Migration

Der Geist von 1951

26.06.2023   Lesezeit: 4 min

Mit den europäischen Asyl-Plänen und dem angebahnten Tunesien-Deal schottet sich die EU weiter ab. Neu ist das nicht – im Gegenteil.

Von Sofian Philip Naceur

Wird die weitreichende Neuregelung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in der derzeit auf dem Tisch liegenden Fassung ratifiziert, werden das Grundrecht auf Asyl und das 1967er-Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention von 1951 EU-weit und in bisher beispielloser Manier ausgehebelt. Linke und progressive Stimmen zeigten sich zuletzt entsetzt und teils überrascht über die widerstandslose Unterstützung der „Reform“ durch die Ampelkoalition und andere EU-Regierungen sowie über die unmittelbar anschließende Anbahnung eines neuen Deals zur Flüchtlingsabwehr mit Tunesien. Allerdings artikulierte bereits der Koalitionsvertrag von 2021 deutlich die Ziele einer substantiellen Aushöhlung des Asylrechts und des Ausbaus der EU-Grenzauslagerung. Asylprozeduren in Drittstaaten durchzuführen, soll „geprüft“ werden, heißt es beispielsweise in dem Papier.

Lange hat sich die Empörung gegen die Abschottungspolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten auf Figuren oder Parteien aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum konzentriert. Das geplante GEAS ist jedoch die konsequente Fortsetzung einer seit Jahrzehnten auch von sozialdemokratischen und liberalen Parteien verfolgten Politik. Konzepte wie „Migrationsmanagement“ – eine euphemistische Bezeichnung für die Illegalisierung von Flüchtlingen bei gleichzeitiger Filterung von Migrationsbewegungen zum Nutzen westlicher Volkswirtschaften – wurden im sozialdemokratisch-zentristischen politischen Spektrum entwickelt. Nicht zufällig wurde das International Center for Migration Policy Development (ICMPD) zwischen 1993 und 2004 von einem schwedischen Sozialdemokraten geleitet, während die Organisation maßgeblich daran beteiligt war, das Konzept des Migrationsmanagements im politischen Mainstream Europas zu etablieren. Derweil war es die damals oppositionelle SPD, die ebenso wie die FDP 1993 im Bundestag ihre Zustimmung zum „Asylkompromiss“ gab, einer Grundgesetzänderung, die bis heute als schwerwiegendste Einschränkung des Grundrechts auf Asyl in Deutschland gilt.

Die Grenzen der Genfer Konvention

Während das GEAS die individuelle Asylprüfung vollständig abzuschaffen droht und gefährliche Notstandsregeln etablieren könnte, beobachten wir nun auch formell die Rückkehr zum Ursprung der heute gültigen Architektur internationaler Flüchtlingsgesetzgebung. Der wenig universelle Umgang mit einerseits europäischen und andererseits nicht-europäischen Flüchtenden, der mit Russlands Invasion in der Ukraine deutlich geworden ist, sorgte zwar hier und da für Empörung. Er steht aber im Einklang mit der Genfer Konvention von 1951. Diese war ausschließlich auf europäische Kriegsflüchtlinge zugeschnitten und wurde erst mit dem Zusatzprotokoll von 1967 zu einer universellen, weltweit anwendbaren Rechtsgrundlage aufgewertet. Die EU-Migrationspolitik der letzten Jahrzehnte, vor allem aber seit 2022, führt unmissverständlich vor Augen, dass der Geist der Genfer Konvention von 1951 – und nicht jener des Zusatzprotokolls von 1967 – in den Hauptstädten der EU weiterhin tonangebend ist.

Auch deshalb funktioniert das Skandalisieren von Grenzauslagerungsdeals wie jüngst mit Tunesien nicht. Es hat schon bei der Aufrüstung libyscher und ägyptischer Polizeibehörden oder Milizen im Sudan nicht funktioniert. Der schiere Umfang der jüngst initiierten Grenzauslagerungsdeals mit Tunesiens immer autoritärer regierendem Präsidenten Saïed stellen allerdings sämtliche polizeilichen Ausrüstungs- und Ausbildungsprogramme von EU und EU-Mitgliedsstaaten weit in den Schatten. Saïed hat erst vor kurzem mit seiner rassistischen Hetze eine wochenlange Gewaltwelle gegen Flüchtlinge und Migrant:innen ausgelöst. Dafür wird er nun von der EU mit einer Stabilisierung seiner Präsidentschaft belohnt. In Zeiten des anhaltenden Exodus Geflüchteter, die sich auf Booten in Richtung Italien in Sicherheit zu bringen versuchen, bedankt die EU sich für den harten Kurs gegen Flüchtlinge und Migrant:innen mit Krediten, Budgethilfen und Polizei- und Überwachungsausrüstung. Davon profitieren auch Tunesiens Zahlungsfähigkeit und die Wirtschaft.

Das Muster ist bekannt: Trotz detailliert dokumentierter Menschenrechtsverbrechen der in die Migrationsabwehr eingebundenen libyschen Behörden haben EU und EU-Mitgliedstaaten schon vor Jahren damit begonnen, die sogenannte „libysche Küstenwache“ aufzurüsten. Gleiches gilt für den für seine systematischen Menschenrechtsverstöße berüchtigten ägyptischen Polizei- und Geheimdienstapparat oder die derzeit einen blutigen Krieg im Sudan führenden Rapid Support Forces (RSF), eine Miliz, die für schwerste Menschenrechtsverbrechen in Darfur verantwortlich ist. Wenn die Folterpraktiken des al-Sisi-Regimes in Kairo, die Gewalt gegen inhaftierte Geflüchtete durch libysche Milizen oder die Verbrechen der RSF schon nicht mehr für Aufmerksamkeit sorgen, und rund 600 Tote in griechischen Gewässern nach wenigen Tagen aus den Medien verschwunden sind, ist die Zeit der Skandalisierung vorbei. Dann brauchen wir neue Gegenstrategien – gegen Deals mit Autokraten, das GEAS und ein exklusives Verständnis von Flüchtlingsschutz.

Mehr zur Asyl- und Migrationspolitik der EU im Dossier unter www.medico.de/europas-ende. medico international und seine Partnerorganisationen verteidigen weiterhin „Das Recht zu gehen und das Recht zu bleiben“ – in solidarischen Netzwerke auf den Fluchtrouten sowie mit direkter Hilfe in Notsituationen und Öffentlichkeitsarbeit von unten.

Dieser Beitrag ist auch Teil des medico-Rundschreibens 2/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Sofian Philip Naceur

Sofian Philip Naceur ist Journalist und ehemaliger Ägypten-Korrespondent. Seit 2021 arbeitet er für das Nordafrikabüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis.


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