Afrika und die damit einhergehenden Herausforderungen für die Arbeit der medico-Partnerorganisation AME in Mali. Außerdem spricht er über die Folgen der geopolitischen Veränderungen im Sahel. Burkina Faso, Mali und Niger sind nach Putschen aus der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS im Januar 2024 ausgetreten, als Gegenprojekt haben sie die Alliance of Sahel States gegründet.

medico: Wie nimmst Du den aktuellen Umgang mit Migrant:innen in den Maghreb-Staaten wahr?

Ousmane Diarra: Indem sie die afrikanischen Küsten kontrollieren, spielen die Maghreb-Staaten weiter ihre Rolle als Blockade-Staaten, als Türsteher der Europäischen Union. Offizielles Ziel ist es, sogenannte irreguläre Migrant:innen von der Einreise in die Europäische Union abzuhalten. Mithilfe der Unterstützung durch EU und Frontex ist die algerische Wüste zu einem großen Friedhof geworden, überall stößt man auf Leichen. Es ist nicht möglich, dort Hilfe zu leisten, viele Migrant:innen sterben – sei es bei Pushbacks, Abschiebungen oder beim Versuch, auf abgelegenen Routen nach Norden zu gelangen.

Zugleich werden durch die EU-Kooperationen willkürliche Inhaftierungen von Migrant:innen in libyschen Lagern oder marokkanischen Gefängnissen legitimiert. Auch die alltägliche Diskriminierung, die Migrant:innen erleben, nachdem der tunesische Präsident Kais Said zur Jagd auf Migrierende aus Subsahara-Afrika aufrief, billigt die EU. Es handelt sich also weiterhin um eine lebhafte Zusammenarbeit zwischen afrikanischen Ländern und der EU, um den Krieg gegen Migrant:innen fortzuführen.

Wie wirkt sich diese Politik auf die innerafrikanische Migration aus?

Die sogenannte Externalisierung der EU-Außengrenzen macht sich für malische Staatsbürger:innen schon bei der Auflage bemerkbar, eine Einreiseerlaubnis für einen Aufenthalt in Marokko anfragen zu müssen. Zuvor konnten sich Staatsbürger:innen aus Mali, Senegal und anderen westafrikanischen Staaten problemlos für 90 Tage in Marokko aufhalten. Neuerdings müssen Malier:innnen bei der malischen Botschaft eine Genehmigung erbitten, um sich innerhalb Marokkos aufhalten und frei bewegen zu können. Einige sehen sich allerdings gezwungen, länger als 90 Tage in Marokko zu bleiben und damit illegal im Land aufzuhalten, um ihre Reise nach Europa fortzusetzen. In der Konsequenz sind sie mit Abschiebungen, Inhaftierungen oder Pushbacks konfrontiert. Aber auch Personen aus Mali oder anderen westafrikanischen Staaten berichten davon, trotz Einreise- und Aufenthaltserlaubnis von marokkanischen Behörden abgeschoben oder inhaftiert zu werden. Ich führe diese restriktivere Politik von Marokko und die illegalen Praktiken der Sicherheitsbehörden auf europäischen Druck zurück.

Als AME erleben wir eine Zunahme der Abschiebungen, Rückschiebungen an den Grenzen und sogenannten freiwilligen Rückkehren aus den nordafrikanischen Staaten nach Mali. Insbesondere sind wir im engen Austausch mit Betroffenen von sogenannten freiwilligen Rückführungen, die vornehmlich von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) durchgeführt und von staatlichen Vertreter:innen Malis begleitet werden. Wir treffen auf Menschen, die sich in einer misslichen Lebenslage befinden – unabhängig davon, auf welchem Weg sie nach Mali zurückgekehrt sind.

Welche Dimension hat das und wie sieht eure Arbeit mit den Migrant:innen aus?

Wir als AME arbeiten weder mit dem Staat noch mit der IOM zusammen, aber wir sind am Flughafen präsent, um die Rückkehr zu dokumentieren. Dabei beobachten wir, dass alle zwei Wochen ein Abschiebeflieger aus Algerien, Marokko, Tunesien oder Libyen in Bamako eintrifft. Pro Flug werden 100 bis 150 Personen transportiert. Das bedeutet, dass allein über den Weg der sogenannten freiwilligen Rückkehr monatlich rund 300 Personen in Mali ankommen. Und Mali ist nicht das einzige Ziel dieser IOM-Operationen.

Außerdem beobachten wir Zurückweisungen von Migrant:innen, die Mali verlassen wollen – sowohl an der algerisch-malischen als auch an der mauretanisch-malischen Grenze. Das betrifft ca. 100 bis 200 Personen monatlich.

Wirklich beunruhigend sind die Pushbacks an den in der Wüste gelegenen Grenzübergängen. Die Menschen werden dort ohne jegliche Versorgung einfach zurückgelassen. Wir haben eine Zweigstelle der AME an der mauretanisch-malischen Grenze, wo wir zumindest unmittelbare Hilfe beim Eintreffen eines solchen Abschiebekonvois leisten können. Dabei treffen wir auf kranke und geschwächte Personen, Menschen mit psychischen Belastungen und oft sehr hungrige Menschen. Neben der Versorgung dokumentieren wir die Anzahl der Ankommenden, nehmen ihre Zeug:innenaussagen auf und helfen ihnen, sich zu orientieren. Dabei erfahren wir, was sie in den Maghreb-Staaten und bei den Pushbacks erlebt haben.

