Yarmouk wird ausgehungert

Die Katastrophe ist politisch

27.01.2014   Lesezeit: 7 min

Das palästinensische Lager Yarmouk in Damaskus braucht Hilfe. Jetzt und sofort. Aber die Verantwortlichen für den Hunger müssen benannt werden. Denn der Mangel an Nahrungsmitteln entsteht nicht durch das kriegerische Chaos, sondern wird durch die bewusste Belagerung erzeugt.

Am 18.01.2014 scheiterte wieder ein Konvoi mit Nahrungsmittellieferungen dabei, ins Camp Yarmouk zu gelangen. Das Camp war zu dem Zeitpunkt bereits seit sechs Monaten vom Regime eingeschlossen. Abdallah (25), der den Konvoi entgegen nehmen sollte, war nicht überrascht, wie er in einem Video, was die Übernahme dokumentieren sollte, erklärt: „Es gibt keine wirkliche Absicht [seitens des Regimes], Essen ins Camp zu lassen. Wäre es so, dann hätten sie auch einfach den vordersten Checkpoint aufmachen können und Essen reingelassen. Oder auch ohne das Ganze: Öffnet doch einfach den Weg für die Menschen.“

Die ersten Hilfslieferungen wurden dann am Dienstag (21.01.2014) durch den nördlichen Camp-Eingang hineingelassen - dort, wo Yarmouk vor der Belagerung unbemerkbar in Damaskus überging. Doch die Nahrungsmittelpakete durften nicht direkt ins Camp gelangen. Stattdessen mussten die Familien an die Checkpoints kommen und sich die Hilfe abholen, vor allem Frauen und ältere Menschen, deren Namen zuvor auf den Listen der „Palästinensischen Wohltätigkeitskommission“ (Al-Hai´a al-Khairiyya al-Falastiniyya) festgehalten wurden.

Der Weg Richtung nördlichem Camp-Ausgang war seit Monaten eine Art Todeszone: ein Weg aus riesigen Trümmerhaufen heraus, den zahlreiche Scharfschützen kontrollierten. Abdallah, Koordinator des Basiskomitees in Yarmouk, berichtet, wie bei der Lieferung vom 21.01.2014 nur jene Familien, die eine Versorgungskarte des syrischen Roten Halbmonds vorweisen konnten, ein Essenspaket bekamen. Diese Regelung verkennt die Lebenswirklichkeit der BewohnerInnen Yarmouks.

Warum? Die Lage ist nach den Monaten des Krieges, der Bombardierungen, der Kämpfe und der Blockade, aber auch der Fluchtbewegungen im Süden von Damaskus weitaus komplizierter und nicht mit einer Essenskarte zu lösen. Im Konkreten: Nicht alle BewohnerInnen sind PalästinenserInnen und zugleich sind nicht alle PalästinenserInnen bei der UNWRA oder dem syrischen Roten Halbmond registriert. Das Gebiet von Yarmouk wird seit anderthalb Jahren immer wieder von massiven Wellen der Gewalt erschüttert. Die Menschen flüchteten aus ihren Häusern oder zogen im Camp um. Unter solchen Umständen ist auch die Versorgungskarte schnell verloren. Viele der PalästinenserInnen in Yarmouk kommen aus anderen palästinensischen Vierteln und Wohngebieten, wie etwa Hussainiyya. Viele flohen, als sie die Panzer des Regimes oder bewaffnete Aufständische sahen und sie hatten kaum Zeit ihre Dinge zu packen, etwa die Hilfskarte.

Durch diese Regelung können aktuell nur ein Bruchteil der in Yarmouk eingeschlossenen Menschen überhaupt offiziell Nahrungsmittelpakete bekommen. In der Lieferung steckt also ein Ausschluss und ein Moment der Kontrolle. Zudem wurden von den 200 Paketen am ersten Tag nur 70 verteilt, zwei Tage später wiederum 30, wie der Journalist Mahmoud berichtet. Er berichtet medico weiter, dass die Verteilung nicht fortgesetzt worden sei und das Regime die UNWRA- Beamten dazu gedrängt habe, das Gebiet wieder zu verlassen. Mehrere zivile AktivistInnen aus Yarmouk protestierten bereits gegen diese diskriminierende Form der Hilfe.

