Früher war das Meer ein Weg der Hoffnung: Die auf halber Strecke zwischen Westafrika und dem Maghreb am Atlantik gelegene mauretanische Hafenstadt Nouadhibou galt - nachdem Marokko alle Grenzen, auch die der besetzten Westsahara, auf Druck Spaniens und der EU geschlossen hatte - für einige Jahre als günstiger Starthafen all jener afrikanischen Boat-People, die ihre Zukunft in der Flucht nach Europa suchten.
Aber die Passage ist geschlossen. Seit 2006 patrouillierten bis vor Kurzem spanische Abfangboote und Spähhelikopter zwischen den Kanarischen Inseln und Nouadhibou. All diejenigen, die eigentlich nach Hoffnung strebten, versuchen heute als Billigarbeitskräfte in einem Land zu überleben, das als eines der ärmsten der Welt gilt. Allein in Nouadhibou mit seinen 100.000 Einwohnern leben mindestens 10.000 bis 20.000 Migranten. Stephan Dünnwald besuchte für medico international jene Unglückseligen im immerwährenden Transit.
Kebba lacht: „Wir Afrikaner beten, dass Europa explodiert! Es ist dieses Europa, das den Afrikanern alle Probleme beschert.“ Wir sitzen in einem dämmrigen kleinen Zimmer in einem Hinterhof der Altstadt von Nouadhibou. Früher standen in diesen Innenhöfen die Wohnzelte der Mauren. Mit der Zunahme der Einwanderung nach Nouadhibou bauten die Besitzer ihre Innenhöfe zu, vermieten die Zimmer teuer an Migranten, und errichteten sich stattliche Anwesen außerhalb des Zentrums. Heute ist Nouadhibous Zentrum mehrheitlich von Migranten bewohnt; sie arbeiten in der Fischerei, für die Bergbaugesellschaft oder auf dem Bau. „Viele wollten nach Europa. Viele wollen es immer noch“, sagt Kebba und blickt mich provozierend an. Kebba ist seit 1992 in Nouadhibou, da war er 18 oder 19 - und auf der Durchreise.
Vier Mal hat er vergeblich versucht nach Europa zu gelangen. Anfangs versteckte er sich in den Frachträumen der Schiffe, seit dem Jahr 2000 versuchten die ersten mit Fischerbooten auf die Kanaren zu fahren. „Wir fürchten uns nicht vor dem Meer. Wir wissen, dass es gefährlich ist.“ Lange aber habe es keinen mehr gegeben, der die Kontrollen überwinden konnte. Auch wenn Europa für viele noch Anziehungskraft besitzt, so ist es doch in weite Ferne gerückt. Früher, ohne die Europäische Union, meint Kebba, sei es einfacher gewesen. „Aber das ist vorbei. Von Nouadhibou kommt niemand mehr weg.“
Erfolgreiche Menschenjagd
Kebba fasst damit das Ergebnis der spanisch-europäischen Grenzpolitik in Mauretanien präzise zusammen. 2006 war Nouadhibou ein Hotspot der Transitmigration auf die Kanarischen Inseln. Hunderte schifften sich Nacht für Nacht auf langen hölzernen Booten ein, mehr als 30.000 erreichten allein 2006 die Inseln, ungezählte andere ertranken oder verdursteten auf See. Spanien und die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX brachten viele Boote auf, aber erst als die spanische Gendarmerie in Nouadhibou zusammen mit mauretanischen Spähern den Hafen und die Küste überwachte, wurden die Boote endgültig gestoppt, die Gefangenen in einer umgebauten Schule interniert und nach Mali und Senegal abgeschoben. Der internationale Kampf gegen die sogenannte „irreguläre Migration“ wurde zumindest in Nouadhibou gewonnen.
An Land machte eine schwarz uniformierte Sondereinheit der Gendarmerie in den dichtbevölkerten Vierteln der Altstadt und des Hafens Jagd auf die Transitmigranten. Es wurde verhaftet, geschlagen und in die Wüste abgeschoben. Und es traf auch jene Zugezogene, die seit langem in Nouadhibou leben und arbeiten. Heute gibt es keine nennenswerte irreguläre Transitmigration von Mauretanien nach Europa mehr. Auch das spanische Rote Kreuz, das mit spanischen Entwicklungshilfegeldern dem Internierungslager der Migranten eine humanitäre Note gab, ist längst wieder abgezogen.
Gefangen zwischen Meer und Wüste
Pierre ist nicht von Haus aus arm. In seinem früheren Leben war er in Ruanda Bürgermeister einer Kleinstadt. Er zeigt mir Fotos, die ihn in Anzug und Schärpe bei einer Hochzeit und bei einer Parteiveranstaltung zeigen. Er war sogar schon einmal in Rheinland-Pfalz, in einem Ort, der eine Städtepartnerschaft mit seiner Stadt pflegt. Plötzlich jedoch geriet er ins Visier von Kagames Schergen, musste fliehen. Seine Familie brachte er im Nachbarland in Sicherheit, er floh über Kamerun und Nigeria schließlich nach Mauretanien, immer in Angst vor dem langen Arm des ruandischen Präsidenten. In Nouadhibou musste er feststellen, dass kein Weg mehr weiter führt. Geld hat er auch keins mehr.
