Als ich die Anfrage bekam, zum Thema »Türkei – my lost country« einen Artikel zu schreiben, habe ich spontan »Ja« gesagt, allerdings unter dem Motto »Die Würde des Menschen ist das oberste Ziel«. Ich sagte, es ist ja nicht »mein« Land, das da eingestürzt ist, es ist das Land derer, die dort von den Trümmern lebendig begraben wurden. Aber mir fiel auf, daß ich bei anderen Katastrophen nicht annähernd so fassungslos und vor allem so gelähmt reagiert hatte wie in den 5 Tagen der letzten Woche. Seit den ersten Nachrichten des 17. Augusts saß ich vor den Fernsehbildern, das Telefon neben mir und wartete auf die Stimme meiner Mutter. Obwohl ich wußte, daß sie nicht im Epizentrum sein konnte (sie war ja in Edremit, 300 Kilometer entfernt), wurde ich fast irre vor Angst, eine schlimme Nachricht hören zu müssen. Sie ist lediglich in der Erdbebenregion geboren, wie auch mein Vater und all ihre Brüder und Schwestern, so wie etliche Tanten und Onkel, Nichten und Neffen. Zwischen Istanbul und Ankara liegt das sogenannte Tscherkessengebiet, wo unsere ganze Sippe versammelt ist. Das Land war zwar nicht gut zu mir, aber die Menschen waren es. Und ich liebe dieses Fleckchen Erde wegen der Menschen, die ich liebe. Und ich hatte Angst, weil ich die Namen und Stimmen, die Sprache und die Kultur der Menschen dort kenne. Dann endlich, nach zwei Tagen, kam in der Nacht der erlösende Anruf: Meiner Mutter geht es gut! Es hat zwar gewackelt und die Wände sind eingerissen, aber es steht alles und sie schläft nun mit den Nachbarn am Strand. Ich zappte von ntv zu CNN und sky-news. In jedem Programm dieselben Bilder: Helfer aus aller Welt suchten und buddelten zwischen Schutthaufen ohne Licht und Wasser, unter Einsatz ihres Lebens. Hunde wedelten vor Steinhaufen und überall um sie herum sprachlose Menschen, die sich seit den todbringenden 45 Sekunden nur noch an Gebeten festhalten konnten. Sie hatten nicht mehr, nicht einmal ein Erinnerungsfoto an ihre toten Kinder. Alles lag im Schutt. Billigstes Baumaterial, gestreckt mit porösen Abfallstoffen und Trägerteile, weich wie Spaghetti seien der Grund für diese Katastrophe. Es wurde berichtet, daß es in der Türkei keine Seltenheit wäre, Häuser ohne Genehmigungen zu bauen. Eine starke Bau-Mafia hätte die Politik sicher in der Hand. Die Verantwortlichen: Korrupte Politiker und profitgierige Bauunternehmer. Täglich stieg die Zahl der Toten. Es wurde Freitag, bis wir alle Verwandten erreicht hatten. Sie leben! Allmählich verfliegt die Sprachlosigkeit und Wut kommt auf. Wut über die Arroganz eines Gesundheitsministers aus Ankara, der statt der Welt zu danken, behauptet, die Türkei bräuchte keine Hilfe von außen. Welch ein Zynismus angesichts der Tausenden Toten und Trauernden! Das Militär, das sonst noch vor der Polizei vor Ort geschickt wird, ist nirgends zu sehen. Private Organisationen und Betroffene versuchen, Wände zu heben, buddeln mit den Händen nach Lebenszeichen. Herr Ecevit gibt nun Fehler zu. Und da beschwert sich ein Herr Keskin* aus Hamburg, daß 5 Mio. DM Soforthilfe von der BRD zu wenig sind und ein Herr Sen* aus Essen stimmt ihm eifrig zu. Das ist die betonierte Arroganz der kemalistischen Doktrin, die überall im Land, in Schulen, auf Zeitungen, unter gußeisernen Sockeln auf Dorfplätzen geschrieben steht, wie schön es ist, ein Türke zu sein – nicht, wie schön es ist, ein Mensch zu sein. Fast können diese Herren nichts dafür, daß sie so denken, wie sie denken. In ihren nationalen Kosten-Nutzen-Rechnungen. Mich sorgt nur, daß dies die geistige Elite tut. Sie denken immer noch in feudalen Kategorien. Die deutsche Verfassung beginnt mit dem wunderschönen Satz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Nicht, die Würde des Deutschen ist unantastbar. Aber davon ist die türkische Politik noch Lichtjahre entfernt.
Niemand verläßt sein Land wegen der Armut oder weil er hungert. Die Menschen flüchten aus ihren Dörfern und Häusern, verlassen Verwandte und ihre Sprache, ihrer Würde wegen. Es ist Gleichgültigkeit des Staates gegenüber seinem Bürger, die Respektlosigkeit, die die Menschen zur Flucht zwingt. Ich hoffe nicht, daß die Herren der türkischen Politik heute ihre Fehler zugeben und morgen weitermachen wie bisher; und ich möchte alle Verantwortlichen der türkischen Politik, Wirtschaft und der Kultur im Namen der Opfer, der Überlebenden und aller 60 Millionen Menschen verschiedener Ethnien und Religionen, die gern in diesem Land bleiben und leben wollen, bitten, endlich den Schritt aus dem autoritären Kemalismus zu wagen und mit der Demokratie in der Türkei zu beginnen: Die Würde des Menschen ist das oberste Ziel.
Medico bittet ganz dringend um Spenden für die Opfer in der Türkei. Stichwort: »Türkei«.
Renan Demirkan, Schriftstellerin und Schauspielerin, ist in der Türkei geboren und lebt seit 1961 in Deutschland.
- Herr Hakki Keskin, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Herr Faruk Sen, Leiter des Institutes für Türkeistudien in Essen