Hilfe instrumentalisiert

Unabhängige Hilfe erreicht Yarmuk also nicht. Das syrische Regime selbst versucht aus der Hilfslieferung politisches Kapital zu schlagen. Die Bilder des Konvois wurden im Staatsfernsehen gezeigt und gezielt internationalen Medien angeboten. Die Botschaft war eindeutig: Syrien steht weiter an der Seite der Palästinenser und tut alles, um Nahrungsmittel in ein von „Terroristen in Geiselhaft genommene Viertel“ zu bringen, so der O-Ton der Staatsmedien.

Aus Kreisen der Palästina-Solidarität ist in den letzten Tagen der Ruf einer Unterstützung für Yarmouk doch noch etwas lauter geworden. Die Bilder aus dem Camp rüttelten auf und über die sozialen Medien wurden Hilfsaufrufe verschickt. Auch das deutsche Fernsehen berichtete aus Yarmouk, dazu Channel4 in Großbritannien. Es ist gut und wichtig, dass diese Berichte auch die Mainstream-Medien erreichten. Es ist gut und wichtig, dass Teile der Palästina-Solidarität erwacht sind und zum Handeln aufrufen. Aber warum argumentiert diese Solidarität so neutral, ohne die Ursache der Not und Gewalt in Yarmouk zu benennen? Wie auf der Westbank und im Gazastreifen gibt es auch in Yarmouk eine politische und praktische Verantwortung für die Geschehnisse. Es mag für die Situation der unmittelbaren Hilfe genügen, zu fordern, dass jetzt sofort Nahrung in die belagerten Gebiete gebracht wird. Aber warum gibt es eine Belagerung und warum können die Menschen nicht gehen, wenn es doch nur um „Terroristengruppen“ im Lager geht?

So verworren und sich täglich verändernd die Gemengelage der bewaffneten Gruppen von der sogenannten „Freien Syrischen Armee“ FSA bis hin zu islamistischen Brigaden wie Jabhat al-Nusra in Yarmouk auch ist, in der Frage nach der Verantwortlichkeit für die bewusste Verknappung von Lebensmitteln im Camp, sollte es keine Neutralität geben. Hier wird Hunger herbeigeführt, der sich nicht aus dem Chaos des Krieges erklärt, sondern aus dem Vorsatz Menschen zu bestrafen. Wiederholt haben die BewohnerInnen in friedlichen Demonstrationen die Öffnung der Checkpoints gefordert. Immer wieder wurden die Demonstrationen aus der Richtung der Checkpoints des Regimes beschossen. „Wieso konnten die Frauen und die älteren Menschen, die am 21.01.2014 die Essenslieferungen an den Checkpoints abgeholt haben, das Camp nicht einfach verlassen? Es ist doch mehr als deutlich, dass sie keine Terroristen sind! Man hätte diese Leute aus dem Camp lassen müssen. Stattdessen wurden sie über die Trümmerhaufen zurück ins Camp geschickt. Das Regime hat uns eingeschlossen. Niemand anderes!“, kommentiert ein Aktivist.

Der Journalist Talal Alyan fasst das Dilemma in Worte: „Es gibt keine Gleichwertigkeit. Per Definition zwingt eine Gruppe einer anderen Gruppe eine Belagerung auf, es ist aber de facto eine kollektive Strafe gegen alle. Die Palästinenser von Yarmouk verhungern? - Ja, das stimmt. Die Regierung blockiert die Lieferung von Waren ins Camp? - Ja, das stimmt. Wer muss für die Situation in Yarmouk verantwortlich gemacht werden? - Neutralität.”