Hinzu kommen natürlich noch die Abschiebungen aus europäischen, afrikanischen und teils aus asiatischen Staaten nach Mali. Hier wissen die Betroffenen oft schon im Vorfeld von uns und suchen die AME aktiv auf.

Was erwartet die Zurückgekehrten, wenn sie von Euch aufgenommen werden?

Sobald sie in Bamako angekommen sind, bieten wir den Migrant:innen an, sich 72 Stunden in unseren Räume auszuruhen, medizinisch versorgt zu werden und zu essen. Zudem haben wir begonnen, kurze Fortbildungen für die Migrant:innen anzubieten, damit sie einfacher wieder eine Arbeit aufnehmen können. Etwa bieten wir Fortbildungen im Bereich der Agrar- und Ernährungswirtschaft, der Verarbeitung oder der Schneiderei an. Wir wollen ein Ausbildungszentrum eröffnen, um den Zurückgekehrten eine bessere Perspektive bieten zu können.

Nach dem dreitägigen Aufenthalt erhalten sie von uns Geld für den Transport, um zu ihren Familien zurückkehren zu können. Nicht selten kommen die Menschen aber ein paar Wochen später zurück, viele werden von ihrer Familie abgewiesen. Entsprechend dramatisch verändert sich der mentale Zustand der Abgeschobenen. Die seelischen Belastungen kommen erst mit der Zeit stärker zum Vorschein. Über ihre Sorgen und Belastungen können sich die Betroffenen in regelmäßig stattfindenden Gruppengesprächen in den Räumen der AME austauschen. Das trägt immerhin ein wenig zur mentalen Gesundheit bei.

Seit 2021 haben wir erhebliche Umbrüche in Westafrika erlebt, allen voran die drei Militärputsche in Mali, Burkina Faso und Niger. Wie schaust Du auf diese Veränderungen – auch im Hinblick auf die Freizügigkeit, die seit 1979 für Bürger:innen der ECOWAS-Mitgliedstaaten gilt?

Es macht mir große Sorge, dass die drei Gründungsländer der ECOWAS, Niger, Mali und Burkina Faso, aus der Wirtschaftszone ausgetreten sind. Die Bewegungsfreiheit zwischen den westafrikanischen Staaten und der zwischenstaatliche Handel sind bedroht.

Für uns als Staatsbürger:innen der ECOWAS ist die Vorstellung absurd, ein Visum für den Aufenthalt in einem anderen Mitgliedsland zu beantragen. Unsere Familien leben über Landesgrenzen hinweg verteilt und insbesondere die Grenzgebiete sind stark vom Handel geprägt. Schon durch die Schaffung der Staatsgrenzen im Kolonialismus wurden unsere Familien auseinandergerissen. Wir würden einen enormen Rückschritt erleben, wenn etwa Malier:innen nicht mehr in den Senegal reisen könnten – und umgekehrt genauso. Die Einschränkung der innerafrikanischen Handels- und Bewegungsfreiheit würde zu enormen Einkommensverlusten führen.

Das führt dazu, dass die Bevölkerung in allen drei Ländern gespaltene Gefühle gegenüber den neuen Regierenden hat. Sie begrüßen zwar die Abkehr von Europa, aber alle haben Angst, ihre Meinung öffentlich zu äußern.

Welche Rolle sollte deiner Meinung nach Deutschland in diesen Umbruchszeiten im Sahel einnehmen?

Deutschland sollte Verantwortung übernehmen, um dem malischen Volk zur Seite zu stehen. Wenn der Westen Mali abstößt, liegt es in den Händen anderer Staaten wie Russland oder China. Durch die russische Unterstützung erhalten wir Waffen, aber gesellschaftspolitische Entwicklungen bleiben aus.

Damit Mali aus dieser Krise kommen kann, brauchen wir Hilfe: politisch und strategisch. Deutschland sollte eine vermittelnde Funktion zwischen der malischen Regierung, der malischen Bevölkerung und dem globalen Norden einnehmen. Die Menschen leiden: Wir haben Hunger, wir erleben ständig Stromausfälle und sind von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Mit der internationalen Zusammenarbeit gehen auch finanzielle Kooperationen und Unterstützungen für malische NGOs einher. Sollten diese globalen Geldflüsse gestoppt werden, würde das bittere Konsequenzen für die malische Bevölkerung haben.

Das Interview führte Leonie Jantzer.

medico begleitet die Association Malienne des Expulsés, die Vereinigung malischer Abgeschobener, seit vielen Jahren in der Unterstützung abgewiesener und zurückgeschobener Migrant:innen mit einem Dach über dem Kopf und der gemeinsamen Entwicklung von Perspektiven.


Jetzt spenden!