Seit ein paar Monaten wohnt er nun in einem kleinen Zimmer der Mission von Pater Jérôme. Der hat ihm einen kleinen Lastwagen zur Verfügung gestellt, um Transporte anzubieten. Pierre ist ihm dankbar für diese Chance, doch bisher hat er nur Diesel verfahren, ohne etwas zu verdienen. Das Verhältnis zwischen Mauren und subsaharischen Migranten ist schwierig. Mauretanien hat seine Geschichte als Sklavenhaltergesellschaft noch nicht überwunden. Die Migranten, die schon seit der französischen Kolonialzeit als dringend benötigte Arbeitskräfte ins Land geholt wurden, werden weiterhin diskriminiert. Offene Xenophobie ist bei Sicherheitskräften und in der Bevölkerung alltäglich.
Pierre ist doppelt gefährdet, als Schwarzer wie als Christ. Ohne die Unterstützung der Mission wüsste er nicht, was er tun sollte. Er hat zwar einen Flüchtlingspass des UNHCR, aber der hilft ihm nicht viel. Nur einmal, bei der letzten großen Razzia im April 2012, war er nützlich. Pierre wurde zwar mit anderen zusammengetrieben und eingesperrt, doch am Abend wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt, sogar entschuldigt habe die Polizei sich. Doch was nützt es frei zu sein, wenn man nicht einmal das tägliche Essen bezahlen kann? Pierre will weiter nach Norden, nach Marokko. Doch erst mal sitzt er hier fest.
Zivilgesellschaftlicher Beistand
Die einzige mauretanische Organisation, die sich in dieser Situation für die Rechte der Migranten einsetzt, ist die Menschenrechtsorganisation AMDH. Regelmäßig intervenieren die Rechtsanwälte des langjährigen medico-Partners bei Konflikten mit Behörden, oder befreien willkürlich Verhaftete aus dem Gefängnis. Maître Niang ist von dem Sinn dieses kostenlosen Rechtsbeistandes tief überzeugt: „Die Vertreter des Rechtssystems wundern sich jedes Mal, wenn ein Rechtsanwalt auftaucht, der sich für die Rechte von Migranten interessiert - für Menschen also, die nicht von hier sind und in der Regel kein Geld haben.“ Mit Hilfe der Europäischen Union hat Mauretanien eine Migrationspolitik konfektioniert, die in erster Linie auf Kontrolle und Strafen basiert. Migranten sind besonders von der vorgeschriebenen Erfassung biometrischer Daten betroffen, von denen die Erteilung von Aufenthaltspapier und Arbeitserlaubnis abhängt. Das bestätigt auch Justina, Oberhaupt der nigerianischen Community.
„Früher klopften sie bei Passkontrollen an, heute treten sie sofort die Türen ein.“ Wir sitzen auf dem Hof der katholischen Mission, die der Ankerpunkt ist für die Christen, aber auch für andere Migranten in Nouadhibou. Früher habe man sich häufiger getroffen, heute haben viele nur noch Angst und meiden die Straßen. Die Mission von Père Jérôme bietet allen Migranten eine medizinische Behandlung an, die sonst für viele nicht bezahlbar wäre. Überlebensnotwendige Hilfen in einer Stadt, die zur Sackgasse all derer wurde, die gar nicht bleiben wollten.
Der Anthropologe Stephan Dünnwald arbeitet für medico an der im Laufe des Jahres 2013 erscheinenden Gemeinschaftsstudie „Analyse der EU-Migrationspolitik und ihre Auswirkung auf Drittstaaten“ (Hrsg.: Brot für die Welt, Evangelischer Entwicklungsdienst, Pro Asyl und medico).
Projektstichwort
Mauretanien hat seine Aufgabe in der Migrationsbekämpfung für die EU erfüllt und ist durch die Schließung der See- und Landesgrenzen ein Land der Blockierten geworden. Der lokale medico-Partner, die mauretanische Menschenrechtsorganisation AMDH, steht jenen bei, die völlig rechtlos sind. Ihre Juristen vertreten kostenlos gefangene Migranten und erläutern kritischen Journalisten über die Perfidie des europäisch-mauretanischen „Ausländerrechts“. Auch die christliche Mission von Père Jérôme ist ein bewährter Projektpartner. medico finanziert die Krankenstation und Apotheke der Mission Nouadhibou - das am meisten abgefragte Hilfsangebot der Gemeinde. Für beide Partner sind Rechte und Gesundheit universelle Werte. Das Stichwort dafür lautet: Migration.