Rundschreiben 02/2023

Editorial

27.06.2023   Lesezeit: 3 min

Der Leviathan soll Sicherheit bieten. Für Minderheiten bedeutet das oftmals Repression.

Von Mario Neumann

Liebe Leserinnen und Leser,

„Panic and neglect“ heißt die neue Folge des medico-Podcasts über die Weltgesundheitspolitik vor und nach Corona. Wichtige Lehren werden nicht gezogen, auf Panik folgt Ausblenden. „Neglect“ bedeutet allerdings nicht nur das. Es gibt auch ein gleichnamiges neurologisches Krankheitsbild: Ein Neglectpatient isst nur eine Hälfte seines Tellers und rasiert sich nur eine Gesichtshälfte, er „übersieht eine Seite der ihn umgebenden Welt“, heißt es bei Wikipedia. Im allwissenden Internet findet sich allerdings nichts zu einer möglichen sozialpsychologischen Ausprägung dieses Krankheitsbildes. Das überrascht. Denn eigentlich kann es keinen Zweifel geben, dass sich unsere Öffentlichkeit derzeit in einem kollektiven Neglect befindet.

Die Menschenrechte beispielsweise werden zwar unablässig bemüht. Sie fristen allerdings ein ziemlich beliebiges Dasein und bleiben von den Tatsachen der situativ ausgeblendeten Welthälfte unberührt. Während vor kurzem noch lautstark nach Waffen zur Verteidigung der westlichen Werte gerufen wurde, fiel die Reaktion auf die Zustimmung der Bundesregierung zum neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) deutlich leiser aus. Was gestern in der Verteidigung der Ukraine ein neues europäisches Selbstbewusstsein begründete, spielt schon heute an Europas Grenzen kaum noch eine Rolle.

Ähnliche Doppelstandards gelten auch beim Umgang mit den Palästinenser:innen. Die „Wiedergutwerdung der Deutschen“, die sich nicht über die Bekämpfung von Neonazis vollzieht, sondern beispielsweise über Verbote von palästinensischen Veranstaltungen, hat erneut eine eigentümliche Wendung genommen. In vielen Teilen der Welt wird das nicht erst seit der documenta mit einer Mischung aus Belustigung und Entsetzen wahrgenommen. Über die „Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson“ und deren Konsequenzen für die Menschenrechte der Palästinenser:innen schreiben Riad Othman im Leitartikel sowie der Jurist Ralf Michaels. Katja Maurer reflektiert in ihrer Reportage nicht nur Eindrücke ihrer Reise nach Palästina und Israel. Sie geht auch der Frage nach, wie es heute um die von medico vor 21 Jahren zu dem asymmetrischen Konflikt formulierten „Zeichen paradoxer Hoffnung“ steht. Ihre Reportage ist übrigens nach zwei Jahrzehnten als Chefredakteurin des rundschreibens ihr erster Beitrag aus dem Ruhestand. Wie Katja in dieser Zeit medico prägte, lesen Sie ab Seite 50.

Nicht nur in Israel herrscht jene gesellschaftliche Stimmung, die die Sehnsucht nach einem neuen „Leviathan“ erstarken lässt. Für Thomas Hobbes war dies ein Staat, der sich auf der Angst des Menschen vor dem anderen und einer daraus resultierenden Furcht vor dem Tod gründete. Hobbes hielt das für einen „Naturzustand“, in dem der Leviathan als freundliches Ungetüm Sicherheit stiftet. Tatsächlich ist diese Angst aber kein Naturzustand, sondern sie wird durch gesellschaftliche Umstände gemacht. Doch die politische Grammatik ist dieselbe: In der Türkei, in El Salvador und anderswo versprechen autoritäre Führer den vom globalen Ausnahmezustand erschöpften Gesellschaften vor allem eines: Sicherheit. Nicht selten gibt es dafür Mehrheiten. Dass das für Minderheiten oftmals Repression bedeutet – darüber schreiben die Kolleg:innen aus der rundschreiben-Redaktion Anita Starosta, Ramona Lenz und Moritz Krawinkel.

Vielleicht können bei der Diagnose unseres kollektiven Neglects hierzulande diese Berichte helfen. Vielleicht sind es weniger Moral und Werte und vielmehr die vom globalen Krisengeschehen entfachte Sehnsucht nach Sicherheit, die den politischen Kompass hierzulande ausrichten. Jedenfalls befindet sich die politische Moral in Deutschland spätestens seit Corona in einem verdächtigen Einklang mit den eigenen Sicherheitsinteressen – und mit noch etwas anderem, das auch bereits Thomas Hobbes kannte. Für ihn gab es nämlich nicht eine, sondern zwei Grundcharakteristika des Menschen. Die zweite wird gerne überlesen. Neben der Angst vor dem Tod und dem daraus resultierenden Drang nach Sicherheit zeichne sich der Mensch durch seine Bequemlichkeit aus. Panic and relax. Der globale Autoritarismus hat viele Gesichter, auch gemütliche.

In diesem Sinne: Machen Sie es sich wie gewohnt nicht zu bequem und betrachten Sie weiterhin den ganzen Teller. Oder auch etwas mehr.

Ihr Mario Neumann

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und vertritt medico im politischen Berlin.

Twitter: @neumann_aktuell


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