medico: Die Kanarischen Inseln sind in den vergangenen Monaten erneut zu einem wichtigen Ziel für Migrant_innen aus Nord- und Westafrika geworden. Allein im November wurden mehr als 8.000 Ankünfte gezählt – so viele wie noch nie in einem Monat.Du kommst gerade von einer Reise aus der Hafenstadt Nouadhibou im Norden Mauretaniens zurück, von wo aus wieder mehr Flüchtlinge und Migrant_innen Richtung Kanaren aufbrechen, seit die Routen über das Mittelmeer immer unpassierbarer werden. Wie ist die Situation von Migrant_innen und Migrationswilligen dort?
Amadou Mbow: In Shami, einer Stadt 200 Kilometer südlich von Nouadhibou, haben sich Migrant_innen aus verschiedenen Ländern eingefunden, um Gold abzubauen, seitdem dort eine neue Goldmine in Küstennähe entstanden ist. Die Arbeitsbedingungen in den Goldminen sind in der Regel sehr schlecht. In Nouadhibou selbst sieht es ähnlich aus wie in den Jahren 2007 bis 2009. Es gibt sehr viel Druck auf die Migrant_innen, die größtenteils aus Mali, Senegal oder auch aus Gambia kommen. Sie haben große Angst wegen der enormen Polizeipräsenz in der Stadt und an der Küste. Mittlerweile rekrutiert die Polizei unter den Migrierenden Informant_innen, die sie über Aufenthaltsorte und geplante Abfahrten informieren sollen. Das erzeugt Misstrauen unter den Migrant_innen. Viele trauen sich nicht mehr, das Haus zu verlassen.
Die Abfahrtsorte entlang der Küste ändern sich ständig, da diejenigen, die die Überfahrt antreten, Gefahr laufen, abgefangen zu werden. Zuletzt konnten wir beobachten, dass die Küstenwache in der Nähe von Nouakchott ein Boot mit 45 Migrant_innen, darunter fünf Frauen, gestoppt hat. 37 der Migrant_innen waren Senegales_innen. Sie wurden von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Busse gesteckt und direkt in den Senegal zurück gebracht. Der senegalesische Staat leistete bei der Abschiebung seiner eigenen Staatsbürger_innen Amtshilfe. Die restlichen acht Migrant_innen kamen aus der süd-malischen Region Kayes und wurden dorthin abgeschoben. Wie viele Tote und Verschwundene es beim Versuch, den Atlantik zu überqueren, gibt, weiß niemand genau.
Woher kommt der Druck auf die Migrant_innen und gibt es dagegen Widerstand aus der Zivilgesellschaft?
Wir sehen einen großen Einfluss Spaniens in der Region. Die spanische Regierung ist in Verhandlungen mit den Regierungen Senegals und Marokkos über Rückführungsabkommen und Maßnahmen der Migrationsbekämpfung. Vermutlich werden sie bald auch Verhandlungen mit der Regierung Mauretaniens aufnehmen. Es ist klar, dass es dagegen Druck aus der Zivilgesellschaft zur Verteidigung der Rechte der Migrant_innen braucht.
Dabei ist es wichtig, dass wir uns mit der senegalesischen Zivilgesellschaft zusammentun, denn viele Migrant_innen kommen aus dem Senegal. Das Verhältnis zur senegalesischen Zivilgesellschaft ist aber nicht ganz unkompliziert, da sich im Senegal viele zivilgesellschaftliche Akteur_innen darauf konzentrieren, die Menschen von der Flucht nach Europa abzuhalten. Nicht nur Nichtregierungsorganisationen tun dies, sondern auch die Mouriden (islamische Bruderschaften im Senegal). Es wird unheimlich viel Geld ausgegeben für die Überzeugungsarbeit zum Dableiben. Aber Geld zur Stärkung der Rechte von Migrant_innen wird nicht zur Verfügung gestellt.
Eine neue Erscheinung im Senegal ist außerdem die Bekämpfung von Solidarität mit Migrant_innen, indem man jegliche Unterstützung mit Schlepperei gleichsetzt. Zuletzt wurden 24 Personen, darunter drei Frauen, wegen Schlepperei vor Gericht gestellt. Man wirft ihnen vor, als Besitzer_innen von Pirogen die Reisen der Migrant_innen zu organisieren oder den Kontakt zwischen den Reisenden und Pirogenbesitzer_innen herzustellen. Auch der Vater eines 14jährigen Junge wurde wegen Schlepperei angeklagt.
Warum brechen Menschen aus Westafrika überhaupt nach Europa auf? Und warum nehmen sie neuerdings wieder die gefährliche Route über den Atlantik?
Vor allem junge Menschen, viele davon gut ausgebildet, sehen für sich keine Perspektive in Westafrika. Sie haben die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung in ihren Ländern verloren. Dass jetzt wieder mehr Menschen die Route Richtung Kanaren nehmen, liegt daran, dass die anderen Routen über Marokko und Ceuta/Melilla bzw. über Niger und Libyen für Migrant_innen mehr oder weniger geschlossen wurden. Und die Aufmerksamkeit der Europäischen Union zur Bewachung des Atlantiks ist in den letzten Jahren zurückgegangen, weil der Fokus auf dem Mittelmeer lag.
In Mauretanien sind es vor allem senegalesische Fischer, die sich auf den Weg machen, viele mit ihren eigenen Booten. Sie kennen das Meer sehr gut. Die industrielle Fischerei, insbesondere die Flotten aus der Türkei, China und Europa, zerstören die Lebensgrundlagen der Bevölkerung dieser sehr fischreichen Küste. Deshalb müssen sich die lokalen Fischer andere Einkommensmöglichkeiten suchen.
Insofern ist die Lage ähnlich zur Situation in den Jahren 2007-2009, als sich auch viele Fischer auf den Weg Richtung Kanaren gemacht haben. Aber die Dimensionen sind völlig andere. Allein aus der nord-senegalesischen Stadt Saint-Louis, die offiziell knapp 300.000 Einwohner_innen hat, sind in den letzten Monaten 8.000 Fischer weggegangen.
Spielt die Corona-Pandemie eine Rolle bei der Migrationsentscheidung?
Viele Selbstständige und Inhaber_innen kleinerer Läden sind durch die Hygienemaßnahmen total verarmt und haben ihre Einkommensmöglichkeiten verloren. Da bleibt oft nur noch die Migration. Aber die Corona-Pandemie hat auch noch einen anderen Effekt auf die Migrationsentscheidungen: Angesichts der vielen Toten in Europa glauben die Menschen in Westafrika, sie hätten nun bessere Chancen, in Europa ein Auskommen zu finden.
Das Interview führten Sabine Eckart und Ramona Lenz. Transkription: Julian Toewe
Die AMDH ist eine der ältesten und eine der wenigen unabhängigen Menschenrechtsorganisationen Mauretaniens, die von medico seit langem unterstützt wird. Seit vielen Jahren engagiert sich die AMDH auch für die Rechte von Migrant_innen, Flüchtlingen und Abgeschobenen bzw. Abzuschiebenden. Außerdem koordiniert sie das von ihr initiierte Westafrikanische Netzwerk zur Verteidigung der Rechte von Migrant_innen, Geflüchteten, Asylbewerber_innen und der Freizügigkeit (ROA-PRODMAC). Ziel des Netzwerks ist die Dokumentation und juristische Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen und Migrant_innen in der Region. Außerdem setzt es sich bei Politiker_innen für die Einhaltung der Menschenrechte und des Rechts auf Freizügigkeit in Westafrika ein.