„Öffnet doch einfach die Checkpoints!“

Auch die BewohnerInnen betonen immer wieder, dass sie nicht in kleinen Dosierungen etwas zu essen bekommen wollen. Das sei erniedrigend und nicht das, was sie will, erklärt eine junge Palästinenserin im Youtube-Video.

„Wir wollen keine Hilfe. Wir wollen, dass sie endlich das Camp öffnen. Wir haben Würde. Aber durch diese Hilfelieferung wird nun unsere Würde mit den Füßen getreten. Ich wende mich voll Respekt an alle, die mich hören. Ich gehöre zu denen, die eure Essenskartons nicht wollen. Ich habe vier Kinder. Zwei sind hier bei mir, zwei sind außerhalb des Camps. Sie sitzen in Zahira [Nachbarviertel] und machen sich große Sorgen. Wer ist jetzt zärtlich zu ihnen, wer soll sich um sie kümmern? Wir wollen diese Form der Hilfe nicht, denn sie tut uns nochmal Unrecht an. Von 400 oder 500 Kartons wurden bislang nur 25 Kartons verteilt. Gestern habe ich[von morgens] bis abends gewartet [am Checkpoint], nur damit mich meine Kinder [vom weiten] sehen können. Sie haben geweint. …. Ich will wirklich keinen dieser Kartons. Ich will das alles einfach nicht. Ich will einfach, dass meine Kinder zu mir zurückkommen können. […] “

Die junge Frau weist auf einen entscheidenden Widerspruch in den Hilfslieferungen hin: „Öffnet doch einfach die Checkpoints um Yarmouk und lasst uns raus, dann brauchen wir gar keine Hilfslieferungen.“

Sich die Stimmen von vor Ort anzuhören und die Forderungen zu verstehen, ist sehr wichtig. Es ist richtig, die lokalen Solidarstrukturen zu unterstützen, Gruppen, die die Lage kennen, die wissen, was von wem gebraucht wird und die versuchen Leben zu retten. Jedoch nur von der Notwendigkeit der Hilfe zu sprechen, aber nicht die Verantwortlichen für diese Not zu benennen, verschweigt letztendlich die Belagerung und macht sie zu einem apolitischen Naturphänomen, dass sie eben genau nicht ist. Zusätzlich hat das Regime so die Möglichkeit – wie bei dem UNWRA-Truck geschehen – die Hilfe für sich zu instrumentalisieren. Denn wie immer man zu den tatsächlich in Yarmouk operierenden bewaffneten Milizen stehen mag, sie sind es nicht, die die Menschen davon abhalten das Lager zu verlassen. Der Hunger im Lager Yarmouk ist eine humanitäre Katastrophe, die eine eindeutig politische Ursache hat. Wer die Verantwortung für die Belagerung von Yarmouk verschweigt, spielt letztlich einem Regime in die Hände, das zur Zeit in perfider Weise versucht, sich als Retter in einer Not zu inszenieren, die es selbst erst künstlich erzeugt hat. Der Hunger in Yarmouk ist politisch – die Solidarität und Hilfe sollte genau das aussprechen. Und helfen. Ohne Konditionen und Kontrollen. Allen, die der Hilfe bedürfen.

Ansar Jasim

Projektstichwort: Syrien

medico unterstützt mit der Jafra Foundation einen lokalen palästinensischen Partner, der sowohl offizielle Wege der Hilfe wie auch verschlungene Pfade des Transportes in das Camp Yarmouk nutzt. Jafra verteilt Nahrungsmittel und dringend zum Überleben notwendigen Bedarf an alle im Camp, die Hilfe brauchen. Egal ob PalästinerInnen oder SyrerInnen, egal ob mit einer Bezugskarte oder ohne. Niemand muss sich ausweisen oder erklären. Es geht ums Überleben. Helfen Sie mit.


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